Fliehen & Forschen - werkgruppe2 lässt die Schauspieler vom Staatstheater Braunschweig in die Rolle von Migranten schlüpfen
Im Papiergewitter
von Alexander Kohlmann
Braunschweig, 27. März 2015. Sie wollen sich ja so gerne assimilieren, die Menschen, die auf verschlungenen Wegen nach Deutschland gekommen sind. Wenn sie sich in deutsche Trachten schmeißen und sich Zuschauer zum Tanz greifen, ist in der volkstümlichen Deutschland-Folklore schnell vergessen, dass nichts von dem, was wir an diesem Abend sehen, echt ist. Denn die Migranten, die in "Fliehen & Forschen" von ihren Erfahrungen in Braunschweig berichten, sind keine Helden des Alltags, sondern Schauspieler.
Der Professor im Hemd und altmodischen Sakko kommt gar nicht aus Afghanistan, sondern wird von Ensemble-Mitglied Mattias Schamberger als sehr glaubwürdiges Abbild der Realität modelliert. Es gibt ihn wirklich, irgendwo in Braunschweig, den Wissenschaftler, der nach dreißig Jahren in Deutschland zwar einen deutschen Pass bekam, aber trotzdem seinen Vater nicht zu Besuch einladen durfte.
Stege zwischen Welten
Über seine Klage gegen diesen "Verwaltungsvorgang" gerät der Professor, also der Schauspieler, der ihn spielt, so sehr in Wut, dass er buchstäblich die Wand hochklettert. Auf einem kleinen Steg über den kreuz und quer auf der Bühne verteilten Zuschauerreihen bleibt er stehen. Und postuliert: "Wenn ich sterbe, habe ich verfügt, dass ich nicht in Deutschland begraben werde, aus Protest gegen diese Behandlung". Die Deutschen Behörden würden ihn nicht wie einen Menschen behandeln, sondern wie einen Affen.
Starke Wutausbrüche, die werkgruppe2 um die Regisseurin Julia Roesler während ihrer mehrmonatigen Recherche in Braunschweig gesammelt haben. Alle Texte auf der Bühne sollen wirklich genauso in den Interviews gesprochen worden sein. Durch den Kniff, Schauspieler zu besetzen, macht das Göttinger Theater-Kollektiv in ihren Arbeiten die Wirklichkeit modellierbar. Und eröffnet die Möglichkeit zu extrem suggestiven Theaterabenden. Denn das Postulat, die Künstler stellten hier aus einer neutralen Perspektive die Wirklichkeit nur aus, ist natürlich eine gewaltige Fehleinschätzung. Im Gegenteil, durch die Montage und theatrale Bearbeitung des Materials postuliert das Team politische Botschaften.
Umgedrehte Verhältnisse
Die geraten mal mehr und mal weniger komplex. Und manchmal wächst dem Kollektiv die thematische Fülle des Materials auch über den Kopf. Wie an diesem Abend, der in seinen knapp zwei Stunden gewaltig viele hochkomplexe Themenkomplexe aufschlägt, um dann schnell weiterzublättern, bevor der Zuschauer sie vertiefen kann.
Da ist die Frau des Professors (Imme Beccard), die erst kein Kopftuch getragen hat, aber mit zunehmendem Aufenthalt in Deutschland gerne eines tragen wollte. Vor den Zuschauern bindet sie es sich um. Es sei die Schuld von uns Deutschen, wenn wir mit Kopftüchern oder anderen fremden Gepflogenheiten ein Problem hätten. Überhaupt diese "zunehmende Islam-Feindlichkeit", die Mörder von Charlie Hebdo seien überhaupt keine Islamisten, das seien keine religiös motivierten Taten. Der Westen solle bitteschön aufhören, seine Werte immer absolut zu setzen.
Es ist die Innenperspektive von Menschen, die sich nicht angenommen fühlen. Der stumpfsinnige Pegida-Stammtisch, hier wird er ausgetauscht gegen Momentaufnahmen von Menschen, die sich wütend dagegen wehren, als religiöse Gruppe pauschal verurteilt zu werden. Differenzierter werden viele Betrachtungen dadurch allerdings nicht – und diskutieren tut der zerfasernde Abend Fragen zum Kopftuch, zu den Grenzen unserer Wertegemeinschaft und ungerechten Stigmatisierungen auch nicht. Stattdessen wird ein Thema nach dem anderen neu aufgemacht.
Bürokratie-Mühlen
Da ist die junge Araberin, die in einer sehr sensiblen Spiegelung durch die hellblonde Ursula Hobmair vom doppelten Druck berichtet. Von der Angst vor ihrem Ehemann und dessen Bruder, die sie auch in Deutschland noch als unehrenhaft verfolgen – und der Ausgrenzung durch eine Gesellschaft, die in der paranoiden Angst lebt, dass Flüchtlinge an ihrem Wohlstand nagen könnten.
Oder der Schauspieler Sven Hönig als hellhäutiger Vertreter eines dunkelhäutiger Migranten, der sich dagegen wehrt, immer nur als Affe gesehen zu werden. Während er spricht, hopst der Rest des Ensembles in afrikanischer Tanz-Tracht durch die Ränge und die Zuschauerreihen. Das ist dann genau einer der suggestiven Effekte, die eher durch ihre Schlichtheit den Zauber zerstören als durch inhaltliche Komplexität eine echte Auseinandersetzung anzustoßen.
Irgendwann geht es um die Mühlen der deutschen Bürokratie, und aus den Rängen regnet es Formulare, in denen wir Zuschauer langsam ertrinken. Wer sich später die Mühe macht, die Akten zu durchstöbern, gerät schnell an die Grenzen der Bühneninstallation. Zu entdecken ist auf den Papieren lediglich die zigfach vervielfältigte Kopie eines Meldescheins. Und ein Spendenaufruf nebst Bankverbindungen von gemeinnützigen Institutionen, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Natürlich kann man mit einer Spende an eines dieser Konten überhaupt nichts falsch machen. Wirklich schlauer geworden sind wir nach diesem Papiergewitter trotzdem nicht.
Fliehen & Forschen (UA)
Ein dokumentarisches Projekt über Migrationserfahrungen
von werkgruppe2 in Kooperation mit dem Staatstheater Braunschweig
Regie: Julia Roesler, Musikalische Leitung: Insa Rudolph, Bühne: Thomas Rump, Kostüme: Julia Schiller, Dramaturgie: Silke Merzhäuser, Christine Besier.
Mit: Imme Beccard, Ursula Hobmair, Sven Hönig, Mattias Schamberger, Tilla Kratochwil,Christophe Vetter, Musiker: Kim Efert, Philipp Zoubek.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.staatstheater.braunschweig.de
Zuletzt besprechen wir von werkgruppe2 die Produktionen Erdbeerwaisen über die alleingelassenen Kinder von Wanderarbeitern sowie Polnische Perlen über die Ausbeutung osteuropäischer Pflegekräfte.
In der Braunschweiger Zeitung (30.3.2015) schreibt Andreas Berger, die Stoßrichtung des Dokutheaters sei etwas wohlfeil, da den Klagen der Flüchtlinge zu Menschlichkeitsappellen wohl kein Theatergänger widersprechen würde. Es fehle die Gegenseite, die es für einen Konflikt brauche. Vor allem aber habe die Regisseurin Julia Roesler "diesaml nicht zu einer theatralen Form gefunden, die den gut gemeinten Anliegen künstlerische Kraft verleiht" – im Gegensatz zur letzten Arbeit. Selten komme es zu echten Momenten der Verstörung, mancher Auflockerungsversuch sei etwas peinlich.
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