Calypso –Jürgen Gosch bringt Schimmelpfennigs neues Stück zur überdrehten Uraufführung
Seht her: der Homo sapiens!
von Susann Oberacker
Hamburg 28. Februar 2008. "Ooar, was für eine Scheiße!" Dies ist einer der ersten Sätze in Roland Schimmelpfennigs Stück "Calypso", einer Auftragsarbeit für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg. Es wurde ebenda uraufgeführt – in der Inszenierung von Jürgen Gosch. Marion Breckwoldt hat die Ehre, so tief in den deutschen Sprachschatz greifen zu dürfen. Sie tut dies mit Hingabe. Und hat im Grunde auch Recht: Das Leben des Menschen hienieden kann manchmal ganz schön beschissen sein.
Für die sechs Schimmelpfennig-Figuren heißt das im Stück: Schiffbruch. Für die Gosch-Schauspieler auf der Bühne heißt das: baden. Mit Anlauf hüpfen sie in das Becken, das den hinteren Teil der Spielfläche überflutet. Prustend planschen sie darin herum, laut stöhnend robben sie an Land – gerade noch so dem fast schon sicheren Tod entronnen. Oder vielleicht auch nicht – doch dazu später. Jedenfalls sind alle pitschnass, aber quietschvergnügt wie nach einem Badeausflug.
Hier blitzt ein Busen, dort ein Hintern
Jürgen Gosch dreht von Anfang an die Schraube einen Tick weiter als "normal". Es ist zu nass und zu laut. Die Menschen sind nicht aufgedreht, sondern überdreht. Die Situation ist nicht witzig, sondern aberwitzig. Und wenn getrunken wird, sind die Gläser nicht nur nie leer, wie es der Autor fordert, sondern immer voll – natürlich nur, um rasch geleert und wieder gefüllt zu werden.
Doch vor dem großen Saufen heißt es für die Personage zunächst: ausziehen. Runter mit den nassen Klamotten und rein ins flauschig-weiße Frottee. Bademäntel sind aus. Also muss man sich mit großen und kleinen Handtüchern begnügen, die mehr oder weniger ver- und enthüllen, was Gott geschaffen hat. Es rutscht mal hier und mal da, mal blitzt hier ein blanker Busen, mal dort ein rosiger Hintern. Das ist ganz heiter für die Zuschauer – und doch erst der Anfang der Geschichte.
Jenseits des Styx
Die sechs Figuren, die Schimmelpfennig ins Rennen um die rutschenden Frottee-Tücher und die menschliche Haltung schickt, sind angesehene Exemplare der Gesellschaft: die Maklerin Marion (Marion Breckwoldt), die gleichzeitig als Gastgeberin fungiert, ihr Lebensgefährte Gunter (Markus John) und ihr Sohn Christian (Sören Wunderlich) aus erster Ehe. Dazu die Gäste: Arzt Erich (Klaus Rodewald), seine Frau, die Ärztin Susanne (Ute Hannig), und beider Tochter Tanja (Marie Leuenberger). Als stummer Siebter tritt Christians verstorbener Vater (Michael Prelle) auf. Ein stiller Gruß aus dem Totenreich, der zeigt: Im Jenseits wird auch nur Wein getrunken.
Gemeinsam hat man eine Bootsfahrt mit der "Calypso" unternommen. Das Holzschiff schlug Leck und versank. Nun sitzt man auf dem Trockenen – und auch wieder nicht, denn der Alkohol fließt in Strömen. Die Schiffbrüchigen hat es auf einen Steg an der Bühnenrampe verschlagen. Hier haben sie offenbar Zugriff auf flaschenweise Wein und stapelweise Handtücher. Doch darüber hinaus scheint man irgendwie vom Leben abgeschnitten zu sein. Diese Ungenauigkeit des Ortes gibt dem Stück eine zweite Ebene. Dramaturg Michael Propfe formuliert es im Programmheft so: "Haben die Schiffbrüchigen nicht soeben den Styx überquert, den antiken Totenfluss?" Demnach wären Schimmelpfennigs Figuren nicht mehr am Leben. Da klingt ein Satz von Gunter wie das Pfeifen im Walde: "Aber wir sind doch da." Wer weiß? Körper und Seele, meint Susanne, trennen sich nicht so leicht.
Der Mensch ist auch nur ein Tier
Äußerst lebendig sind die sechs jedenfalls. Sie saufen, schwatzen, brüllen, tanzen, hüpfen ins Wasser – machen sich nackig und lächerlich. Die Scham ist typisch menschlich und das erste, was der Mensch verliert. Gosch zeigt das ebenso drastisch wie realistisch. Dass sich die da auf der Bühne zum Affen machen, begreift man im Saal rasch. Doch Gosch belässt es nicht dabei. Er dreht die Schraube abermals über. Zweieinviertel Stunden lang lässt er ohne Pause spielen. Und immer wieder friert er Bilder wie Skulpturen ein. Seht her: der Homo sapiens! Selbst in den lächerlichsten Situationen bleibt er, was er ist: ein Mensch. Und der ist schließlich auch nur ein Tier.
Was der Autor Schimmelpfennig in seinem Text andeutet, hat der Regisseur Gosch konsequent ausgeführt. Mit einer Ausstattung (Johannes Schütz), die sich auf das Nötigste beschränkt – auf zigtausend Liter Wasser, viele Handtücher und sechs Stühle. Und mit jederzeit präsenten und ausdrucksstarken Schauspielern – von Marion Breckwoldt über Klaus Rodewald bis Ute Hannig. Schauspieler, die trotz aller komischen Zurschaustellung das rührend Menschliche bewahren.
Calypso (UA)
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Jürgen Gosch, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz. Mit: Marion Breckwoldt, Markus John, Klaus Rodewald, Ute Hannig, Sören Wunderlich, Marie Leuenberger, Michael Prelle.
www.schauspielhaus.de
Mehr Roland Schimmelpfennig in der Regie von Jürgen Gosch gibt's hier.
Kritikenrundschau
"Wenn sich Schauspieler gleich zu Beginn einer Theateraufführung ihrer Hüllen entledigen, befindet man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Inszenierung von Jürgen Gosch", schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (1.3.). Insofern wäre es für ihn nicht nötig gewesen, dass Roland Schimmelpfennig, dessen Stücke seit Jahren von Gosch (ur)aufgeführt würden, diese Situation in sein neuen Drama "Calypso" nun auch noch explizit hineinschreibt. Ohnehin findet Michalzik Inhalt und Sprache von "Calypso" trotz reichlicher Anspielungen auf 2.500 Jahre Menschheitsgeschichte einfach "banal": "Eine Versammlung von Menschen, die so nackt sind, wie die Welt sie ausspuckte, die so besoffen sein können, wie sie wollen, finden nicht zum Sex." Mit diesem Stück sei Schimmelpfennig vom schreibenden Partner Goschs zum "schreibenden Gosch" geworden, "das tut beiden nicht gut". "Die Spannung fehlt, und so verbindet auf der Bühne die beiden nur noch eine erfolgreiche Geschäftsbeziehung."
Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (1.3.) hat in "Calypso" "nur noch langweilige, stumpfsinnige, zutiefst uninteressante Menschen beim Lallen und Prahlen" gesehen. Das "Ärgerliche" daran sei, "dass sie eigentlich in eine Vorabendserie (...) gehören, aber so tun, als seien sie aus einem Stück von Tschechow (...)." Gerade weil das Drama auf Vorbilder wie Walsers "Fliehendes Pferd" und Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" verweise, wirke es "selbst in der Leichtgewicht-Kategorie des Mittelstands-Boulevards schal und möchtegern-groß". Dass Gosch diese Szenen "zelebriere", statt sie als "böses Fast Food-Theater zum schnellen, fettigen Fraß vorzuwerfen", mache die Sache nicht besser. Auch schauspielerisch bleibe die Inszenierung "hinter den Möglichkeiten (und Erwartungen)" zurück: "Standbilder einer hohlen Gesellschaft, der es um nichts als sich selbst geht."
Die Neue Zürcher Zeitung (1.3.) schließt sich dieser Tendenz an. Barbara Villiger Heilig fragt angesichts all der gelehrten Bezüge, mit denen Schimmelpfennig sein Stück über Trinken und Ertrinken durchtränkt hat: "Muss man aber gleich die gesamte abendländische Kultur bemühen, bloss weil ein Schiffchen unterging?" Damit werde natürlich Shakespeares "Sturm" zitiert. Aber während dort im Bruderzwiste Zivilisation und Wildnis aufeinander prallten, ginge es hier bloß um "Bildungsbürger, die ihre wohlerzogene Gehemmtheit vertauschen mit alkoholisierter Enthemmung". Jürgen Gosch "modelliere" dies "mit Ernst und Engagement". "Allerdings reizt sich der Trick, den er anwendet, bald aus. Immer wieder lässt Gosch das Ensemble zur Skulpturengruppe gerinnen (...) und naturgemäss sprechen derart stumm fixierte Posen Bände über unausgesprochene Residuen im Untergrund der Beziehungen. Allein, es hilft nichts. Stille Wasser mögen tief sein; dieses feuchtfröhliche Seeufer bleibt definitiv seicht."
Stück und Inszenierung wie gewohnt fein säuberlich auseinander dividierend, präsentiert die Frankfurter Allgemeine (1.3.) einige der ausgezirkelten Gerhard Stadelmaier'schen Dichotomien: "Wo bei Schimmelpfennig der Rausch der Zustand der Abgrundträumer ist, ist er hier [bei Gosch] der Zustand der Abgrundspießer. Bei Schimmelpfennnig: beinah Ertrunkene. Hier: ekle Abgesoffene." Wo die "sechs Leutchen ... bei Schimmelpfennig auf der Kippe zu Pein und Scham einer Not gehorchen und ihre äußere Entblößung mit einer inneren sozusagen büßend abfeiern, da legen sie hier frontal demonstrativ locker die Klamotten ab." Wo Schimmelpfennig die Figuren nach Leben suchen lasse, "da plumpsen in Hamburg sechs sehr derbe, sehr laute, sehr aufgedrehte Schauspieler mit breitem Gesäß und baumelndem Allerlei plautzend in die Rollen."
Die Lokalkritik stimmt nur teilweise zu: "Da er sich nicht als Boulevard-Schreiber outen möchte, versucht er dem Banalpalaver nach der Holzboot-Panne philosophischen Tiefgang zu verpassen", schreibt Klaus Witzeling im Hamburger Abendblatt (1.3.) über Roland Schimmelpfennig. Aber der Regisseur und das Ensemble hätten durchaus das Beste daraus gemacht: "Ein doppelbödiges Spiel um die nackte Existenz im Angesicht des Todes, versucht Gosch auf seichten Gewässern in Fahrt zu bringen und landet zielsicher in der Farce am Abgrund zum Klamauk. Den totalen Absturz verhindern die Darsteller, die im Saunadampf-Geplauder den Figuren einige Konturen abgewinnen."
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Der Text von Schimmelpfennig scheint vom anfänglichen Geplänkel gegen Ende (von den betrunken-spielenden Schauspielern) plötzlich existenziell werden zu wollen - was in meinen Augen absolut scheiterte. Wer möchte Betrunkenen beim philosophieren zuschauen? Es gab keinen Höhepunkt, ferner stand insgesamt für meine Begriffe nichts auf dem Spiel.
Was für eine Zeit-, aber mehr noch: Was für eine Wasserverschwendung!
Das Figurenpersonal lässt doch in dieser Kritik auf Handlungen, die textkonstituierend sind, schliessen.
Wenn sie bloße Inhaltsangaben möchten, müssen sie sich gedulden. Vielleicht taucht diese in einem Schauspielführer der nahen Zukunft auf, biographische Eckdaten hingegen ganz sicher.