Steh auf, wenn du am Boden bist

von Wolfgang Behrens

Dessau, 20. März 2015. In großen Lettern prangt es an der Fassade des Anhaltischen Theaters: "Mich ergeben! Auf Gnad & Ungnad! Mit wem redet Ihr?" Man weiß natürlich, dass dies ein Zitat aus dem "Götz von Berlichingen" ist – es sind sogar die einleitenden Worte zu dem "Götz"-Zitat –, doch man kommt nicht umhin, es auf André Bücker, den Noch-Intendanten des Dessauer Theaters, zu beziehen. Was hat dieser Mann um sein von den Unbilden der Kulturpolitik gebeuteltes Theater gekämpft, bis man sich seiner nur noch zu erwehren vermochte, indem man seinen Vertrag nicht verlängerte. Ergeben aber hätte er sich nie, ha! Mit wem redet Ihr?

Götz von Berlichingen und Intendant Bücker, zwei Unbeugsame

Nun hat Bücker zu seiner Abschiedsinszenierung noch einmal groß ausgeholt. Und auch wenn Chefdramaturg Andreas Hillger nicht müde wird zu betonen, dass der "Götz" schon angesetzt war, noch ehe sich das Ende von Bückers Intendanz abzeichnete, so wirkt es doch wie eine trotzige, eine gleichsam autobiographische Wahl: Bücker führt einen Unbeugsamen vor, der es – gleich ihm – in Fehd und Handlungen mit der Diplomatie nicht allzu genau nahm und stattdessen lieber sehenden Auges, aber aufrecht in den Untergang galoppierte. Ob Bücker für sich und das Theater hätte mehr rausschlagen können, wenn er sich ab und an etwas konzilianter gegeben hätte – man wird es nie erfahren. Sein Gesicht jedenfalls hat er stets gewahrt.

GoetzvonB2 560 Claudia Heysel uMit Regenbogen-Banner: Die Dessauer Spieler letztmalig in der Regie von André Bücker
© Claudia Heysel

Glücklicherweise aber haben Bücker und seine Mannschaft der Versuchung widerstanden, aus dem "Götz" eine Selbstbespiegelung des Theaterkampfes der vergangenen Jahre zu machen (die hat ja vor einem guten Jahr in The Beggar's Opera bereits ausgiebig stattgefunden). Das Porträt des Intendanten als Ritter mit der eisernen Hand fällt also aus. Stattdessen spannt das Haus hier noch einmal all seine Kräfte zusammen, um zu zeigen, wie man auch mit knapp bemessenen Stadttheatermitteln ins Große zielen kann. Und deshalb ist nicht nur das gesamte 12-köpfige Schauspielensemble (+ Leitungsreferent + Öffentlichkeitsarbeiter) im Einsatz, sondern auch gleich noch der Opernchor, der an diesem Abend wohl ein größeres Pensum absolviert als in den meisten Musiktheaterproduktionen.

Klotzen, nicht kleckern

Es wird jedenfalls geklotzt, nicht gekleckert. Bücker hat die riesige Bühne des großen Hauses komplett leergeräumt und auch den Rang fürs Publikum sperren lassen, zudem bleiben durchgängig die Saaltüren geöffnet – die Zuschauer sehen sich mit einer Surround-Bespielung konfrontiert. Für die Kampfszenen hat man sich der Dienste Klaus Figges versichert, des Großmeisters der Fechtchoreographie, und entsprechend klirren die Schwerter, dass es einem bange wird. Und weil Goethe allein nicht reicht, um Freiheit und Recht auf Widerstand zu beglaubigen, gibt es noch jede Menge Fremdtext-Implantate von Martin Luther bis zu RAF-Manifesten, derweil der Chor, von Trompete, Flöte und Trommeln militärisch stimmungsvoll begleitet, klangschön deutsche Freiheitslieder zum Besten gibt.

Was durchaus Effekt macht: Steh auf, wenn du am Boden bist, auch so ein Widerstandslied – freilich kein historisches, sondern eines von den Toten Hosen –, schmettern die Chorsänger*innen einmal und marschieren in Landfrauen-Kitteln und Alltagsklamotten, Fahnen der Diversität schwenkend, an die Rampe, während Götz auf dem Rang die Anführer-Pose einnimmt, eine mächtige Regenbogenflagge schwingend. Da möchte man elektrisiert aufspringen und mitsingen: "Halt dein Gesicht einfach gegen den Wind, egal, wie dunkel die Wolken über dir sind ..."

Dosenbier gegen Sekt

Bücker erzählt an diesem Abend die Geschichte der kleinen Revoluzzer gegen die Zyniker der Macht. Die verschworene Truppe um Götz (Felix Defèr spielt ihn ungemein energiegeladen als jugendlich virilen Rebellen) trinkt ihr Bier aus Dosen und geriert sich kumpelhaft und grölend wie eine Gruppe Motorrad-Rocker oder Fußball-Fans; am Bamberger Bischofshof hingegen säuft man, während man Ränke schmiedet, den Sekt aus der Flasche: Dekadent ist's bei den großen Herren!

GoetzvonB1 560 Claudia Heysel uMit der eisernen Hand: Felix Defèr als Götz von Berlichingen  © Claudia Heysel

Was man Bücker sicher vorwerfen kann, ist mangelnde Einfallsökonomie. Vor allem vor der Pause wirkt es manchmal so, als sei jedes körpersprachliche Angebot der Schauspieler und jede noch so platte Anreicherung des Goethe-Textes durch Gegenwartsjargon ("Mach 'ne Biege!", "Willst du mich verarschen?" etc.) ungeprüft in die Aufführung gewandert. Andererseits entwickelt diese ungehemmte Zeigelust der Darsteller auch ihren ganz eigenen Drive – zumal Bücker dann im zweiten Teil die Kurve zu immer konzentrierteren und strengeren Arrangements nimmt. Spätestens ab den Bauernkriegs-Szenen entfaltet die leere Bühne zunehmend ihre Kraft – und die langsam in die Vereinsamung driftenden Helden müssen sich nun in diesem Riesenraum gegen die immer kältere, immer fahlere Ausleuchtung, gegen die Sprinkleranlage und gegen leise wummernde Stromgitarren-Klänge behaupten.

Wachsendes Pathos

Bücker baut hier einfache, aber umso wuchtigere Bilder: Wenn etwa Götzens Jugendfreund und Gegenspieler Weislingen (der fabelhaft wankelmütige Sebastian Müller-Stahl) seinen Todeskampf austrägt, steigt seine frühere Liebe Marie (Katja Sieder mit Gudrun-Ensslin-Charme), mit weißen Flügeln angetan, als Heiner Müllers Engel der Verzweiflung in die Höhe: "Mein Flug ist der Aufstand, mein Himmel der Abgrund von morgen." Längst hat sich die apokalyptische Emphase der anfangs so lebens- und mätzchenprallen Aufführung bemächtigt – ja, es wird geklotzt, auch mit Pathos.

Am Ende der fast vier Stunden steht der Saal auf, nicht geschlossen, doch zu zwei Dritteln bestimmt. Es gilt eine stupende Ensembleleistung zu feiern und einen Intendanten, der nun erhobenen Hauptes von Dessau scheiden kann. Auf Gnad und Ungnad.

 

Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand
von Johann Wolfgang von Goethe
für Dessau eingerichtet als "Ein deutsches Lied von der Freiheit"
Regie: André Bücker, Kampfchoreografie: Klaus Figge, Kostüme: Jessica Rohm, Musikalische Leitung: Helmut Sonne, Chorarrangements: Andres Reukauf, Dramaturgie: Andreas Hillger.
Mit: Felix Defèr, Mario Klischies, Ines Schiller, Katja Sieder, Gerald Fiedler, Illi Oehlmann, Stephan Korves, Dirk Greis, Sebastian Müller-Stahl, Patrick Rupar, Patrick Wudtke, Jan-Pieter Fuhr, David Ortmann, Boris Malré, Silvio Wiesner, Christel Ortmann, Constantin Ruhland / Neele Wagner, Mitglieder der Anhaltischen Philharmonie, Opernchor des Anhaltischen Theaters.
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.anhaltisches-theater.de

 

 
Kritikenrundschau

Eine "überaus gelungene" Premiere hat Andreas Montag von der Mitteldeutschen Zeitung (23.3.2015) erlebt. Manchmal gehe es zwar "ein bisschen bunt zu, was die Zuweisungen betrifft, die Rote Armee Fraktion gespenstert durch die Aufführung (...)". Aber Regisseur André Bücker habe doch "die Größe besessen, seinem Ensemble die Chance zu geben, einen gut abgehangenen Klassiker derart erfrischt auf die riesige, überwiegend kahle Bühne zu bringen, dass man sich über fünf Stunden hinweg niemals langweilt." Bestechend sei an diesem "Götz" die "klare Hinführung auf den Punkt: Hier der Ritter, der einer aussterbenden Spezies angehört, dort die Fürsten und Bischöfe, denen die freiheitliche (freilich zuweilen auch räuberische) Art von Götz und Genossen nicht in den Streifen passt."

"Andre Bücker setzt zum Abschluss seiner Intendanz noch einmal aufs totale Theater" und zwar "mit Erfolg", berichtet Wolfgang Schilling für MDR Figaro (23.3.2015). Bücker benutze "den Abend nicht zur billigen Abrechnung. Er pustet vielmehr den Staub vom Klassiker, um uns zu zeigen, was er heute noch wert ist." Fremdtexte seien "geschickt und gleichsam nahtlos eingebaut"; das Ensemble agiere "kollektiv absolut überzeugend". Im Ganzen gelinge es so, "die Götzsche Grundidee des individuellen Freiheitsgeistes im Widerstreit gegen eine unfreiheitliche Ordnung ins Heute" zu holen.

"Bücker wollte zu seinem Abschied der Stadt Dessau und dem Land Sachsen-Anhalt nicht den Stinkefinger, aber doch die Faust zeigen, um die es im 'Götz' prominent geht", so Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung (24.3.2015). Er inszeniere Goethes Drama "fast ungekürzt, dazu noch angereichert durch Texte von der Zeit der Bauernkriege um 1525 bis zu modernen Reflexionen über Revolution, Krieg und Gewalt". Das ganze Haus, das Gebäude, mitspielen zu lassen, sei eine brillante Lösung. "Es wird gekämpft und gebrüllt wie bei den alten Rittern, die als heutige Rockerbande ihr plausibles Kostüm haben. Das ist hier kein Getue, sondern eine gelungene Wiederherstellung des Sprach-Schocks." Goethes Text winde sich fast unmerklich hervor aus dem Geflapse der Schauspieler, die das auf die Sitze strömende Publikum anreden – ein wunderbarer Effekt. Fazit: "Gottlob vergisst man während des Spiels den traurigen Umstand, dass Theater immer dann zur Hochform auflaufen, wenn sie um ihr Leben kämpfen müssen."

 

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