Irre Dinge im Gebirge

von Willibald Spatz

Ulm, 17. April 2015. Einen Rausch inszeniert Andreas von Studnitz nicht, eher das langsame Nüchternwerden, das unweigerlich in einen schrecklichen Kater mündet. Der echte Rausch ist eh anderswo, und den Zurückgelassenen quält die Angst, etwas zu verpassen. Es ist Pentheus, der König von Theben, der nach der verhängnisvollen Feier schielt.

Gereizt im Kellerloch

Fabian Gröver spielt ihn als steifen Juniorchef im Anzug, der noch ein bisschen überfordert ist mit der ererbten Aufgabe: die Stadt zu regieren, die sein Großvater gegründet hat, und in ihr die Ordnung aufrechtzuerhalten. Diese Ordnung bedroht sein Cousin, der Gott Dionysos, der in die Stadt kommt und die Frauen dazu verführt, ins Gebirge zu ziehen und dort irre Dinge anzustellen. Pentheus ist schnell gereizt, er brüllt die meiste Zeit, nicht nur, weil er die Kontrolle verliert, sondern auch, weil diese Ordnung, die er verteidigen soll, so schäbig und wenig verheißend ist. Er haust in einem Kellerloch und starrt auf einen Flachbildschirm, auf dem Überwachungsvideos flimmern. Hier sind es Bilder von Krawallen in der Ukraine. Sie machen ihn wütend. In der Ecke liegt pennend der Großvater Kadmos unter einem Haufen Büchern. Ihn interessieren die Jungen nicht mehr, und auch die von ihm gegründet Stadt ist ihm egal. Irgendwie ist alles kaputt. Oben im Freien führt eine zerstörte Treppe in den Himmel, der als Videoprojektion die ganze Rückwand bedeckt. Ein grandioses Bühnenbild von Mona Hapke, das monumentale Bilder ermöglicht.

bakchen 535918 560 ilja mess uDas Überwachungs-Kellerloch des Pentheus © Ilia Mess

Der Gegenspieler des Pentheus in den Bakchen ist Dionysos. In Ulm ist er weiblich besetzt. Sidonie von Krosigk hat nur ein Jackett über dem nackten Oberkörper – die Weiblichkeit blitzt stets durch, verlockend für den Mann Pentheus, und doch abstoßend, weil sie ihm seine Schwäche vor Augen führt. Dionysos taucht plötzlich aus dem Bühnenboden auf oder liegt schon im Bett, in das Pentheus sich setzt. Mehr ein Geist als eine reale Person oder ein Gedanke, der sich immer mehr verdichtet, je mehr Pentheus ihn zu verdrängen versucht. Schließlich lässt er sich als Frau verkleiden und von Dionysos in die Berge führen, nur um mal zu schauen, was da vor sich geht. Er sieht lächerlich aus in diesen Klamotten und mit Kopftuch, und dennoch wirkt er zum ersten Mal nicht angespannt, sondern ganz bei sich. Die Alten Theiresias und Kadmos haben sich kurz davor auch schon zu Affen gemacht in ihren Verkleidungen. Jörg-Heinrich Benthien und Wilhelm Schlotterer bauen diesen Weingottbeschwörungstanz der Greise zur komischsten Szene des Abend aus.

Im Rausch in Stücke gerissen

Als Außenstehender eine Horde Feiernder zu betrachten, ist befremdlich, weil die in ihrer eigenen Wirklichkeit existieren. Die Ballettcompagnie des Theaters bewegt sich als Bakchen wie ein Pulk Zombies, schön abgefahren und angemessen unheimlich. Sie brechen durch Papierwände und packen sich Pentheus, ganz wie im Horrorfilm.

Oben in den Bergen warten die Mutter und die Tanten auf Pentheus. Sie werden ihn im Rausch in Stücke reißen und gar nicht merken, dass sie keinen Löwen, sondern einen Menschen töten. Auch hier wird kein Lärm veranstaltet, alles passiert ganz leise: Christel Mayr als Tante Autonoe und Renate Steinle als Tante Ino waschen den Mann in einem Blechzuber mit Blut, die Mutter Agaue (Aglaja Stadelmann) hält währenddessen seinen abgetrennten Kopf, eine ziemlich lebensechte Nachbildung aus der Kunstblut tropft, mit dem man sich das Gesicht vollschmieren kann, zum Finale.

Glücksfall

"Die Bakchen (Pussy Riot)" ist eine Bearbeitung des Euripides-Originals durch John von Düffel. Der geht alles andere als brachial vor. Die Handlung folgt der Vorlage, der Chor fehlt, wichtige Passagen wurden anderen Figuren zugeschoben. Auch hat John von Düffel – anders als der Titel erwarten ließe – nicht versucht, aktuelle Bezüge herzustellen. Er stellt sich auch nicht auf eine Seite: Weder der Rausch noch die Nüchternheit sind verlockend, beides ist nichts mehr, weil die Welt drum rum schal geworden ist. Es gibt keine Illusionen und keinen Visionen, sogar der Seher Theiresias legt am Ende seinen falschen Bart zu Boden und schminkt sich ab.

Und Andreas von Studnitz nützt diese Vorlage, um große Momente in Bildern voller Pathos zu entwerfen, beweist aber ein sicheres Gespür dafür, jede Art von Kitsch zu vermeiden. Diese Bakchen sind ein Glücksfall für das Ulmer Publikum.

 

Die Bakchen (Pussy Riot)
nach Euripides in einer Bearbeitung von John von Düffel
Regie: Andreas von Studnitz, Choreografie: Yuka Kawazu, Bühne und Kostüme: Mona Hapke, Licht: Marcus Denk, Video: Karlheinz Fohlert, Dramturgie: Daniel Grünauer / Nilufar K. Münzing.
Mit: Sidonie von Krosigk, Fabian Gröver, Wilhelm Schlotterer, Jörg-Heinrich Benthien, Aglaja Stadelmann, Christel Mayr, Renate Steinle, Julian Schless; Ballettcompagnie des Theaters Ulm.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause

www.theater.ulm.de

 

Kritikenrundschau

Aus von Düffels "sehr klaren Text" habe von Studnitz "ein düsteres dunkelblaues Bildermeer konstruiert", schreibt Julia Weigl in der Süddeutschen Zeitung (23.4.2015). "Was zunächst nach langweiligem Regietheater aussehen mag, funktioniert, weil der Regisseur die Anspielung auf Pussy Riot nicht unnötig ausschmückt. Stattdessen nimmt er ihren Aufstand als zeitlose Metapher, um die Geschlechterrollen umzukehren: Frauen in die Hauptrollen!" Das Chaos brodele nur unter der Oberfläche, es breche nie komplett aus. "Vieles wird nur angedeutet oder stark verfremdet, und gerade diese Abstraktion macht die beklemmende Brutalität von 'Die Bakchen (Pussy Riot)' aus."

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