Die wahre innere Reaktion ...

21. März 2015. In Peter Brooks "Der leere Raum" – einem der wahrsten Bücher, die je über das Theater geschrieben wurden – gibt es eine Stelle, die sich mir besonders tief eingeprägt hat. Und es ist nicht jene (auch sehr schöne) über die Kritiker: "Ein Kritiker dient dem Theater immer, wenn er eine Unzulänglichkeit ausfindig macht. Wenn er fast die ganze Zeit mosert, hat er fast immer recht."

Nein, bei der Stelle, die ich meine, geht es um Improvisationsübungen: "Wir experimentierten mit einem Schauspieler, der eine Tür öffnet und etwas Unerwartetes entdeckt. Er sollte auf das Unerwartete mit Gesten (...) antworten. Man hatte ihm nahegelegt, die erste Geste (...) auszuführen, die ihm einfiel. Was sich zuerst zeigte, war des Schauspielers Repertoire an Nachahmungen. Der vor Überraschung geöffnete Mund, der entsetzte Schritt rückwärts: woher kamen die sogenannten Spontaneitäten? Offenbar wurde die wahre und augenblickliche innere Reaktion blockiert, und blitzschnell lieferte die Erinnerung eine Nachahmung vorher gesehener Formen. (...) Dieses tödliche Theater lauert in uns allen."

Peter Brook Renaissance TheaterDer Regisseur Peter Brook
© Renaissance Theater Berlin
Ob es wirklich so schwierig ist, Überraschung zu mimen? Einen Tag, nachdem ich diese Passage gelesen hatte, ging ich über den Potsdamer Platz in Berlin und versuchte, jener Schauspieler zu sein. Mitten im Strom der Passanten nahm ich mehrere Anläufe, den Erschrockenen zu spielen und warf vermeintlich erstaunte Blicke oder blieb ruckartig stehen. Mich in der anonymen Masse völlig unbeobachtet glaubend, verlor ich mich ganz in meine rätselhafte Übung, als plötzlich völlig unerwartet ein weitläufiger Bekannter mit einem geschmetterten "Hallo!" auf mich zutrat. Mir entglitt alles, Gesichtszüge, Körperhaltung, Geist – mein ganzer Fokus kam mir angesichts der unvermittelten Begegnung (in einer nicht ganz unpeinlichen, zumindest stark erklärungsbedürftigen Situation!) mit einem Schlag abhanden. Und in diesem Augenblick der tatsächlichen Überraschung, des wirklichen Erschreckens wurde ich gewahr, dass ich vorher genau das von Brook Prognostizierte getan hatte: Ich hatte das billigste, das vorhersehbarste, das tödlichste Gestenrepertoire abgerufen.

Wie man es besser machen kann, das konnte man immer wieder in Peter Brooks Bühnenarbeiten erleben. Etwa, um ein Beispiel noch jüngeren Datums zu nennen, in seinem "Hamlet" aus dem Jahr 2000, in dem Adrian Lester die Titelfigur ohne jede theatrale Aufgeblasenheit spielte, wirklich so, als würde jede Geste und jeder Sprechakt spontan aus dem Moment geboren. Selten wohl klang Shakespeare so alltäglich, so pathosfrei, so ehrlich, so gegenwärtig, so wahr und – ja, auch so konzeptlos. Denn um das tödliche Theater zu überwinden, bedürfen Peter Brook und seine Schauspieler keiner Konzepte, sondern nur der Spannkraft des Augenblicks.

Heute wird Peter Brook 90 Jahre alt. Das ist kein Grund zum Erschrecken, sondern nur einer zum Erstaunen. Denn eigentlich dachten wir, Peter Brook und sein magisches Theater des leeren Raums seien schon immer dagewesen. Ganz ohne Alter, zeitlos. Wir gratulieren trotzdem!

(Wolfgang Behrens)