Mehr Angst als je zuvor

von Clemens Bechtel

Bujumbura, 16. April 2015. Wie Vieh werden die Gefangenen mit Stöcken in die Zelle getrieben. Sie stolpern, fallen übereinander, werden geschlagen, stehen wieder auf, schreien wütend oder verzweifelt gegen die Uniformierten an, die erbarmungslos weiter auf ihre Opfer einprügeln. Zwei Scheinwerfer beleuchten die Szene, das Publikum amüsiert sich über die Inszenierung von José Saramagos Roman "Die Stadt der Blinden", aufgeführt in dem Nachtclub Enzogu, 200 Meter vom Ufer des Lake Tanganjika.

Bujumbura ist die Hauptstadt von Burundi, einem Land, dessen jüngere Geschichte von einem langen Bürgerkrieg und ethnischen Konflikten geprägt ist, und das auch heute, fünfzehn Jahre nachdem unter Vermittlung Nelson Mandelas ein Friedensvertrag geschlossen wurde, nicht zur Ruhe kommt. Der Marché Central etwa, das Geschäftszentrum des ostafrikanischen Staats, wurde 2013 niedergebrannt, genau wie vierzehn weitere Märkte im Land. Hinter den Wellblechen, die notdürftig den Zugang zu dem riesigen Areal versperren, sieht man noch heute eingestürzte Decken, verrußte Betonpfeiler, verkohlte Holzplanken. Wer in Burundi erzählt, Afrika wäre in Sachen Wirtschaftswachstum das neue Asien, erntet höchstens ein müdes Lächeln. Welcher ausländische Unternehmer sollte hier investieren? Und warum sollte man in einem Land, das nach dem Welthunger-Index das ärmste der Welt ist, Theater machen?

TheaterBrief Burundi1 560 Dorothea Luebbe uBurundi steht an erster Stelle des Welthunger-Index – wer hier erzählt, Afrika wäre in Sachen Wirtschaftswachstum das neue Asien, erntet höchstens ein müdes Lächeln. © Dorothea Lübbe

Ein Warnzeichen für die Kulturschaffenden?

Freddy Sambibona hat vor etwa zehn Jahren die Troupe Lampyre gegründet. Heute ist der knapp Dreißigjährige wohl der einzige Theatermacher im Land, der versucht von seinem Beruf zu leben. Seine ersten Schritte als Schauspieler machte Freddy als Teenager unter Anleitung von Patrice Faye. Der Gründer der hiesigen SOS Kinderdörfer, Lehrer, Schlangenfänger, Krokodiljäger und Autor war so etwas wie der Pate des modernen burundischen Theaters und manchmal spielten in seinen Inszenierungen sogar die Schlangen mit. Doch Patrice Faye gibt es in Burundi nicht mehr. Wegen Verführung und Vergewaltigung minderjähriger Mädchen wurde der gebürtige Franzose 2011 zunächst zu 25 Jahren Haft verurteilt, dann gegen die Zahlung einer Kaution freigelassen und aus dem Land geworfen.

Einige seiner Texte werden noch immer gespielt, Farcen über die Versöhnungspolitik zwischen Hutu und Tutsi oder über das Verhältnis zwischen Europäern und Afrikanern. Und auch Fayes Krokodile sind noch da. In einem Gehege im Musée Vivant sitzen indische Großfamilien auf dem Rücken der müden Reptilien und posieren, während ein Tierpfleger mit einem Holzstock das sechs Meter lange Tier traktiert, auf das es endlich für das Foto sein Maul aufreißt. Viele halten das Urteil gegen Faye für politisch motiviert. Die Schülerinnen, denen der Lehrer nach ihrem Schulrauswurf Unterkunft gewährte, wären für ihre Aussagen bezahlt worden. Der eigentliche Hintergrund wäre, dass Patrice Faye mit seinem Lebensstil und seinem Theater hier nicht mehr gelitten war. Ein Warnzeichen für die Kulturschaffenden also? Vielleicht.

Das Schweigen lernen

Umso erstaunlicher ist "Buja sans Tabou". Zum ersten Theaterfestival des Landes hat Freddy Sambibona Gruppen aus Burundi und aus den Nachbarländern eingeladen. Der Saal des Institut Français ist vier Tage lang gerammelt voll, das Festival in der Stadt ein Ereignis. "Sans Tabou" – "ohne Tabu" – ist dabei wörtlich zu nehmen. In den Aufführungen geht es viel um Politik, um die Probleme der Menschen und um die Lasten der Geschichte.

Die Aufführung der Troupe Lampyre etwa erzählt vom Genozid in Burundi, der im Gegensatz zu den Ereignissen im Nachbarland Ruanda in den Neunziger Jahren fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit vonstattenging und dem Hunderttausende Menschen zum Opfer fielen. Der Journalist Antoine Kaburahe verarbeitet seine persönlichen Erinnerungen an das Morden in dem Theaterstück "Déchirement". Er erzählt zum Beispiel davon, wie seine erste Lehrerin aus dem Klassenzimmer geholt und mit dem Hammer erschlagen wurde. Die Kugeln der Schusswaffen wollten die Soldaten für sie nicht opfern. Er erzählt auch von dem panischen Geschrei der Kinder in der Schule und wie sie dann doch das Schweigen lernten.

Schuld als Grundgefühl

Der Krieg und der ethnische Konflikt beschäftigt aber auch die Nachgeborenen. Freddy spricht von Schuld als seinem Grundgefühl bezüglich der Geschichte, dabei hat er kaum Erinnerungen an das, was damals geschah. Doch die Folgen des Konflikts prägen das Selbstverständnis seiner Generation und die aktuelle Politik. Während es im Nachbarland Ruanda schon verboten ist nach ethnischer Zugehörigkeit zu fragen, gibt es in Burundi eine Quotierung, die den Zugang von Hutu und Tutsi zu politischen Ämtern festlegt.

TheaterBrief Burundi2 560 Dorothea Luebbe uTrotz der prekären Situation gibt es in Burundi eine lebhafte Theaterszene, oft thematisieren die zumeist jungen Theatermacher direkt oder indirekt die politischen Verhältnisse – Ensembleprobe aus einem Workshop. © Dorothea Lübbe

In der bildenden Kunst, in der Literatur, vor allem aber im Theater der beiden Nachbarländer ist diese Politik, sind Genozid und Bürgerkrieg zentrale Themen, genau wie das Schweigen der Väter und die schwierigen, mitunter verlogenen Versuche der Aufarbeitung und der Rechtsprechung. Das Festival "Buja Sans Tabou" war für Burundis Theater ein Meilenstein, nicht nur wegen der großen Aufmerksamkeit beim Publikum, sondern auch wegen der internationalen Kontakte zu anderen afrikanischen Theatermachern.

Neues Netzwerk

Das Netzwerk, das sich von hier aus weiterknüpft, die Möglichkeit, sich mit Partnern aus dem Kongo, aus Uganda, Äthiopien oder aus Burkina Faso über Rahmenbedingungen, Inhalte, Finanzierungsmöglichkeiten auszutauschen, Gastspiele zu organisieren, Gruppen einzuladen, ist für Freddy wichtiger als die Zusammenarbeit mit westlichen Entwicklungsorganisationen, die ihn immer wieder dazu bringen wollen, Stücke über Moskitonetze oder Aids zu schreiben oder Projekte mit Straßenkindern zu machen.

Hoffnung auf politische Veränderung allerdings hat er – wie die meisten seiner Altersgenossen - wenig. Das Ergebnis der bevorstehenden Wahlen steht für viele heute schon fest. Pièrre Nkurunziza wird wohl eine weitere Legislaturperiode regieren. Und dazu muss er nicht einmal die Wahlen fälschen. Zumindest auf dem Land kann sich der der ehemalige Rebellenkämpfer der Unterstützung der Bevölkerung sicher sein.

Nichts Afrikanisches

In der Hauptstadt sieht das schon anders aus. Gegen die noch vorhandene Opposition wurde, so sagt man, die Jugendorganisation der Regierungspartei mit Waffen ausgerüstet. Als ob es in dem Land nicht schon genug Waffen gäbe. Und auch sonst gibt es einiges, was junge Intellektuelle wütend macht. Statt eines neuen Markts wird in Bujumbura derzeit ein Luxusquartier gebaut. Im Volksmund nennt man es, nach dem Ort in Tansania, wo in zähen Verhandlungen der Friedensvertrag zustande kam, "Arusha". Finanziert werden die schicken Villen durch die üppigen Tagegelder, die man den Delegierten damals zahlte. Kein Wunder, so sagt man, dass sich die Friedensgespräche über Jahre hinzogen. Und doch: Die Schelte auf Korruption und afrikanische Despoten reicht als Erklärung für die aktuelle Krise so wenig aus wie die eurozentrischen Selbstbezichtigungen der Postkolonialisten.

Auf struktureller Ebene stellen sich für Freddy und seine Kollegen ohnehin ganz andere Fragen. Zum Beispiel, wo sie ihre nächste Produktion spielen können. Im verfallenden Palais de la Culture wird auf der Bühne schon lange kein Theater mehr gezeigt, stattdessen bieten dort Händler Kerosinkocher und Sandalen an. Und der klimatisierte Saal im Centre Culturel Français, das sich nun Institut Français nennt, steht den Theaterleuten meistens nicht zur Verfügung. Statt als Kulturveranstalter versteht man sich hier inzwischen vor allem als Vermittler von Sprachkenntnissen. Auch sonst gibt es von institutioneller Seite so gut wie keine Unterstützung: Der Kulturminister interessiert sich mehr für Sportereignisse und für die im Ausland so erfolgreichen traditionellen Trommler und die meisten westlichen Diplomaten und NGOs winken ab: "Theater an sich ist nichts Afrikanisches."

TheaterBrief Burundi3 560 Dorothea Luebbe uLéon Zongo und Deus Okwaba Kagufa bei einer Probe © Dorothea Lübbe

Umgang mit der eigenen Angst

Sophie Raissa ist das egal. Sie arbeitet, wenn sie nicht gerade im Hotel jobbt, mit ihrer Theatergruppe an einem Stück über die akute Kriegsgefahr. In einer Collage aus selbstgeschriebenen Szenen geht es unter anderem darum, wie man mit der eigenen Angst umgeht. "Keiner weiß hier, was in nächster Zeit geschieht", sagt sie. "Und ja, die Menschen haben Angst, mehr als je zuvor." Die anstehenden Wahlen sind für viele eher eine Bedrohung als eine Möglichkeit Politik zu gestalten. Und wenn man den Anstieg an politisch motivierter Gewalt betrachtet, versteht man nicht nur, warum Sophie diese Angst zum Thema macht, sondern man beginnt auch an einem westlichen Politikexport zu zweifeln, der Wahlen zum Maßstab für demokratische Entwicklung macht.

Im Februar hatte Sophies Stück Premiere. Und es ist nicht die einzige Produktion, an der in Burundi trotz der aktuell prekären Situation gearbeitet wird. Providence und Aimable haben in der Provinzstadt Gitega mit dreißig Gleichgesinnten eine Gruppe gegründet und proben derzeit an einer Farce von Patrice Faye. Rivardo hatte im Dezember mit seiner Gruppe eine Premiere mit einem eigenen Text, die die Situation in der Universität portraitiert. Renaud arbeitet mit seiner Gruppe an einer burundischen "Romeo und Julia"-Variante, Marshall tourt mit seiner Gruppe durch das Land und versucht die politische Ereignisse in einer Komödie zu fassen.

Dynamische Entwicklung

Fast immer bilden biographische Erfahrungen den Ausgangspunkt für die Arbeiten, oft thematisieren die zumeist jungen Theatermacher direkt oder indirekt die politischen Verhältnisse in Burundi. Unterstützt werden sie von Menschen wie Mike, der versucht in Bujumbura neue Veranstaltungsformen an neuen Orten zu kreieren und dafür mit Musikern, Geschichtenerzählern, Schauspielern experimentiert, oder Ephra, der die burundische Theaterszene filmisch dokumentiert und sie landesweit mit seinen zwei Scheinwerfern versorgt.

"Wir stehen am Anfang", sagt Freddy Sambibona nach der Vorstellung von "Die Stadt der Blinden" im Nachtclub Enzogu, "und oft finde ich die Situation zum Verzweifeln. Wir haben keine Spielorte und weil uns strukturell keine Organisation und keine Stelle unterstützt, verlieren wir immer wieder wichtige Leute, die ihr Geld anderswo verdienen müssen. Andererseits: Wenn ich von irgendwelchen Festivals im Ausland zurückkomme und sehe, wie dynamisch sich hier die Theaterszene entwickelt, dann macht mir das Hoffnung. Nicht nur für die Kultur, sondern für die gesamte Entwicklung in diesem Land."

Clemens Bechtel, Jahrgang 1964, arbeitet seit 20 Jahren als freier Regisseur. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind kriegsähnliche Konflikte, Migration und Diktaturen. In der Spielzeit 2013/14 war er künstlerischer Leiter des globalen Theaternetzwerks "Hunger for Trade" und entwickelte und inszenierte den deutschen Beitrag Cargo Fleisch, der im April 2014 Premiere im Malersaal des Schauspielhaus Hamburg hatte. In Burundi war er im Auftrag des Theater Konstanz.

 

Mehr über die Theaterarbeiten von Clemens Bechtel im Lexikoneintrag.