Dein "Real Estate" ist meine Realität

von Sascha Westphal

Oberhausen, 14. März 2015. Die Industrie hat Oberhausen weitestgehend verlassen, geblieben sind die Arbeitslosen und die Schulden einer Stadt, die sich schon vor langer Zeit verrechnet hat. Nun stehen einstmals eindrucksvolle Fabriken wie die Gießerei des Babcock-Borsig-Konzerns leer und verfallen langsam. Sie abzureißen, wäre einfach zu teuer. So sieht sie aus, die traurige Wirklichkeit des Strukturwandels im Ruhrgebiet.

Der Traum von der unentfremdeten Produktion

Die Industrie ist gegangen, und wer sollte sie auch aufhalten? Natürlich die, die nicht mitgehen durften, die zurückbleiben mussten: die Arbeiter*innen und die Arbeitslosen. Also träumen die freien Theatermacher*innen der "geheimagentur" und ihre Mitstreiter*innen aus dem Oberhausener Ensemble kurz vor der Pause dieses ersten "Lecture Musicals" einen kollektiven Traum.

Zu entrückten Elektro-Funk-Klängen der "Sweat Shop Boys" Knarf Rellöm und Tillamanda fliegen und rollen blaue Plastikfässer hin und her. Währenddessen steigen aus einen Betonmischer Seifenblasen herauf und schweben durch die Luft. Ein Industrie-Idyll, von dem die Oberhausener Schauspieler*innen und die Performer*innen der geheimagentur Besitz ergreifen. So werden die Fässer schließlich zu einer Barrikade, hinter der weiße Fahnen wehen. Die Arbeiter*innen holen sich zurück, was ihnen bis dahin gar nicht gehört hat.

sweatshop2 560 axelscherer h Mit Leidenschaft und Liegenschaft: Konstantin Buchholz, Sina Martens, Anna Polke
© Axel Scherer

Ein Traum, der in Oberhausen niemals Wirklichkeit geworden ist. Aber im griechischen Thessaloniki. Über die dortige Vio.Me.-Fabrik erzählen die Geheimagent*innen im zweiten Akt: Als das Werk 2009 geschlossen wurde, haben die Arbeiter*innen die Gebäude besetzt, die Produktionsmittel in Besitz genommen und gemeinsam eine Genossenschaft ins Leben gerufen, die statt Baumaterialien und Klebstoffen ökologische Reinigungsmittel produziert.

Beweg Deinen Hintern

Eine Traumsequenz und ein kurzer Vortrag, so kommen in "Sweat Shop" Spiel und Reflexion zusammen, ganz selbstverständlich und keineswegs belehrend. Das Performance-Kollektiv geheimagentur bezeichnet seine fünfte Kooperation mit dem Theater Oberhausen im Untertitel zwar als "Lecture Musical". Aber die Betonung liegt dabei eindeutig auf Musical. Die zwischen Funk und Punk oszillierenden Songs, die Knarf Rellöm und Till Steinebach für das Stück geschrieben haben, spielen auch mit neoliberalen Schlachtrufen à la "Es ist Zeit / für einen Neubeginn, / für eine neue Mitte / für eine New Economy". In diesem wunderbar unbekümmerten Agitprop-Spaß reimt sich "Liegenschaft" selbstredend auf "Leidenschaft" und "Real Estate" auf "Realität". Entscheidend ist sowieso der Beat. Und so gilt der Titel eines alten Albums von Knarf Rellöm auch für diesen Abend: "Move your ass & your mind will follow" (Beweg deinen Hintern & der Geist folgt nach).

Bisher standen das Partizipative und Interventionen in den öffentlichen Stadtraum im Zentrum der Projekte, die von der geheimagentur für das Theater Oberhausen – im Rahmen ihrer "Doppelpass"-Förderung durch die Bundeskulturstiftung – entwickelt wurden. "Get Away" forderte die gebeutelten Einwohner der Stadt auf, doch auszuwandern und ihr Glück andernorts zu suchen. Die "Schwarzbank" hat der von Krisen geschüttelten Stadt zu einer eigenen Währung verholfen.

Im Vergleich zu diesen Arbeiten wirkt "Sweat Shop" fast schon konservativ. Aber letztlich ist ihr "Socical", also dieses Musical, mit dem die Performer*innen – wie es einmal im Text heißt – "eine Sozialgeschichte schreiben", nur eine konsequente Weiterentwicklung ihrer früheren Stadt-Interventionen.

Spieler und Zuschauer im Kollektiv

Die geheimagentur ist sozusagen in der Kunst-Fabrik Theater angekommen und besetzt sie gemeinsam mit Sina Martens, Anna Polke und Konstantin Buchholz sowie den Musikern Knarf Rellöm und Tillamanda. Die Stadt hat den Weg auf die Bühne gefunden. Und hier wie dort geht es vor allem um Zusammenarbeit. Der Traum vom großen Kollektiv, in dem jeder gleichberechtigt ist und niemand ausgebeutet wird, bestimmt diese Inszenierung. Immer wieder wenden sich die Performer*innen direkt ans Publikum. Mal können alle mitsingen oder mitklatschen, mal werden einzelne etwas gefragt. Und alles wird live aufgenommen.

Die einzigartige, jedes Mal ein wenig anders verlaufende Theater-Arbeit produziert so etwas, das bleibt. Der Live-Mitschnitt jeder Aufführung wird noch im Lauf der Nacht in einem Tonstudio bearbeitet. Am nächsten Morgen können die Zuschauer ihn dann mittels eines auf den Programmheften verzeichneten Codes aus dem Netz herunterladen. Augenblick und Ewigkeit werden ausgesöhnt. Nichts ist mehr unmöglich, wenn die Grenzen zwischen denen auf und denen vor der Bühne erst einmal gefallen sind. In "Disco Exodos", dem letzten Song des Abends, setzt sich die Stadt dann selbst in Bewegung, und alle tanzen mit. Lasst die Hüften kreisen, der Geist wird schon folgen.

Sweat Shop. Das Lecture Musical
von geheimagentur
Uraufführung
Künstlerische Leitung: geheimagentur, Kostüme: Anna Ignatieva, Musik: Knarf Rellöm, Till Steinebach, Dramaturgie: Rüdiger Bering.
Mit: Sina Martens, Anna Polke, Konstantin Buchholz, den Sweat Shop Boys (Knarf Rellöm und Tillamanda) und der geheimagentur.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.theater-oberhausen.de

 

Kritikenrundschau

In diesem sozialen Musical gehe es nicht besinnungslos zu, sondern gesellschaftskritisch, berichtet Dorothea Marcus im Deutschlandfunk (15.3.2015) und hat "großartige Songs und Texte" gehört. Titel wie "Wenn wir so teuer sind, warum sind wir dann so arm" fassten "bestechend prägnant die Folgen von Raubtierkapitalismus und Konsumfetischismus zusammen". Trotzdem wird es der Rezensentin "manchmal etwas zu unterkomplex". Zur Schluss-Utopie der Umwidmung der Vio.Me-Fabrik durch ihre ehemaligen Arbeiter sagt Marcus: "Solche Ideen konkreter auf Oberhausen zu beziehen – das hätte den Abend vollends rund gemacht."

Die "Mischung aus Performance, Spektakel, Spiel, Musik, Tanz und Aktionen" entpuppe sich bei der Premiere als äußerst gelungen, schreibt Gudrun Mattern in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (16.3.2015). Es lasse sich auch bei diesem "bereits fünften Gastspiel der Geheimen in Oberhausen" nie richtig klären, wo die Grenze sei zwischen Erfindung und Realität, was ernst gemeint sei und was Ironie. "Sicher ist, dass sie das Musical gekonnt auf die Schippe nehmen, ohne seine Fans zu beleidigen." Sicher sei auch, "dass die Choreographie klasse ist, dass viel Überraschendes passiert, dass die Gags sitzen und dass die Akteure, Frau und Herr Geheimagentur und die Schauspieler Anna Polke, Sina Martens und Konstantin Buchholz, immer mehr in Fahrt kommen und in verschiedenen Rollen die Zuschauerherzen erobern".

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