Auch braven Buben stirbt die Braut 

von Peter Schneeberger 

Wien, 28. Februar 2008. Aus Henri Murgers Roman "Das Leben der Bohème"  (1849) wurde die Puccini-Oper "La Bohème" (1896) wurde Aki Kaurismäkis Film "La Vie de Bohème" (1992) wurde Jonathan Larsons Broadway-Musical "Rent" (1996) wurde nun das Theaterstück "Das Leben der Bohème", aufgeführt gestern Abend im Vestibül, der kleinen Off-Spielstätte des großen Wiener Burgtheaters. Der Stoff des Pariser Liebespaares Rodolfo und Mimi ist einfach zu herzzerreißend, als dass die Künstler aller Genres dauerhaft die Finger davon lassen könnten.

Auf der Bühne steht ein kleines Puppenhaus, das bald alle möglichen Stücke spielen wird: In ihm sind ein Zigarettenautomat, eine Trommel, ein Kühlschrank, ein Stiegenhaus und ein Bistro versteckt, mal geht hier eine Tür, mal dort eine kleine Luke auf, denn was mehr sollte die Bohème denn schon benötigen, um durchs Leben zu kommen? Rodolfo, Marcel und Schaunard sind bekanntlich Künstler, und die kommen seit jeher, wenn es darauf ankommt, mit dem Minimum aus.

Von Zadek, Stemann und Pollesch gelernt

"Ich erzähle eine Geschichte über junge Menschen, die sich eine Position im Leben erst aufbauen, die aber außerhalb der Gesellschaft liegt", sagt Regisseur Philip Jenkins über seine Inszenierung. "Diese Bohèmiens leben von einen Tag auf den anderen, um dadurch eine höhere Intensität zu erzielen. Mimi ist das Opfer der Entscheidung, ein solches Leben zu führen." Jenkins muss wissen, wovon er spricht, schließlich ist auch er gerade mal 32 Jahre alt und liefert mit dem Abend sein theatralisches Gesellenstück ab.

Nachdem der gebürtige Heidelberger in Wien Theaterwissenschaft studiert hatte, wurde er 2001 fester Regieassistent am Burgtheater. Er ging alteingesessenen Meistern wie Peter Zadek oder Wolfgang Wiens ebenso zur Hand wie den Revoluzzern Nicolas Stemann und René Pollesch: "Ich habe von vielen Leuten was gelernt, aber von jedem etwas anderes", sagt Jenkins, der mit dieser Inszenierung Abschied vom diensteifrigen Leben als Regieassistent nimmt.

Der Zauberlehrling hat es sich freilich nicht ganz leicht gemacht. Als Vorlage dient ihm Aki Kaurismäkis wunderbar sentimentaler, aber pathosfreier Film "La Vie de Bohème", dessen Drehbuch Jenkins – arg gekürzt und gerafft – auf die Bühne bringt. Arglos strich er die Figur der Musette und erweckt stattdessen Puccini höchstpersönlich zum Leben, der dankbarerweise in alle möglichen Rollen schlüpft. Wie Kaurismäki auch, verzichtet Jenkins auf Zitate aus der Puccini Oper – mit Pathos von derart hohen Graden legt man sich am Theater nicht an.

Zur Geige verhaucht es sich stimmungsvoller

Der Abend verzaubert immer dann, wenn Jenkins tief in die Trickkiste des Absurden greift: Wenn seine Schauspieler auf Sessel sitzen, die es gar nicht gibt, wenn der Maler Rodolfo (Moritz Vierboom) in stiller Kommunikation mit einem seiner Bilder steht oder er vor lauter Liebe zu seiner Mimi wie eine Fledermaus verkehrt von der Decke hängt. Doch bekommt dem Stoff die Transplantation auf die Theaterbühne nur bedingt. Wo Puccini auf zuckersüße Quartsextakkorde zurückgreifen kann, um das Publikum zu Tränen zu rühren, und Kaurismäki stimmungsvolle Szenerien abfilmen lässt, liegt die todkranke Mimi im Vestibül bloß minutenlang am Boden, ehe sie ihr kleines Leben ganz ohne Geigenmusik aushaucht.

Jenkins erzählt seine Geschichte mit gängigen Theatermitteln, doch diese scheinen gerade für das wilde Leben der Bohème etwas zu brav. Mit Gerrit Jansen als Marcel und dem famosen Patrick O. Beck stehen dem Regisseur immerhin zwei Schauspieler zur Verfügung, die ihre Figuren bravourös zum Leben erwecken. Julia Hartmann, zuletzt Shakespeares Julia im großen Haus, gibt die hüstelnde Mimi als schickes Lifestyle-Girl: Sie stakst in atemberaubenden Kleidern über die Bühne und passt so gar nicht in das Klischee von der verhungernden Bohème. Nach eineinhalb Stunden ist der Abend vorbei und in Gestalt der Mimi die große Liebe einmal mehr vor den Augen des Publikums verstorben. "Ich muss allein sein, ich muss allein sein", stammelt Rodolfo fassungslos. Was wäre die Liebe, würde sie nicht zugrunde gehen?

 

Das Leben der Bohème
nach Aki Kaurismäki
Regie: Philip Jenkins, Ausstattung: Claudia Vallant, Musik: Markus Aubrecht.
Mit: Patrick O. Beck, Julia Hartmann, Gerrit Jansen, Moritz Vierboom.

www.burgtheater.at

   

 

Kritikenrundschau

Für Helene Kurz in der Wiener Zeitung (1.3.) trifft "die frech-fröhliche österreichische Erstaufführung von Aki Kaurismäkis 'Das Leben der Bohème' ... genau den Puls unserer Zeit. Regisseur Philip Jenkins versetzt die Charaktere ins Hier und Jetzt und lässt sie im Indie-Rock-Style lässig auf und ab schreiten." Die Aufführung werde "vom Charme und Schmäh der Schauspieler" getragen, "die das Flair der Bohème versprühen und das Publikum in eine Welle der Sympathie einlullen." Die Bühne sei "modern, schlicht und funktionell", Gerrit Jansen als Marcel "verschroben", Patrick O. Beck als Schaunard "unverschämt poppig", Moritz Vierboom als Rodolfo "eindrucksvoll spontan" und Julia Hartmann als Mimi "elektrisierend".

"Gelungen!", urteilt Thomas Gabler in der Kronenzeitung (1.3.2008) kurz und bündig, dank der Schauspieler müsse man nicht einmal die Musik dazu denken. Originelle Ideen und witzige Einlagen "locken in die Welt des gar nicht leichten Lebens für die Kunst und mit der Kunst". Anspielungen auf die Tagespolitik ja, aber nicht endlos. "Alles ist heiter, aber nicht platt, traurig, aber nicht rührselig".

Im Konkurrenzblatt, dem Kurier (1.3.2008), vergibt JuS nur die Note "unentschlossen". Weit über den Satz, den der Puccini in der Darstellung beschwichtigend den Jungen sagt: "Wir alle hatten Schwierigkeiten in der Pubertät", ginge die Vorstellung nicht hinaus. Der Geist Kaurismäkis bliebe dem Abend "großteils fern". "Es dominiert Unentschlossenheit bezüglich Raum, Zeit, Ort und Sprache". Ein paar Momentaufnahmen in der flexiblen Bühne gelängen. Die Interaktion der Darsteller mit dem Publikum sei witzig, mehr bliebe nicht.

   
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