Die Totgeweihten grühühüüüüssen

von Christoph Fellmann

Zürich, 20. März 2015. Eine alte Frau geht durch den Saal der Anstalt, findet entlang der Glasfront zur Schwingtüre, stösst sie auf, quetscht sich umständlich zwischen den Flügeln durch und setzt sich endlich auf den Stuhl neben dem Plattenspieler. Sie zieht eine Vinylplatte aus dem Karton und legt sie auf. Die Traviata stirbt.

Die Musik lockt die anderen Alten an. Sie tragen Kleider in blassen Tönen, in zarter Annäherung ans Totenhemd. Hellblau, hellrot, hellbeige. Die sechs Alten stemmen sich auf Krücken und tragen ihr Haar im gar nicht mal so schicken Out-of-Totenbett-Look. Als die Sterbearie der Traviata zu Ende ist, klatschen sie zum Bravo und sagen: "Seltsam. Jetzt fühle ich mich besser." Macht sich da am Ende eine kleine Todessehnsucht bemerkbar? Aber sicher doch, schliesslich befinden wir uns in den "Schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper", wie sie Alvis Hermanis im Zürcher Schiffbau angerichtet hat.

Ach, weh und oh

Die Sterbearien sind die Königsdisziplin der Oper. Sie dauern ungefähr so lang wie das ewige Leben und bergen nur die hehrsten Worte. Ach, weh und oh. Und daraus nun ein Sprechtheater zu machen, ist ja wirklich eine reizvolle Idee. An diesem Abend sehen wir also Isolde in dem Glauben ertrinken, sie werde im Tode mit ihrem Tristan vereint (Wagner). Wir sehen, wie Tosca von der Engelsburg stürzt (Puccini), wie Violetta der Tuberkulose erliegt (Verdi) und Carmen von ihrem eifersüchtigen Geliebten erstochen wird (Bizet). Ausserdem erschießt Eugen Onegin seinen Freund Lenski in einem Duell (Tschaikowski), und Nedda wird (abermals) erstochen (Leoncavallo).

Beziehungsweise ist es so: Wir sehen, wie die Alten der Anstalt ihre liebsten Sterbeszenen exekutieren, aus lauter Liebe zur Oper und zum Theater. Aber nur, um sich sogleich wieder zu erheben – hinfällig, aber lebendig –, und sich zum Mittagessen an den langen Tisch zu setzen (Gazpacho). Dass einer der Senioren schon mal länger liegen bleibt, als es die Szene erfordert, ist wirklich nur dem Alter geschuldet und dem Sinn der Regie für Humor.

Sterbeszenen 560 TanjaDorendorf TuTFotografie ujpgDas Altenheim swingt: Rüstige Tänze zu Opern-Evergreens

Gut, das stimmt nicht ganz. Denn natürlich geht es auch darum, dass sich hier das übersteigerte Pathos der Oper mit den Realien eines Alltags im Altersheim verschränkt. Die Lebensmüdigkeit, ach. Die Gebrechen, weh. Die späte Wollust, oh. Also haben die Maskenbildnerinnen des Schauspielhauses das Ensemble so aufwendig zerfurcht und überrunzelt, dass sie zum Premierenapplaus mit auf die Bühne durften. Dringlichkeitsüberschuss durch Todesnähe, der Plan leuchtet ja auch ein.

Doch geht er nicht auf. Erstens, weil wir auf der Bühne halt doch keine alten Menschen sehen, sondern nur Schauspieler, die mit geradezu opernhafter Inbrunst zeigen, wie virtuos sie alte Menschen spielen können. Und zweitens, weil Alvis Hermanis seine Alten zum Amüsement freigibt, sprich: sie als Karikaturen anlegt, die röcheln, grapschen und schnarchen. Nur manchmal schaffen es die Spielerinnen und Spieler, in einem Blick oder in einem blossen Sitzen ihrer Figur jene Gravität zu geben, die ins Grab zielt, und jene Würde, die sie noch einmal daraus erhebt. Es sind die stärksten Momente dieses Abends, und oft gehören sie Hilke Altefrohne (als Frau Altefrohne), Jirka Zett (als Herr Zett) und Milian Zerzawy (als Herr Zerzawy).

Noch einmal Meersalz auf den Lippen schmecken

Aber sie tragen ebenso wenig über diesen Abend wie die grossartige Musik vom Plattenspieler oder die ergreifende Etüde über den "sterbenden Schwan" (Saint-Saëns). Denn es existieren weder ein Plot noch sinnige Übergänge von Arie zu Arie und von Oper zu Oper. Meistens müssen die Alten raten, um welche Sterbeszene es sich denn nun jetzt schon wieder handelt, und weiter gehts.

Und weil Alvis Hermanis zu ahnen scheint, dass sein Best-of-Dying ganz gut noch ein wenig melodramatisches Gewicht und zeitgenössische Relevanz gebrauchen könnte, drückt er ihm eine Nummer über die letzten Wünsche der Alten auf ("Noch einmal Meersalz auf den Lippen schmecken") sowie über die transhumane Zukunft des Menschen ("Das Prinzip der Lebenserwartung wird irrelevant sein"). Was allerdings auch nichts daran ändert, dass das Prinzip der Erwartung eines baldigen Schlusses des Stücks umso relevanter wird. Und siehe da, nach 135 Minuten ist dieser Abend eines langsamen Todes gestorben.

Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper
von Alvis Hermanis
Regie, Bühne, Kostüme: Alvis Hermanis; Licht: Ginster Eheberg; Dramaturgie: Andrea Schwieter.
Mit: Hilke Altefrohne, Gottfried Breitfuss, Isabelle Menke, Friederike Wagner, Milian Zerzawy, Jirka Zett, Rita von Horvath.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Mehr über den Regisseur Alvis Hermanis erfahren Sie im nachtkritik.de-Lexikon. Oper mit echten alten Granden gab es 2013 an der Berliner Volksbühne von Johann Kresnik: Villa Verdi.

 

Kritikenrundschau

Einen "mit gut zwei Stunden etwas überlange(n)" Abend hat Christian Wildhagen gesehen und schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (23.3.2015): Alvis Hermanis balanciere mit seiner "genau beobachteten Personenregie, die wunderbar schrullige Charaktere erschafft", auf Messers Schneide. "Denn wenn wir über die Skurrilitäten dieser sechs Hochbetagten und ihrer unbedarften Pflegerin ('Heute sind Sie aber wieder schön gestorben!') lachen, erheitern wir uns zwangsläufig über das, was uns allen blüht." Die Musik gebe dem Dasein dieser Alten zumindest noch einen Inhalt – "und einen rosigen Schein".

Der "Theaterpater aus Riga" (…) wolle "nichts predigen", wenn er seine sieben welken Schwäne auf einem Esstisch "rhythmussicher dahinparkinsonieren lässt, derweil sie in Cello-Seligkeiten versinken"; nur schön schräge Bilder zeigen, schwelgen – "und trösten", interpretiert Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (23.3.2015). Leider bleibe dies, insgesamt, ein frommer Wunsch. "Weil Theater halt nun mal keine Oper ist; und schon gar kein Best-Of-Opera-Wühltisch." Der Abend bleibe demzufolge "immer hübsch im Klamaukig-Komischen oder Sentimental-Gefälligen", lappe nie ins Hässliche oder richtig Schlimme und lähme und lahme "wie seine Helden".

"Das Offensichtliche, das Naheliegende" sei das Leitmotiv dieses "Theaterabends aus der Opernkonserve", schreibt Stephan Reuter auf Spiegel Online (23.3.2015). Das fange bei der Musikauswahl an und ende mit der "wenig originellen Einsicht", dass Hermanis das Alter als Zwangsfreizeitvertreib verstehe, dessen Überraschungsarmut nur noch von seiner Geheimnislosigkeit übertrumpft werde. Ein weiteres Problem habe die Inszenierung mit ihrem Arienhitparaden-Charakter: "Hermanis kommt auf keine bessere Idee, als sein hochtrabendes Projekt zum szenischen Medley auf Seniorennachmittagsniveau zusammenschnurren zu lassen." Folglich müsse das Ensemble die Suppe auslöffeln, "es tut das zu Bizets Habanera, aber da ist der Rollstuhl der Inszenierung schon gegen die Wand geknallt." Der notdürftig zusammengeflickte Erzählrahmen leiste auch keine Erste Hilfe, so Reuter: "Im Gegenteil, selten ist in Zürich ein so konsequent kunstloses Impro-Geschwätz zum Theaterstück erklärt worden."

"Es gibt komische, klamaukige und berührende Momente an diesem Abend, der manchmal an Inszenierungen Christoph Marthalers denken lässt und manchmal an die Stücke Thomas Bernhards", schreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.3.2015). "Der Theatermacher, der Weltverbesserer, der alte Artist, das sind altgewordene Ungeheuer, tyrannische Misanthropen bis in die gichtigen Fingerspitzen. Sie fürchten den Tod und hassen das Leben." Die Liebe sei für sie nicht mehr als ein schon weitgehend unleserlich gewordener Eintrag im Tagebuch. "Das ist bei Hermanis anders", so Spiegel. Auch wenn mitunter die Scharniere knarrten, mancher Witz "arg vorhersehbar" sei: "Wenn Friederike Wagner im Rollstuhl über die Bühne schwebt und alle sechs sich zu einem grandiosen Bild zu den Klängen von Camille Saint-Saëns 'Le Carnaval des Animaux' auf dem Tisch vereinigen, ein greiser Schwarm sterbender Schwäne, geschlossene Augen, gestreckte Runzelhälse, die flatternden Fingerspitzen wie welke Schwingen langsam sinken lassend, dann sind das Momente großer Sehnsucht nach der Liebe, der Schönheit, dem Leben."

"Dank der trockenen Selbstironie stürzen die von genialen Maskenbildnern zu Senioren-Schauspielern deformierten Figuren sich und uns Zuschauer in ein Wechselbad erschreckender, erschütternder und aberwitzig komischer Augenblicke", sagt Cornelie Ueding im Deutschlandfunk (22.3.2015). "Sie amüsieren sich selbst kein letztes Mal, sondern Tag für Tag." Intensiver könne man sich nicht auf die musikalischen Sterbeszenen einlassen als das in Alvis Hermanis' "theatralischem Hohelied auf die Oper" geschehe: "In diesem Warteraum des Todes wird die Zeit angehalten. Und die Neugier auf das Leben, die Faszination des Todes und die Ironisierung der eigenen Gebrechlichkeit, das geradezu kindliche 'so-tun-als-ob-die-Krücke-eine- Duell-Pistole-wäre' gehen eine ebenso seltene wie kreative Mischung ein." Es entstehe "ein großer Abend für das Theater – über das Theater".

Für Christoph Leibold auf Deutschlandradio Kultur (20.3.2015) legen die Figuren "eine geradezu übernatürliche Vitalität an den Tag, die sich nicht verträgt mit dem Naturalismus, den Hermanis qua Bühnenbild und Maske als Spielregel für seine Inszenierung ausgegeben hat". Was jedoch Leibold zufolge "noch nicht Mal das gravierendste Manko dieses gänzlich misslungenen Abends ist". Schlimmer wiege, dass die mit "Bravo!"-Rufen der Mitbewohner bedachten Operntode der überaus rüstigen Rentner weder von der Erhabenheit des Todes erzählten, noch von dessen Erbärmlichkeit. "Sie sind schlichtweg banal. Alberne Opernparodien, dargeboten von lustigen Alten."

 

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