Das Drollige und das Höhere

von Ralf-Carl Langhals

Heidelberg, 29. März 2015. "Mit 476 Mark in der Tinte sitzen", ach das wäre schön, mag man da, das Drama verkennend, mit Blick auf heutige Kontoauszüge denken. 1911, im Uraufführungsjahr von Carl Sternheims fünfaktiger Komödie war das eine Menge Geld. Auch für Oberlehrer Heinrich Krull (Michael Kamp), der per anno 5.000 verdient, aber eine Tochter aus erster Ehe unterhalten, ein Hausmädchen (Magdalena Neuhaus) und vor allem eine kostspielige junge Frau (Nannette Waidmann) sowie einen aufwendigen Lebensstil finanzieren muss. Bei Tante Elsbeth (mit dem Zorn der Gerechten: Christina Rubruck) steht er in der Kreide – und die sitzt fest und fordernd auf dem Geld wie auf dem titelgebenden Objekt der Begierde: "Die Kassette", voll mit lukrativen Wertpapieren, die eine rosige Zukunft sichern zu scheinen, falls er sie beerbt ...

Damit wäre der Plot eigentlich erzählt, und die Komödienmaschine könnte, wenn auch ein wenig altertümelnd, vor sich hin schnurren, stünde der "Kassette" nicht – groß wie ein Container – eine Kiste mit Theaterwissen und -wissenschaft, mit Anekdoten und Bezügen gegenüber, die es in sie hineinzupacken gilt, hat man sich einmal entschieden, dieses Stück aus Sternheims elfteiligem Zyklus "Aus dem bürgerlichen Heldenleben" auf den Spielplan und die Bühne zu bringen. Wie es Heidelbergs Intendant Holger Schultze und Regisseur Milan Peschel nun mal getan haben.

Urgroßvaters Stummfilmkino

Machen wir einen Zettelkasten: Ein Bankierssohn, der gnadenloser Analytiker des Bürgertums war, ein Autor, der sich selbst als "Arzt am Leibe seiner Zeit" bezeichnete, ein Horoskop-gläubiger Grandseigneur, dessen Werke als zeitlose Kapitalismus-Satiren gelten. Das Stück wird als expressionistisches Pendant zu Molières "Der Geizige" gehandelt, ist umrankt von Aufführungsskandalen ... Da kommt einiges zusammen. Nicht dass, dies bei anderen Werken nicht der Fall wäre, doch Peschel scheint der Meinung zu sein, das Stück sei ohne diese Hintergrundausleuchtung nicht zu zeigen.

Kassette2 560 Annemone Taake u Im Kabinett des Doktor Sternheim © Annemone Taake
Also flimmert Urgroßvaters Stummfilmkino (auch in Maske und Kostüm) zwischen "Väter der Klamotte" und den sich am cineastischen Horizont bereits abzeichnenden Kabinetten der Doktores Caligari und Mabuse effektvoll über den buchstäblichen Bühnenbauplan von Nicole Timm. Das ist – projiziert auf den gründerzeitlichen Architekturquerschnitt – hübsch anzusehen, vor allem bei Dominik Lindhorst, der als Schwiegersohn in spe Alfons Seidenschnur zu komödiantischer Hochform aufläuft. Lisa Förster, die als Lydia das Objekt seiner nur temporären Begierde spielt, tut sich da schon merklich schwerer. Statt "Tür-auf-Tür zu" regiert hier das ebenso erfolgreiche Komödienprinzip "Treppauf-treppab", die leicht korrumpierbare Entscheidung "Geld oder Liebe?" wird per überstrapaziertem Video-Dreh im Treppenhaus getroffen.

Was zur Erlösung fehlt

Das Drollige und das Höhere der Kunst verquickt Milan Peschel mit einem Griff in die Theaterkiste: Er stellt Roland Bayer als jovial versponnenen Autor Sternheim auf die Bühne, der auch in die eingestrichenen Nebenrollen des Notars oder Arztes schlüpft, hie und da mal eine Frage seiner Figuren beantwortet oder aus der Proszeniumsloge ergeben Albert Bassermann, dem Krull-Darsteller der Uraufführung, huldigt. Bayer spricht Sternheim-Texte, singt, begleitet vom diskreten Kino-Pianisten Daniel Regenberg, schräg-versonnen (und somit perfide romantisch bildungsbürgerlich) Eichendorffs "Mondnacht" und gibt dem Abend eine tragikomische Note, die Peschel wohl beabsichtigte, um die Macht des Geldes und dessen Sieg über die Erotik historisch informiert abzubilden. Da wird expressionistisch gefilmt, sich ausdruckstänzerisch geräkelt, wilhelminisch-piefig vom Rheine geschwärmt, an dessen Ufern bekanntlich längst "die Wacht" besungen wurde und in der durchinszenierten Applausordnung die endlich aufkommende Fröhlichkeit mit Schlachtbildern des Ersten Weltkriegs zerschmettert.

Milan Peschel hat sich viel gedacht, ideenreich und ambitioniert gearbeitet: "Es ist immer nur ein wenig, was der Welt zur Erlösung fehlt", schrieb Carl Sternheim. Peschels respektablem Versuch, ein Stück als Stück Zeitgeschichte über die Rampe zu bringen, geht es ähnlich. Gut eine halbe Stunde Überlänge hat die Fleißarbeit, verliert sich immer wieder in ästhetizistischer Übererfüllung, ist zu verliebt ins eigene Kolorit und weiß nicht wirklich, wie sie die Moll-Botschaft in ein formales Dur bringen soll. Hör- und sehbares Zeichen hierfür sind Fluchten in diffus überstrapazierten Klamauk und eher anerkennendes denn amüsiertes Lachen. Bei aller Entschlusskraft für einen theaterhistorischen Stoff: Das Drollige und das Höhere wollen an diesem Abend nicht wirklich gemeinsam Kunst werden. Nichts ist in deutschen Universitätsstädten eben so schwierig wie Komödie ...

 

Die Kassette
von Carl Sternheim
Regie: Milan Peschel, Bühne und Kostüme: Nicole Timm, Musik: Daniel Regenberg, Licht: Günter Zaworka, Dramaturgie: Jürgen Popig.
Mit: Roland Bayer, Lisa Förster, Magdalena Neuhaus, Michael Kamp, Dominik Lindhorst, Christina Rubruck und Nanette Waidmann.
Dauer: 2 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

 

Kritikenrundschau

In der Rhein-Neckar-Zeitung (31.3.2015) schreibt der begeisterte Volker Oesterreich, Peschel verleugne nicht seine Volksbühnen-Herkunft. Dort habe Peschel "gelernt, wie hintergründig und kunstvoll gestolpert und chargiert werden kann. Bei 'Pension Schöller' geklaut, ist halb gewonnen." Doch das Ensemble siege auf ganzer Linie. Die Inszenierung verbinde gelungen Entertainment mit subversiver Zeitkritik. Peschel setze sich über einiges aus dem Stück hinweg und flichte "munter ein paar theaterhistorische Szenen über die Uraufführung" ein "oder Spitzen gegen den Geiz" an den Stadttheatern. "Fazit: Nun muss der Intendant seine Kassette öffnen – zwecks Gagenerhöhung für diese tolle Truppe."

Auf Echo Online (31.3.2015) schreibt Johannes Breckner, Peschel bringe das Stück "mit so vielen Anspielungen und ironischen Brechungen auf die Heidelberger Bühne, dass die angestrengte Sinnsuche irgendwann erlahmt. In gleichem Maße aber wächst der Spaß, und das ist bei dem hohen Tempo, das die Inszenierung von Anfang an anschlägt, ein kleines Wunder." "Bei allem Krawall, den seine Inszenierung bisweilen produziert, gelingt Milan Peschel hier eine scharfe Studie über die Ökonomisierung der menschlichen Beziehungen."

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