Kommentar - Rostock entlässt seinen unbequemen Volkstheater-Intendanten Sewan Latchinian
Mangelnde Linientreue
von Georg Kasch
31. März 2015. Vorgestern erreichte die interessierte Öffentlichkeit die Meldung, dass der Opernintendant von Nowosibirsk mit sofortiger Wirkung freigestellt wurde – wegen einer Inszenierung, die ein ranghoher Kirchenvertreter als blasphemisch bewertete. Reflexartig kam da der Gedanke: Klar, Russland, geradewegs auf dem Weg in den Neo-Stalinismus. Aber in Deutschland?
Meldung ein, dass Sewan Latchinian, Intendant des Rostocker Volkstheaters, fristlos entlassen wurde. Wegen eines Vergleichs, in dem immerhin keine Nazis vorkamen (dafür die Kulturerbezertrümmerer des Islamischen Staats). Und wegen eines Interviews, in dem er eine Doppelstrategie gegenüber den Kürzungsplänen von Stadt und Land an seinem Haus durchblicken ließ: So viel Kooperation wie nötig, so viel, sagen wir: Gegenüberzeugungsarbeit (oder aber: Sabotage durch gründliche Arbeit) wie möglich. Über beides kann man sich ärgern, beides kann man ungeschickt und geschmacklos finden. Daraus aber einen Kündigungsgrund zu basteln und sich auf den Charakter des Intendanten-Vertrags zu berufen, wie Rostocks Oberbürgermeister Roland Methling das tut, ist gewagt – und mutwillig.
An diesem Dienstagabend trifft dieDer Totalschaden ist längst da
Wo genau liegt jetzt der Unterschied zwischen Russland und Rostock? Im Mäntelchen des Bürgerschafts-Hauptausschuss-Beschlusses? In der Begründung? In der Stoßrichtung? Schließlich musste das russische Kulturministerium erst zum Jagen getragen werden, während Methling da offensichtlich höchstpersönlich sein Mütchen zu kühlen sucht. Beide Fälle, der von Nowosibirsk und der von Rostock, erinnern an eine Zeit, als der östliche Teil Deutschlands und Russland, also die DDR und die UdSSR, sich noch Bruderstaaten nannten. Methling kennt die Zeit, er hat damals in Rostock studiert, in verschiedenen Positionen im Überseehafen gearbeitet, war SED-Mitglied. Damals war es nicht unüblich, mangelnde Linientreue mit akutem Liebesentzug zu bestrafen, mit Versetzung in die Provinz (Frank Castorf kann da Geschichten erzählen) oder mit spontanen Jobwechseln. Heute, im real existierenden Kapitalismus, muss man sich nicht mal mehr über die "Anschlussverwendung" der Theaterleiter Gedanken machen.
Ob Methling mit der Begründung seiner fristlosen Kündigung juristisch im Recht ist, werden vermutlich die Gerichte entscheiden. Wie auch immer das ausgeht – der Totalschaden ist längst da. Wer soll denn jetzt noch die Scherben auffegen? Wer immer sich bewirbt, weiß, dass er oder sie hart gegen das Image des Leichenfledderers ankämpfen muss – in einer Stadt wie Rostock, an einem Theater, von dem sich die Bürger über Jahre abgewendet haben und wo Latchinians Wiederaufbauarbeit dringend notwendig gewesen wäre (so etwas braucht keine sieben Monate, sondern Jahre!). Erfolg erscheint da vorerst als nahezu unmöglich.
Zumal Wuppertal es vorgemacht hat: Auch dort fanden sich Bewerber*innen um die Nachfolge Christian von Treskows bei nochmals reduzierten Mitteln. Heute spricht niemand mehr von einem ernstzunehmenden Haus. Vor allem aber müssen sich alle zukünftigen Bewerber darauf einstellen, mit einem, sagen wir: eigenwilligen, aber machtbewussten Stadt-Chef zusammenarbeiten zu müssen. Rückgrat dürfte da eher nicht zu den Einstellungskriterien gehören. Aber auch das hatten wir ja schon mal.
Hier ein Interview mit Sewan Latchinian über seine fristlose Entlassung vom 1. April 2015.
Die Chronik zum Fall des Rostocker Volkstheaters unter Sewan Latchinian: alle Meldungen und Debattenbeiträge.
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Für die Entlassung stimmten Oberbürgermeister Roland Methling (UFR), Steffen Wandschneider, Cathleen Kiefert-Demuth (beide SPD), Berthold
Majerus, Daniel Peters (beide CDU) und Jan Hendrik Hammer (UFR/FDP).
Gegen die Entlassung stimmten Eva-Maria Kröger, Karsten Steffen, Margit
Glasow (alle Linke), Simone Briese-Finke (Bündnis 90/Grüne) und Sybille
Bachmann (Rostocker Bund).
Warum das Interesse der Rostocker an ihrem Theater nachgelassen hat, würde sehr weit gehen, letztlich ist es aber so, dass ein dezentral liegendes, wenig attraktives Haus, extremst zusammengestrichenen Mitteln, die wenig für Marketing lassen kombiniert mit permanentem Schlechtgerede und einem konsequenten Kampf des OB gegen Theater auch schon begonnen hatte, die Mitarbeiter zu zermürben.
Latchinians Zahlen sind positiv, sowohl im Zuschauertrend als auch im Umsatz (es wird nur aktuell noch immer vom Beginn Sept-Anfang Dez gefaselt), er polarisiert und ist zu einem "Gesicht der Stadt" geworden. 85% Auslastung und ein Jahresplus von voraussichtlich 800.000EUR. Diesem Trend und dem sich daraus möglicherweise entwickelndem Anspruch Rostocks auf die Fortführung des 4-Sparten-Hauses musste aus Sicht des OB unbedingt ein Riegel vorgeschoben werden.
Das Volkstheater Rostock liegt mitnichten dezentral, wie von Ihnen behauptet. Es befindet sich mitten in der Stadt und ist zu jeder Zeit gut zu erreichen. Außerdem ist es durch gerade erst ausgebaute Verkehrsverbindungen in kurzer Zeit mit dem Schnellzug aus Berlin und Hamburg zu erreichen. Wozu ein Theater Geld für Marketingmaßnahmen braucht, erschließt sich mir aus Ihrem Kommentar nicht. Dass das Volkstheater unter Latchinian/Rosinski in einem erheblichen Maß Geld für derartige Maßnahmen ausgegeben hat, hat nicht nur in Rostock jeder sehen können. Weder die Publikumszahlen, noch die Anteilnahme der Bevölkerung an den Kürzungsmaßnahmen, belegen die Wirksamkeit dieser Maßnahmen. So wurde erheblich mehr Geld für Werbung und Produktgestaltung ausgegeben, als für die Einladung von Künstlern. Der Gästeetat ist zugunsten des Marketings zusammengestrichen worden. Es gibt am Volkstheater kaum Identifikationsfiguren, seien es Schauspieler, Tänzer, Musiker oder Dramatiker. Das Haus möchte glamourös wirken, macht sich bei jeder Gelegenheit größer als es ist. Tatsächlich ist es ein einigermaßen trockenes Arbeiter- und Bauertheater. Was vor allem den Leuten aus dem Theater selbst zuzuschreiben ist.
Mit dem Abschöpfen von Fördergeldern/Drittmitteln/EU-Subventionen zur kosmetischen Aufbereitung und seinem autokratisch-manipulativen Gebahren hat OB Roland Methling das erfolgreiche Procedere zu einer soziografischen Verrohung und Gleichgültigkeit bravourös eingeleitet. Kulturschaffende am VTR können schon längst mehr humanistische Alternativen darstellen und repräsentieren, weil die Selbstbehinderungen und Selbstzerfleischungen hinter den Kulissen auch beträchtliche Energien aufzehrten. Rostock hat also derzeit die besten Aussichten als bester Schauplatz für ein Tatort-Horrorszenario. Auf die nächsten Aussteiger dieser "Reise nach Jerusalem" darf man gespannt sein. Stefan Rosinski, dessen Medienpräsenz in den letzen Monaten bedenkenswert gering war, wird schon an den sachgemäßß konsequenten Strippen gezogen haben...
Die Auseinandersetzungen zwischen Schwerin, Rathaus und Theater verliefen überwiegend kulturlos und erinnerten bisweilen eher an einen Handel in den Straßen Marrakeschs. In Rostock müssen OB und Bürgerschaft einen Latchinian aushalten, wenn es die Belegschaft des Theaters tut. Er hat Stadt, Land und überregionale Medien daran erinnert, dass das Volkstheater aus mehr als Philharmonischen Konzerten besteht und dass sich Kunst über Inhalt und weniger über die Spielstätte definiert. Junge Pflanzen sind besonders empfindlich und deshalb ist es unfair, einem, den man geholt hat, um ihn den Karren zusammen mit vier Sparten bergauf ziehen zu lassen, auch noch Steine in den Weg rollt und die Hälfte der Gäule ausspannt. Bei allen Haushaltszwängen hätten endgültige Strukturentscheidungen wohl auch noch nach einer Karenzzeit von ein, zwei Jahren getroffen werden können. Den Rostockern rufe ich zu: „Kriegt eure Ärsche hoch, verlasst wenigstens einmal im Monat eure Stuben und probiert Kultur!“ Kultur kommt (sprachlich) von Pflege. Pflege ist Hoffnung und die stirbt bekanntermaßen immer erst zum Schluss. Hoffentlich auch in dieser Provinzposse.
Die Linke ist in Rostock stärkste Kraft in Rostock.
Koalitionen gibt es nicht.
Somit auch keine Opposition.
Rostocker Politik folgt wechselnden Mehrheiten.
Entsprechen die nicht dem Gusto des OB, schreitet die Krone ein.
Das ist der Stand.
Am 13. April kann sich jeder (na ja, so viele Gäste passen nicht rein...) in öffentlicher Sitzung (größter Teil) davon überzeugen.
Gute Nacht.
Helge Bothur, Mitglied der Rostocker Bürgerschaft, Die Linke
haben Sie auf nachtkritik.de inzwischen eine Zweigstelle der Rostocker LINKEN-Homepage eröffnet? Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie auskunftsfreudig, um nicht zu sagen redselig die lokale Kulturpolitik wird, wenn Sie ausnahmsweise einmal (anscheinend zumindest) die Sache der Kultur vertritt. Aus den Sümpfen Ihrer Leipziger Genossen hört man seit Jahren nichts, erst recht nicht auf Anfrage. Da wird genau die "Krone"-Kulturpolitik betrieben, die Sie hier so selbstbeweihräuchernd an den Pranger stellen. Jeder Fahne ihr eigener Wind. Wie Sie sagen: Gute Nacht.
Nö. Ich mache hier, was andere auch machen.
Das tue ich nicht ausnahmsweise. Allerdings meine ich, das Thema könnte wichtig sein. Sagen Sie, wenn Sie denken, das ist falsch.
Die Leipziger Linken betreffend, hilft es Ihnen auch nicht, doof zu finden, dass ausgerechnet ich mich äußere. Schade ist es trotzdem, wenn die Leipziger Sie enttäuschen. Ich werde mich informieren, was und warum sie Das tun. Was meinten Sie konkret, was Sie an den Leipzigern enttäuscht? Und wenn Sie meinen, für jemanden oder eine Sache oder Überzeugung konsequent einzutreten, sei gleichsam "selbstbeweihräuchernd", dann muss es hier im Forum gar garstig neblig sein und nach Weihrauch duften. Nichtsdestodennoch haben Sie natürlich recht, mit der Fahnenmetapher. Was uns Rostocker angeht, kann ich Sie beruhigen, da hängt kein roter Lappen im Wind. Wir segeln momentan, unser Theater und unseren Intendanten betreffend, in stürmischer See.
Könnte das überzeugender als der tanzende Wimpel sein?
Sollte Sie einfach nur sehr geehrt anstinken, dass ich ein Linker bin, dann ist es einfach. Dann stinkt es Sie an.
Und nur Sie können das ändern.
Ahoi. Helge Bothur
Vielleicht nehmen Sie via Redaktion Kontakt zu mir auf, oder über die Rostocker Linken. Vielleicht klappt es dann auch mit den Leipzigern. Was meinen Sie?