Leerstellen statt Harrison Ford

von Stefan Schmidt

Saarbrücken, 27. März 2014. Das Saarland hat eines der strengsten Nichtraucherschutzgesetze Europas. Insofern fällt es schon auf, wenn in einem geschlossenen Raum öffentlich eine Zigarette nach der anderen weggequalmt wird. Das gilt erst recht, wenn dies in einem so engen Schlauch geschieht wie der Saarbrücker "Sparte 4": Bar, Konzertort und Studiospielstätte des Saarländischen Staatstheaters. Das Ensemble raucht dort also Kette an diesem Abend, und Regisseur Klaus Gehre macht den "Blade Runner" multisensual und multimedial erfahrbar, versinnlicht diesen Science Fiction-Cyberpunk-Kultfilm aus den frühen 80ern (und dessen Romanvorlage) dermaßen lustvoll, dass hinterher selbst passionierte Nichtraucher versucht sind, zur Zigarette danach zu greifen.

Jagd auf die Replikanten, die wir riefen

Dabei ist der Stoff doch eigentlich durch jahrzehntelange Intensivrezeption und kulturwissenschaftliche Exegese schon bis zur Lustlosigkeit ausgeleuchtet und ausgeschlachtet worden: In einer düsteren Zukunft, die zeitlich von unserer Gegenwart inzwischen nicht mehr allzu weit entfernt ist, macht ein ehemaliger Spezialpolizist Jagd auf so genannte Replikanten, Menschennachahmungen, die dafür geschaffen sind, neuen Lebensraum im All zu erschließen, von denen aber eine Handvoll aufmüpfig gegenüber ihrem Schöpfer wird und verbotenerweise zur Erde reist. Im Verlauf latent trashiger Action- und Liebesszenen (natürlich verguckt sich der Hüter der Ordnung in ein Nachbauwesen) stellen sich latent philosophische Fragen, etwa: Was macht das Menschsein aus? Werden wir irgendwann an unserer eigenen Hybris zugrunde gehen? Sind wir Schöpfer oder Geschöpfe? Und wie gefährlich sind eigentlich die (vermeintlich fortschrittlichen) Geister, die wir riefen?

BladeRunner1 560 Bjoern Hickmann uLive-Film vor New-York-Fotokulisse  © Bjoern Hickmann

Fest der Fiktion und der Offenlegung ihrer Produktionsbedingungen

Hollywood antwortet mit Kitsch, Bombastbildern und Harrison Ford. Klaus Gehre schafft Leerstellen. Und Möglichkeitsräume. Der Mann ist ein Theaterzauberer des 21. Jahrhunderts. Er nutzt (insgesamt vier) Kameras, um Illusionen von Räumen, Bewegungen und Szenerien zu erzeugen, die er sofort wieder zerstört, weil die Zuschauer sehen, wie sie vor ihren Augen entstehen: Die Darsteller bewegen etwa Matchbox-Autos an Stangen durch Fotokulissen. Auf einer Projektionsfläche links sieht das dann so aus wie eine Straßenszene in einer US-amerikanischen Großstadt. Ein programmatischer Gegenentwurf zum alltäglichen Bombardement der Bilder, über das der Bladerunnerpolizist an einer Stelle sagt, wir wüssten "hinterher alle nicht mehr, was wahr ist und was nicht." Ein Fest der Fiktion, die ihre Produktionsbedingungen hier offenlegt und sich den Spaß am Spiel gerade deshalb nicht verderben lässt.

Der Regisseur ist außerdem unverfroren genug, dem Film seine Mittel zu klauen, wo er sie für seine Zwecke verwenden kann: Stellenweise sehen wir Augen, Gesichter, Hände der Schauspieler so nah fokussiert, wie es das Theater sonst nicht leisten kann. Dabei erweitert das doch schlichtweg den Darstellungsraum um neue Dimensionen im Spannungsfeld von Nähe und Distanz. Dann wiederum beobachtet die eine Kamera, wie eine andere Kamera in ihrem Display das Blinzeln und Starren einer Probandin abbildet, die der Blade Runner gerade befragt. Das Publikum kann sich dabei gleichzeitig diese vervielfachte mediale Brennglasspiegelung als Videoprojektion anschauen, deren Entstehung nachverfolgen und die Szene auch noch völlig unvermittelt, live und körperlich miterleben.

Barbie und Ken überleben

Eine logistische Herausforderung, die gelingt, weil das Saarbrücker Ensemble konzentriert nicht nur von Rolle zu Rolle wechselt, sondern auch Kameras bedienen und Miniaturkulissen schieben kann. "Vorsicht, Kamera!", ruft einer der Darsteller zwei zu spät kommenden Zuschauern entgegen. Dabei ist das Inszenierungsteam schon aufmerksam genug: So gut wie jeder Handgriff dieser multimedialen Choreographie sitzt.

Natürlich ist das alles keine ästhetische Neuerfindung, aber Klaus Gehre gehört (wie Kay Voges, an dessen Dortmunder Schauspiel er auch inszeniert) zu denen, die virtuos mit den Mitteln zu jonglieren verstehen, die der Bühne heute zur Verfügung stehen, wenn sie sich nur traut. Das schließt durchaus die Möglichkeit ein, ältere Theaterformen zu reaktivieren: In "Der Blade Runner" kreischt und schnattert zwischenzeitlich eine Gruppe von Barbie- und Ken-Figuren, vom Ensemble geführt an Stöcken wie auf frühen Puppenbühnen. Nur sie werden in dieser Inszenierung überleben – weil sie Erinnerungen sind an das, was war oder was hätte sein können.

 

Der Blade Runner
Live-Film von Klaus Gehre nach Phillip K. Dick und Ridley Scott

Regie und Bühne: Klaus Gehre, Kostüme: Freya John, Musik und Sounds: Michael Lohmann, Licht: Christian Zimmermann, Dramaturgie: Ursula Thinnes.
Mit: Andreas Anke, Marcel Bausch, Gabriela Krestan, Robert Prinzler, Nina Schopka.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-saarbruecken.de
www.sparte4.de

 

 
Kritikenrundschau

"Ein berührender, zugleich hoch komischer Theaterabend" ist dies für Tobias Kessler von der Saarbrücker Zeitung (30.3.2015). Das Stück schaffe sich "konsequent seine eigene Welt; war die des Films millionenschwer getrickst, setzt Gehre ironisch auf rudimentärste Mittel". Sein Abend werde "ein Fest für die Darsteller, die zum Teil mehrere Rollen spielen und nebenher als Bühnentechniker arbeiten, mit den Kameras hantieren, mit Spielzeugautos, und technische Geräusche imitieren, ob Aufzugtüren oder zoomende Kameras. Auch so heben sich die Grenzen auf zwischen dem Technischen und dem Menschlichen."

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