Das Leben ist woanders

von Petr Manteuffel

Kassel, 10. April 2015. Mit seinem Welterfolg "Verbrennungen", das die schickalshaften Verstrickungen der Beteiligten und Nachgeborenen des libanesischen Bürgerkrieges thematisiert, hat Wajdi Mouawad 2003 ein posttraumatisches Passionsspiel und Reinigungsritual geschaffen, das man am explosivsten in einer nahöstlichen Gemeinde unter Beteiligung der gesamten Anwohnerschaft aufführen müsste. Eine Brücke zum griechischen Drama schlagend, pfropfte er dem Stück freilich im letzten Drittel die Ödipus-Thematik auf, was die Wirkung eher schwächt; der Nahe Osten hat auch ohne Ödipus Probleme genug. Nun hat sich das Kasseler Staatstheater als erstes im deutschsprachigen Raum Mouawads Erstlings "Hochzeit bei Cromagnons" aus dem Jahre 1992 angenommen.

Der Fünfakter mit dem Zeug zum langen Einakter beginnt als Widerhall der Texte Becketts:
NAZHA (die Mutter): Das fängt doch nicht so an!
NEEL (der jüngere Sohn): Es wird immer so anfangen! ,
und setzt sich im Duktus ionescoischer Wiederholungen und sprachlicher Permutationen fort.
Wir befinden uns in einem nahöstlichen Bürgerkrieg. Der Spielort ist eine fensterlose Hausruine. Daniel Roskamp hat dafür im tif, der Studiobühne der Kasseler Staatstheaters, einen zerbeulten blechernen Kasten gebaut, mit einem verhängten Durchbruch zum Bad und den anderen Zimmern hin.

Archaische Schemen

Die Bewohner, Vater Néyif (Uwe Steinbruch), der rebellierende jüngere Sohn Neel (Christoph Förster) und die aufgedrehte Mutter Nazha (Anke Stedingk), tragen Rasta-Frisuren, löchrige Strumpfhosen und Unterwäsche und bewegen sich eingangs tatsächlich wie Urmenschen im Käfig, besonders die Mutter, die sich eines Schienbeinknochens als Kochlöffel und Zepter bedient. Inmitten der näher kommenden Einschüsse und Explosionen versucht die Familie, wenigstens für die an Schlafkrankheit leidende Tochter das richtige Leben im falschen zu inszenieren, eine Hochzeit wird für sie ausgerichtet, Kartoffeln werden geschält, ein Hammel geschlachtet und endlos gehäutet und gebraten.

Cromagnons 3 560 N Klinger uUrmenschen feiern die "Hochzeit bei den Cromagnons" © N. Klinger

Der Regisseur Gustav Rueb akzentuiert eher als den Dialog die gargantueske Aktion und die Ausbrüche des Trios, die den Krieg mehr duplizieren, als dass sie eine Gegenbehauptung aufstellen würden – eine dahingehende Möglichkeit deutet sich lediglich bei Eva-Maria Keller an in Gestalt der einfachen Araberin Souhayla von nebenan. Endlich erscheint nach zwei Akten gedehnter Exposition die (bis dahin nur als Lautsprecherstimme aus den Hinterräumen zu hörende) Tochter Nelly in weißer Hochzeitsunterwäsche. Sabrina Ceesay verleiht ihr im Zwiegespräch mit ihrem Bruder Neel eine wohltuend somnambule Graziosität an der Grenze zum Traum.

Als sich das Quartett später in Erwartung des Bräutigams um die gedeckte Hochzeitstafel niederlässt, beginnt sich in deren kleinen Verlegenheitsgesten, dem mit Befürchtungen gemischten Hoffnungsschimmer in den Blicken, dem Ungenügen an sich selbst, die Geschichte von sich aus zu erzählen. Bevor sie sich im Tosen und im Derwisch-Tanz des heimgekehrten Sohnes Walter mit zwei Revolvern in den Händen ihrem Ausgang entgegen hinaufschraubt.

Absurdität des Kriegs

Vorbei sind die Zeiten, da das Spanien Arrabals die Szenerie von hinreichender Exotik und Brutalität geliefert hat, heutzutage ist es egal, ob man sich in Spanien, Irland oder Ungarn aufhält. Go East! Wieviel Anteil ist nun an Mouawads Erstling absurdes Theater, und wieviel die Absurdität des Kriegs, die keiner Stilisierung bedarf? Im Verlauf des Textes nimmt sie jedenfalls an Gewicht zu. Ihre Stärke ist die Wahrhaftigkeit, ihre dramaturgische Schwäche die Vordergründigkeit. Was wären die zu rettenden Ingredienzien des absurden Theaters gewesen?

Sicherlich gehören Musikalität und das Komödiantische dazu. Tja, eigentlich sind dies die Charakteristika des Theaters überhaupt, oder? Und ein wesentlicher Beitrag des absurden Theaters liegt darin, sie in kristalliner Form herausgeschält zu haben. Die Kasseler Inszenierung ist zu lärmig, als dass sie musikalisch wäre, und macht zuviel Druck, um wirklich komisch zu sein. Ob es sich bei den "Cromagnons" um einen Fund handelt oder um eine jugendliche Fingerübung, vermag man nach dieser Aufführung nicht zu entscheiden. Der Text würde hierzulande eine zweite Chance verdienen.

Hochzeit bei den Cromagnons
von Wajdi Mouawad
Regie: Gustav Rueb, Bühne und Kostüme: Daniel Roskamp
Musik: Eric Schaefer, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen.
Mit: Uwe Steinbruch, Anke Stedingk, Sabrina Ceesay, Artur Spannagel, Christoph Förster, Eva-Maria Keller, Dieter Bach.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 

 

Kritikenrundschau

Das Debüt Wajdi Mouawads schwanke "zwischen grotesken und stillen Momenten, in denen das Grauen des Krieges durchbricht", so Stefan Keim in seinem Beitrag für "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (10.4.2015). Beim Lesen wirke die Komödie "ziemlich disparat, schon die Sprache mischt derben Gossenslang mit poetischen Momenten und bitterer Ironie." Gustav Rueb finde "genau den richtigen Zugriff", indem er das Stück "als grelle Farce im Stil von Jarrys 'König Ubu'" inszeniere. Die Schauspieler ließen hinter der Groteske so viel Menschliches durchscheinen, "dass die emotionalen Augenblicke des Stückes funktionieren." Mouawads Erstling werde so ein ein "kraftvolles, politisch inkorrektes, mit grotesker Komik gegen das Grauen anspielende Theaterstück".

Auf HNA.de, dem Internet-Portal der Hessische/Niedersächsischen Allgemeinen (12.4.2015) schreibt Andreas Gebhardt die "ausgewachsene Farce" bringe zum Lachen und weise das Grauen, das einen bei Besichtigung der Weltlage erfasse, in seine Schranken. Aber das Lachen bleibt im Halse stecken, womit das Grauen triumphiert. Es gebe kein Erbarmen in dieser "Steinzeit-Welt des modernen Krieges", wo "Wahnsinn und Entmenschlichung, Hass und Abstumpfung, Vulgarität und Verzweiflung, Lebenslust und Tod in einer bizarren Hochzeit" kulminierten. "In einer irrsinnigen Welt vernünftig sein zu wollen, ist schon ein Widerspruch in sich", habe bereits Voltaire gewusst und Ruebs Inszenierung von Mouawads Groteske zeige genau das.

Im Göttinger Tageblatt (14.4.2015) schreibt Peter Krüger-Lenz: "Wild ist das Leben im Lager, grausam und brutal, manchmal schreikomisch, lüstern und hier und da sogar fast schon charmant. Genau so hat Rueb das Stück inszeniert." 90 sehr anstrengende Theaterminuten seien zusammengekommen, "verschnaufen gilt nicht". Das Ensemble stelle eine große, fast schon bedrohliche Nähe zum Publikum her. "Ihrem Spiel kann man sich nicht entziehen. Ein beängstigend mitreißender Abend voller Gewalt und Komik, den das Publikum ausgiebig feierte. Völlig zu recht."

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