Ein Vorhang für den Eisernen

von André Mumot

Berlin, 8. März 2015. Es ist nicht wie immer. Die Stimmung ist anders in der Berliner Volksbühne an diesem Abend, und man begreift nicht sofort, woran das liegt. Dann aber werden ungewöhnlich viele Handys gezückt, auch Tablets und Fotoapparate. Es blitzt also mal hier und mal da, und zumindest am Anfang wird alle drei Minuten geklatscht. Das liegt daran, dass Kinder und Jugendliche auf der Bühne stehen (singend und sprechend) und Angehörige im Publikum sitzen. Es sind der Mädchen- und der Hauptchor der Sing-Akademie zu Berlin und die Knaben und Männer des Staats- und Domchores, die den Hauptteil dieser Veranstaltung bestreiten und die schon mal knackig, zackig, stramm und urdeutsch loslegen mit "Lützows wild verwegener Jagd".

Aber es gibt auch diejenigen, die gekommen sind, weil der Abend ein Versprechen in den Raum stellt, das darstellerisch Grandioses ahnen lässt: Sophie Rois gibt an diesem Abend den eisernen Kanzler – sie ist "die Bismarck", gesunkenes militärisches Schlachtschiff und überlebensgroße Pickelhaubenpersönlichkeit. Die schnarrende Volksbühnendiva wird zur mythischen Figur der deutschen Geschichte, die Österreicherin zum Urpreußen, durch dessen kriegerische und diplomatische Ränke das geeinte Deutsche Reich Gestalt annahm – und alles, was danach kam.

"Die Sache läuft"

Otto von Bismarcks 200. Geburtstag steht an, am 1. April ist es soweit (kein Witz) – und deshalb wird ihm nun auch die Ehre zuteil, von Sophie Rois verkörpert zu werden, zumindest ein bisschen. Anfangs ist jedoch nur ihre Stimme zu hören. Reibeisig fällt sie aus großer Höhe auf das Publikum herab, wiederholt stetig "Die Sache läuft" und setzt nur einmal kalauernd "Die Lache säuft" dazwischen. Dann erst steigt sie selbst, kunstnebelumwabert, aus dem Bühnenboden auf, in ritterlichem Harnisch und mit Lorbeerkranz gekrönt: "Und die Bismarck schuf die Deutschen nach ihrem Bilde" heißt es hierzu. Leuchtet ein. Sofort.

Im weiteren Verlauf kommt und geht sie dann, wechselt die Kostüme, argumentiert kurz mit Susanne Bredehöft und Daniel Zillmann (als Generalfeldmarschalle Moltke und Roon) und hält vorlesend einige Reichskanzler-Reden. Berühmte Worte fallen ("Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut"), und irgendwann verteilt sie – natürlich – Bismarckheringe an die Chormitglieder. Einmal fällt sie den Sängerinnen und Sängern sogar staunend ins gesungene Wort. Wer dabei jedoch ein wild entfesseltes Wechselspiel erwartet, wie etwa in den entsprechenden Pollesch-Abenden, irrt sich gewaltig.

"Denn alles Fleisch, es ist wie Gras"

Im Wesentlichen ist dies eben ein Konzert, ein wunderliches wohl, aber doch auch ein sehr schönes. Zusammenassoziiert hat es sich Christian Filips, seines Zeichens Programmleiter der Singakademie, der bereits mehrere solcher kurioser Performances erdacht hat (eine etwa über Sternes "Tristram Shandy", die 2013 im Haus der Berliner Festspiele aufgeführt wurde). Diesmal präsentieren die hochklassigen Gesangsensembles eine lockere Abfolge von Stücken, die zu Reichsgründungs-Zeiten populär gewesen sind. Volkslieder ("Schäm dich, Herr Reitersmann") und Religiöses ("So nimm denn meine Hände") wechseln sich ab mit geradezu grotesken Lobgesängen auf den Kanzler und dem machtvoll donnernden "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" aus dem "Deutschen Requiem" von Brahms, was von Schlagzeug, Streichquintett und Akkordeon auf hinreißende Weise begleitet wird.

Auch die technischen Möglichkeiten der Volksbühne werden dabei freudig ausgenutzt – der Boden hebt und senkt sich majestätisch, und vor allem der eiserne Vorhang darf unentwegt seine Beweglichkeit demonstrieren, was dann auch Anlass gibt zu den entsprechenden Anspielungen: "Der Glaube an den Eisernen ersetzt die politische Teilhabe." Überhaupt ist das Gegenüberstellen von Chor und der solistisch regierenden Rois ein stimmiges Arrangement, geht es Bismarck, dem Anti-Demokraten, doch im Wesentlichen darum, die uneingeschränkte Herrschaftsmacht des Staates zu legitimieren, die Kontrolle und Bevormundung der Bürger ebenso wie die der von ihnen gewählten Volksvertreter. Theater wird trotzdem nicht draus.

"Ich bin jung, ich bin schön"

Aber immerhin gibt es sie zwischendurch: die wirklich verrückten Momente großer Leichtigkeit, nicht zuletzt, wenn einige der Jugendlichen kurz ins Spiel mit einbezogen werden. Vor allem, als der schwarze Teenager Raphael Riebesell mit gewaltigem angeklebten Zwirbelbart zu Wilhelm II. wird und seinem Kanzler vorhält: "Mit Ihrer Kolonialpolitik bin ich durchaus nicht einverstanden!" (Es jährt sich schließlich auch die Berliner Konferenz zum 130. Mal, bei der auf Einladung Bismarcks die Aufteilung Afrikas geregelt wurde, woran die Volksbühne derzeit mit einer ganzen Aufführungsreihe erinnert.) Da steht nun also dieser junge Kaiser vor der echauffierten, mit Jagdflinte bewaffneten Rois und vor den Handykameras des Publikums und ruft: "Ich bin jung, ich bin schön, ich bin schwarz und kann laut sprechen!" Und das ist dann mal wirklich eine Ansage.

 

Die Bismarck!
Ein Oratorium mit Sophie Rois als Eisernem Kanzler und der Sing-Akademie zu Berlin
Text, Bühne und Regie: Christian Filips, Musikalische Leitung: Kai-Uwe Jirka, Mitarbeit Bühne: Jana Wassong, Dramaturgie: Sabine Zielke.
Mit: Sophie Rois, Susanne Bredehöft, Daniel Zillmann, Lorenz Willkomm, Raphael Riebesell, Anton Ceclic, Jonas Rogoll, Julius Hawlitzki, Salvador Macedo, Sir Henri Bertelmann Junior, Knaben und Männer des Staats- und Domchores Berlin, Voces in Spe, Haupt- und Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin. Musiker: Michael Weilacher (Schlagzeug), Aaron Daan (Flöte), Streichquintett, Jagd- und Parforcehornbläser aus Taucha.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Im Tagesspiegel (10.3.2015) schreibt Gunda Bartels, das Schiff auf der Bühne setze "unklare Bezüge zur Gegenwart", sei aber "auf der tanzenden Drehbühne ein klasse Bild". Klamottig werde es, "als mit Tschingderassabum eine Band einmarschiert", bedeutungsschwanger als eine "Lichtdom"-Installation den deutschen Ungeist beschwöre. Nach den "stattlichen Wimmelbildern" stehe Ratlosigkeit im Raum. "Der Verdacht: 'Die Bismarck' ist kolossaler Quatsch."

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