Kampf ums Theater

von Wolfgang Behrens

14. April 2015. Als ich noch ein Zuschauer war, bedeutete das Theater noch etwas. Und weil das Theater noch etwas bedeutete, trieb man auch einigen Aufwand, um hineinzukommen. Oder war es umgekehrt? Weil man einigen Aufwand trieb, um ins Theater hineinzukommen, bedeutete es damals noch etwas?

kolumne wolfgangHeute jedenfalls treibt man keinen Aufwand mehr. Man setzt sich vor einen Bildschirm, klickt auf Icons herum, die einen Einkaufswagen darstellen, und druckt am Ende – Gipfel der Geheimnislosigkeit! – seine Eintrittskarte selbst aus. Die größte Herausforderung besteht noch darin, eine 16-stellige Kreditkartennummer korrekt abzutippen. Und wenn es ganz hart kommt, dann trifft man – wie etwa vor drei Tagen wieder beim Vorverkauf für das Berliner Theatertreffen – auf ein von Eventim betriebenes Buchungssystem, das in der Regel überlastet ist, weshalb man während des Einkaufs getrost einen Tee aufgießen, ein Stündchen die Beine hochlegen und einen Kurzkrimi von Georges Simenon lesen kann. Bequemer geht's eigentlich nicht!

Ja, worauf warten sie eigentlich noch?

Was die Theater natürlich verkennen: Was derart einfach zu bekommen ist, das schätzt man nicht mehr. Warum denn sind die Marathonläufe so gefragt? Doch nicht, weil man die 42,195 km entspannt im Velo-Taxi zurücklegt, sondern weil man sie eigenbeinig läuft und sich hinterher an der eigenen Leistung berauscht. Und gerade so ist's auch im Theater: Wenn ich früher, als ich noch ein Zuschauer war, fünf Stunden am Burgtheater oder an der Wiener Staatsoper um einen Stehplatz angestanden habe (worauf im Zweifel fünf weitere Stunden "Sportstück" oder "Frau ohne Schatten" durchgestanden werden mussten), dann war es im Grunde egal, was da auf der Bühne geboten wurde: Das waren einfach geile Abende!

Wie weit man die Freude am Schlangestehen treiben kann, habe ich einmal in London erlebt, als Jude Law am Young Vic in Christopher Marlowes "Doctor Faustus" spielte. Es gab eine Handvoll Stehplätze, und die Dame am Telefon meinte, man müsse sich etwa um 7 Uhr morgens einfinden, um einen davon zu ergattern. Ich fand mich – oberschlauer und Wien-erprobter Deutscher, der ich nun einmal war – noch vor 6 Uhr ein. Die Schlange allerdings war da schon sehr lang, es waren deutlich mehr Personen da, als es Stehplätze gab. An der Eingangstür zur Kassenhalle klebte von innen ein Zettel: "Wegen einer Erkrankung im Ensemble entfällt die heutige Vorstellung von 'Doctor Faustus'." Einigermaßen konsterniert fragte ich einige der in der Schlange Stehenden, die zum Teil seit dem Vorabend hier ausharrten, worauf sie denn eigentlich noch warteten, wo doch offensichtlich war, dass hier und heute nicht eine Karte unter die Leute kommen würde. "Man kann ja nie wissen, vielleicht wird ja doch irgendetwas verkauft, und wenn wir schon einmal da sind ..." Das nenne ich einen aufopferungsvollen Kampf ums Theater! Dahin müssen wir wieder kommen!

Mit der Stirnlampe auf der Stirn

Vor drei Tagen jedenfalls wollte ich mir meine Vorfreude auf die finale Vorstellung von Frank Castorfs Baal nicht dadurch trüben lassen, dass ich faul am Rechner ein paar virtuelle Operationen durchführte. Nein, ich bin zur Theatertreffen-Kasse gefahren und habe mich wie früher, als ich noch ein Zuschauer war, in die Schlange gestellt. Es war grandios! Ich habe viele alte Bekannte wiedergetroffen, bewährte Schlangensteher, die hier sozusagen schon seit den 90er Jahren oder länger herumlungern. Einer ist eigens aus Leipzig angereist und hat die ganze Nacht, mit einer Stirnlampe sein Buch illuminierend, lesend vorm Haus der Berliner Festspiele verbracht. Eine junge Frau, die erstmals dabei war, äußerte sich restlos begeistert: Fürs Theater interessiere sie sich ja nicht wirklich, meinte sie, aber nächstes Jahr werde sie wieder dabei sein, denn die Schlange sei einfach cool. Na also, das ist doch mal eine zukunftsträchtige Einstellung! Und ich habe, lange nicht mehr so glücklich, um 10 Uhr 10 mit ein paar Theaterkarten in der Tasche den Heimweg angetreten.

 

behrens2 kleinWolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin.
Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 80er und 90er.

 

 

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Kommentare  
Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war: kenn' ich
Ha, den aus Leipzig kenne ich :)!
Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war: Macbeth 2000
Ich stand bei einem "macbeth" 2000 in stratford-upon-avon nach einem ganzen Tag shakespearestätten-Wanderung gute 4 Stunden in der Schlange und kriegt dann ein Standing-Ticket. Unvergessen.
Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war: damals, unter Karajan
Interviewt doch mal die Leute, die da beim tt anstehen. Da gab es vor Jahren so Freaks, die die ganze Nacht über campten und das durchorganisiert hatten. Das wäre spannend. Wohl alte Festwochen-Nostalgie.

Und dann hört man immer wieder "Ach, und damals, unter Karajan ..."

Und auch schön: VVK am BE beginnt immer 8 Uhr (DT: 11 Uhr), sodass man schon richtig früh dran sein muss, wenn man es denn will. Die Kälte, brrr.

Beim Borkman haben wir aber die 12 Stunden lieber drinnen verbracht statt draußen. Und zwar vor der Einladung. Epochal.
Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war: Nummer 109 nach einer Nacht
Stimmt nicht!
Ganz geruhsam habe ich am Samstag nach 10 Minuten und ohne Stress direkt über die Berliner Festspiele die Karten buchen können.
Ich benötige echt nicht mehr diese Mafia, die eine Woche vor dem Kartenvorverkauf Nummern vor dem Haus der Berliner Festspiele verteilte. Als man die ganze Nacht angestanden hat, bekam man Nummer 109 zugeteilt und das reichte für kaum eine Karte. Ich war sooooo sauer. Ausgeschlafen kamen diese Menschen am Morgen und man wurde in eine Reihe eingeteilt. Keine Chance, obwohl man eine Nacht vor dem Haus verbracht hat. Kennen Sie diese Zeiten nicht mehr. Sie waren ekelhaft.
Im letzten Jahr lief es über die Homepage der Berliner Festspiele wirklich nicht glatt. Zwei Stunden bangte man, bekam aber dann doch alle Karten, die man haben wollte. Man hatte versprochen, das es in diesem Jahr besser läuft. Und so ist es wirklich gewesen!
Klar gab es einen Run auf Baal, der nach 10 Minuten ausverkauft war. Das konnte man doch wohl einschätzen und hier zuerst die Karten in den Korb packen.
Ich kann nur sagen, Behrens hat die Mathematik nicht verstanden.
Man kann gern alte Wege gehen. Ich genieße hingegen das Theater und den nächtlichen Schlaf.
Ich freue mich sehr auf Castorf Baal. Der raubt mir dann bestimmt genug Schlaf.
Und ich bin froh, nicht mehr auf die alte Westberliner Mafia stoßen zu müssen.
Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war: eine Gleichung
@Olaf
Sie sagen, ich hätte die Mathematik nicht verstanden. Mag sein. Ihre Mathematik jedenfalls stüzt sich auf einen Einzelfall, was in der Stochastik ein doch sehr fragwürdiges Verfahren ist. Zugegeben, was man so hört, hat es diesmal wohl besser mit dem Eventim-Buchungssystem der Berliner Festspiele geklappt, was man nach mehreren katastrophalen Jahren aber keineswegs im Voraus wissen konnte (wer induktiv geschlossen hätte, hätte auch in diesem Jahr ein Versagen des Systems erwartet). Zudem kenne ich auch aus diesem Jahr einen Fall, der erst nach über einer Stunde ins System kam und eben keine "Baal"-Karten mehr erwerben konnte. Sicher, auch mit diesem Einzelfall kann man noch keine Statistik begründen ...
Aber das ist ja alles gar nicht der Punkt: Die Sehnsucht nach der Schlange hat sicher etwas höchst Nostalgisches, und man muss auch nicht alle mafiösen Auswüchse der Vergangenheit gutheißen. Aber die Schlange hat halt etwas mittlerweile sehr selten Gewordenes gewährleistet, das ich in der (ziemlich unmathematischen) Gleichung zusammenfassen möchte: mehr Einsatz für den Zugang zur Kunst = gesteigertes Kunsterlebnis. Und mit Einsatz meine ich hier nichts Finanzielles.
Kolumne Wolfgang Behrens: mafiöse Zustände
Lieber Herr Behrens,
ich nöchte nicht aufwägen, was Ihnen oder mir besser gefällt. Ich schaue auch nicht zurück, denn da wurde mir aus eigener Erfahrung mehr als übel. Es mag sein, dass sich ein kleiner Teil immer noch gern in die Nacht stellt. Das hatte in den letzten Jahren mit Kunst und Würde rein gar nichts zu tun. Wie gesagt, ich hatte sowohl 2011 und 2012 mit mafiösen Zuständen zu kämpfen. Stand die ganze Nacht an und dann wurde von irgedwelchen Typen Nummern vergeben. Das hatte rein gar nichts mit einem gesteigerten Kulturerlebnis zu tun. Darum bin ich nun froh, dass es in diesem Jahr gut funktioniert hat.
Ich glaube auch nicht, dass mein Fall ein Einzelfall war. Sie kennen auch nur ein Gegenfall.
Sicher hat eine Schlange, die sich bildet und in der man redet, gemeinsam wartet, etwas unwahrscheinlich angenehmes. Doch dann öffnen zwei Kassen (oder drei) und parallel geht der Run im Internet los. Welche Chance hat man da, wenn man nicht zu den ersten 10 gehört? So ist es mit dem Fortschritt.
Ich kann ihn nicht verhindern, sie auch nicht. Schade. Nutzen wir andere Möglichkeiten. was mich störte, war ihr nicht nachvollziehbares Urteil über den Internetkartenverkauf, ungeprüft. Manchmal gehört einfach auch ein Lob für eine gute Veränderung bei Organisatoren dazu. Mich ärgern einfach voreingenommene Pauschalurteile von Strukturen. Dahinter stehen Menschen, die verändern wollen und das auch tun. Dafür darf man auch in dieser Zeit, in der nur noch Meckern zählt, enfach einmal ein Lob aussprechen.
Fehlt das, verkommt die ganze Gemeinschaft.
Darum mein Lob an die Organisation des Theatertreffens.
Kolumne Wolfgang Behrens: Kartenkontingente
Lieber Olaf, erlauben Sie mir nur eine winzige Korrektur: Die Karten sind offenbar kontingentiert. Das heißt, dass Sie im Internet nicht auf dieselben Karten zugreifen wie die Menschen, die an der Kasse stehen. Man hätte also nicht zwangsläufig unter den ersten zehn sein müssen, um für alles Karten zu bekommen. Ansonsten, ja, dann wollen wir einmal loben, dass die Organisation des Theatertreffens aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und den Vorverkauf zumindest verbessert hat.
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