Presseschau vom 16. April 2015 – Günter Grass' letztes Interview. In der Zeit spricht er mit Luk Perceval

Im deutschen Theater wird zu viel genuschelt [geschrien]

Im deutschen Theater wird zu viel genuschelt [geschrien]

16. April 2015. Am Karfreitag 2015 trafen sich Günter Grass und Luk Perceval, der gerade Grass' Blechtrommel im Thalia Theater Hamburg inszeniert hatte, auf Einladung der Zeit zum Gespräch. Es wird Grass' letztes Interview sein – "das Vermächtnis des Nobelpreisträgers als Theatermann".

Grass sagt, in der Premiere der "Blechtrommel" sei ihm "das Beste passiert, was man erleben kann", er habe vergessen, dass er selbst der Autor des Romans sei. Der Roman dürfe mit dem Theaterstück nicht verglichen werden. Theater sei nach wie vor "die Guckkastenbühne, die auf eine begrenzte Zeit raffen muss, ganz andere Spannungen herstellt".

Perceval gefragt, warum er überhaupt dieses Buch ausgewählt habe, gibt an, die Idee sei vom Intendanten und der Dramaturgin gekommen. "Sie wollten etwas machen zum 70. Jahrestag des Kriegsendes." Er habe den Kontakt zum Autor sehr inspirierend gefunden. "Da ist jemand, der mir sagt, was ihm wichtig ist, aber er sagt mir nicht, wie ich es zu inszenieren hätte."

Einfaches Nein-Sagen

Zur generellen Frage der Inszenierung seiner Prosatexte auf dem Theater sagt Grass: "Wenn ein Exposé vorliegt und ich merke, der Regisseur benutzt das Ganze nur als Steinbruch, sage ich einfach Nein. So habe ich eine Fülle von Inszenierungsanfragen abgelehnt." In der ersten Regieanweisung seines letzten Theaterstücks "Davor" von 1969 hatte Grass geschrieben: "Auf Wunsch des Autors verzichten alle Regisseure auf Filmeinblendungen, kabarettistische Einlagen und zusätzliche Massenszenen, die etwas demonstrieren sollen, das der Autor nicht demonstrieren will." Grass dazu: "Ich wollte nicht einem Regisseur, der ehrgeizig ist und sicher auch begabt, eine Spielvorlage liefern. Ich hatte etwas geschrieben in meiner Sprache, mit meinen Möglichkeiten, und die Substanz wollte ich erhalten haben."

Jeder Roman, jedes Theaterstück, jedes Gedicht, vertrage, wenn es gelungen sei, "tausend und mehr Interpretationen". Das Buch gehöre dem Autor, solange er am Manuskript sitze. "Danach ist es wie enteignet, es geht seinen eigenen Weg." Allerdings entwerteten alle Zusätze, wie sie im Theater gerne gemacht werden, das, was der Autor vorgehabt habe. Wenn der Regisseur meine, der Text biete seiner Regiefantasie keinen Stoff, solle er etwas anderes machen. "Dieser Sieg des Sekundären über das Primäre hat mich dazu gebracht, keine Theaterstücke mehr zu schreiben."

Dazu Perceval: Die Spannung zwischen Regisseur und Autor gehöre zum Wesen des Theaters. Das Theater sei immer ein Stück weit Eroberungskunst. Es okkupiert alle möglichen Stoffe.

Romane auf der Bühne

Auf die Frage, was denn der Reiz sei, Romane auf die Bühne zu stellen, antwortet Perceval, er müsse sich als belgischer Regisseur in Deutschlyand überlegen: "Womit trifft man die Leute in Deutschland ins Herz? Theater braucht Emotion."

Dazu Grass: er habe Zeit gebraucht, bis er entdeckt habe, dass er am besten schreibe, wenn er das "beschwöre", was er verloren habe. "Der Verlust als Grundlage des Schreibens – das zeigt sich in meinen Büchern, und das ist auch in Ihrer Inszenierung vorhanden."

Die Müllerei auf dem Theater

Grass, gefragt, ob er noch regelmäßig ins Theater gehe, verneint dies. Die fünfziger Jahre in Berlin, seien eine aufregende Theaterzeit für ihn gewesen. Am Berliner Ensemble "Der Kaukasische Kreidekreis" und "Mutter Courage", im Schlosspark­Theater "Warten auf Godot", das sei ein Ereignis gewesen. Zuletzt habe Grabbes "Herzog Theodor von Gothland" in Detmold gesehen, eine "sehr gute Aufführung", aber auch dort seien Heiner­-Müller­-Texte eingefügt worden. Das sei der Punkt: Grabbe sei einer der sprachmächtigsten deutschen Autoren. Aber man verlasse sich nicht mehr auf ihn.

Warum eigentlich sei ausgerechnet Müller der liebste Verschnittstoff im Theater, fragt Christof Siemes und stellt damit eine der letzten großen Fragen des deutschen Theaterwesens.

Luk Perceval antwortet, er wisse es nicht. "Ich habe das Gefühl, man macht es für die Kritiker – es ist wie ein Schmuckstück, das Intelligenz und Überblick signalisiert. Und die Kritiker können schreiben, dass sie ein Stückchen Müller entdeckt haben." (Huhuhuhu)

"Aber wie urteilen Sie, Herr Grass", fragt Perceval den Autor, "im aktuellen Fall, in dem der Regisseur Frank Castorf Brechts Baal bearbeitet hat? Brecht hat selbst fünf Fassungen geschrieben und war mit keiner zufrieden – kann da nicht der Regisseur aus allen Varianten seine eigene machen?" Grass: dann solle der regisseur den SToff "aufgreifen" und ein "neues Stück schreiben". Wenn er "die Kraft" habe und "wortmächtig" genug sei, "mit Brecht konkurrieren zu können".

Vom Nuscheln [Schreien] auf deutschen Bühnen

Auf die Frage, was er sich von einem gelungenen Theaterabend erwarte, antwortet der Schriftsteller, dass er zwei oder drei Stunden lang vergesse, wer neben ihm sitze. Dass ihn "die neue Wirklichkeit", die die Bühne liefere, gefangen nehme und dass die Schauspieler der Bühne gemäß sprächen. Sich nicht "in Geschrei verlören", verständlich sprächen – ganz simpel.

Dass so viel genuschelt werde auf deutschen Bühnen [dabei wird vor allem geschrien, immer geschrien – der Sätzer] habe mit der Sucht nach Authentizität auf den Schauspielschulen zu tun, merkt Perceval an. Weil immer "mehr Leute für Film und Fernsehen ausgebildet" würden. Es sei die Nuschelei [dabei wird vor allem geschrien, immer geschrien – der Sätzer] aber auch Marlon Brando und James Dean zu verdanken – den Zeitgenossen von Grass. "Die amerikanischen Filme, in denen Brando nur noch genuschelt hat, haben das Theater sehr geprägt."

(jnm)

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