Theatersport ist Mord

von Daniel Di Falco

Bern, 1. März 2008. Man hat der zeitgenössischen Dramatik einen Rasenteppich ausgerollt, über die ganze Bühne in der grossen Vidmarhalle: Unter einem Himmel von Hunderten Lampen, Leuchten, Lüstern aus dem Brockenhaus leuchtet grün das Gras, und es ist echt. Eine Spielwiese, die im Lauf des siebenstündigen Uraufführungsmarathons zunehmend schlammig-krautig riecht, wie man das eben von Fussballfeldern kennt.

Keine Stollenschuhe hier, aber doch so viel Betrieb, dass er den Saft aus diesem Rasen presst. Am meisten wenn Domink Günther die Regie übernimmt, der sich ans Kurzstück von Gerhard Meister macht. So eigenwillig und radikal legt sonst keiner Hand an.

Günther schickt eine junge Mannschaft aus dem Ensemble auf den Rasen (André Benndorff, Sebastian Edtbauer, Jonathan Loosli, Sabine Martin und Andri Schenardi), ausgerüstet mit Boxhandschuhen, Eishockeyhosen und Polizeihelmen, und die machen Meisters Dark Fiction zum komödiantischen Ereignis.

Kugelblitz im Menschenflipper

Das hätte man diesem Text gar nicht zugetraut. Meister malt sich eine Welt aus, die in düsteren Bedrohungen alle Vertrautheit verliert. Er erzählt von Stadtfüchsen, die Unfallopfern auf der Strasse die Hand abfressen; von menschlichen Gehirnen, die in Nährstofftanks gehalten werden und davon nichts wissen; von Buzz Aldrin, dem zweiten Mondfahrer, der auf der Erde nie mehr Fuss fasste; von einem Theater, in dem das Publikum in einer Blutflut untergeht.

Da ist viel Wortmacht in diesem monologischen Textgemälde, aber kein identifizierbarer Sprecher weit und breit, doch Günther verteilt den Text kurzerhand nach Themen auf seine Truppe, die turnt mit vollem Körpereinsatz über Tische und Stühle, feuert rote Farbe aus Wasserpistolen Marke Supersoaker, dazu donnert Disco aus den Boxen.

Das ist Bühnensport zwischen Antiterror-Einsatz und Paintball-Match, sehr komisch und sehr beängstigend – ein Menschenflipperkasten, in dem Meisters Vision in einen Kugelblitz verwandelt wird, und der fährt einem knallend in den Kopf.

Augenhöhe des Alltags 

Sonst geht es ruhiger zu. Elf Kurzstücke zum Thema Fremdheit hat das Berner Stadttheater in Auftrag gegeben; Erik Altorfer, Dramaturg des Hauses und künstlerischer Leiter des Schweizer Autorenförderprogramms "Dramenprozessor", betreute die Entwicklung. Tagespolitik aus dem Ressort Migration gibt es hier keine, die meisten Autoren fassen das Thema auf Augenhöhe des Alltags, und dabei geht es immer wieder um Sprachnöte und Verständigungskonflikte, aber auch um Heimatverlust in den Alpen und illegale Existenzen in der Grossstadt, um verletzte Intimität und unheimliche Nachbarn. 

Vielfalt war den Verantwortlichen wichtig. Dass es sie gibt, ist schon einmal keine schlechte Nachricht angesichts von Befürchtungen, die hochtourig laufende Nachwuchsförderung und -schulung allenthalben führe bereits zu einer Uniformierung der Talente. Dass in Bern auch Vielfalt in Sachen Qualität resultiert, ist freilich keine Überraschung.

Dem Coup von Günther/Meister stehen zwei Bruchlandungen mit prekären Texten gegenüber. So hat sich Philipp Becker mit vier Berner Schauspielschülern an "Babel fish" gemacht – und das Stück von Sabine Wen-Ching Wang nicht entschlüsseln können. Ratlosigkeit genauso nach "Holla" von Händl Klaus: ein schwieriger Text, der in verspielten Volten um die Identität eines Herrn Steinbach, Steinach oder Steiner kreist. Stefan Otteni hat dafür zwar schöne Bilder gefunden, doch keine schlüssige Idee, was er mit ihnen will. 

Zu flach kommt auch "Vaters Traum von Kirschbaumblüten" heraus, das Stück von Daniela Janjic über eine bosnische Familie, die der Krieg über Europa versprengt hat – da gibt es Bombenstaub, der sich giftig auf den Frieden legt, und einen Blauhelmsoldaten, der sich an der Stelle des abwesenden Vaters im Herz seines Sohnes und im Bett seiner Frau eingenistet hat. Bestrickende Bilder und Figuren, doch unter Tanja Richters Regie kommen sie nicht zum Leuchten.

Allein unter Schweizern

Restlos überzeugend dagegen Luise Helles Inszenierung von Enda Walshs Zweipersonenkammerspiel "Gentrification. Eine Unterhaltung mit meinem Nachbarn Henry". Walsh, Wunderkind des neuen britischen Dramas und im Berner Autorenprojekt der Ire unter lauter Schweizern, nimmt einen stadtsoziologischen Befund zum Anlass, um sich die Rache der Unterprivilegierten auszudenken.

Ein Arbeiterviertel wird von urbanem Trendvolk übernommen; dagegen wehrt sich ein Alteingesessener und kidnappt das Kind seines Nachbarn. Wie der dann in dessen Wohnung steht und sein Kind herausverlangt – Diego Valsecchi macht mit seiner stillen Bestürzung nicht nur den Ernst der Lage klar, sondern auch den schauspielerischen Höhepunkt des Abends.

Endabrechnung? Die ist zwangsläufig willkürlich: ein Theatercoup, wie man ihn an diesem Haus nur selten sieht; daneben viel Dreiviertelgutes. Entscheidender wird sein, wie nachhaltig die Berner Offensive ist. Gegen die "Uraufführungssucht" in den deutschsprachigen Theatern gibt es bereits ein Manifest: die 10 Wünsche für ein künftiges Autorentheater von Kemnitzer/Sauter/Schlender.

Ob die elf Kurzstücke mehr sind als ein Strohfeuer und einige davon nachgespielt werden, muss sich noch zeigen. Die Verantwortlichen wollen jedenfalls mit ihrem Projekt nächstes Jahr in eine zweite Runde, dann mit mehr internationaler Beteiligung. Und zwei Autoren aus dem Jahrgang 2008 sollen bald mit abendfüllenden Stücken auf die Bühne kommen.

 

Der Fremde ist nur in der Fremde fremd
11 kurze Stücke für das Stadttheater Bern
Stückentwicklung: Erik Altorfer
Andri Beyeler/Martin Bieri: "Aufsteigerjungs"/Hörspiel
Olivier Chiacchiari: "Prudence/Sicher ist sicher"
Reto Finger: "Am Anfang war das Feuer"
Marianne Freidig: "Die Wilden"
Stefanie Grob: "Schonzeit"
Händl Klaus: "Holla"
Pedro Lenz: "Dr Hugo isch Zucker"
Gerhard Meister: "und das da ist das überdruckventil"
Daniela Janjic: "Vaters Traum von Kirschbaumblüten"
Darja Stocker: "Von Schlangen und Pistolen"
Enda Walsh: "Henry"
Sabine Wen-Ching Wang: "Babel fish"
Raphael Urweider/Michaela Leslie-Rule: "Für Fremdsprachige".
Regie: Philipp Becker, Dominik Günther, Luise Helle, Stefan Otteni, Katharina Ramser, Johannes Rieder, Tanja Richter, Antje Thoms, Caro Thum, Bühne: Christoph Wagenknecht, Kostüme: Sarah Bachmann, Dorothee Brodrück, Romy Springsguth, Susanne Waterkamp, Stefanie Liniger.
Mit dem Ensemble des Stadttheaters Bern und Gästen

www.stadttheaterbern.ch

Mehr zu Inszenierungen des Stadttheaters Bern: Lulu, Die schwarze Spinne und Some girl(s).

 

Kritikenrundschau

Felizitas Ammann nutzt das Berner Autoren- und Dramenspektakel "Der Fremde ist nur in der Fremde fremd", um im Zürcher Tages-Anzeiger (3.3.2008) die Lage der neuen Schweizer Dramatik zu beleuchten: "Lange Jahre war die neue Dramatik an Schweizer Theatern nur marginales Pflichtprogramm. Gesellschaftlich virulente Themen kamen in den 90er-Jahren allenfalls durch Ensembleprojekte oder in freien Gruppen auf die Bühne. Erst als die junge englische Gegenwartsdramatik ins deutsche Theater fand und auf riesiges Publikumsinteresse stiess, kam es auch bei uns zur Wiederentdeckung des Autors. In nur wenigen Jahren hat sich die Situation grundlegend verändert; und schon gibt es kritische Stimmen, die «Verschleiss und Monokultur» (Jürgen Berger im Kleinen Bund) fürchten."
Den Abend selbst erlebte Ammanns als "abwechslungsreich". Besonders Gerhard Meisters "Collage aus Hirnforschung, Raumfahrt und Selbstreflexivität", die Dominik Günther "in ein abgedrehtes Spektakel mit Schutzanzügen und Theaterblut verwandelte", hat es ihr angetan. Fein fand sie auch Pedro Lenz' Monolog "Der Hugo isch Zucker", der "von der (auch und insbesondere sprachlichen) Schwierigkeit, mit dem Fremden umzugehen" zeuge. "Eindrücklich und dabei hochkomisch" führe Lenz vor, "wie gefährdet die eigene Existenz im Angesicht des anderen ist".

So "lebendig wie schon lange nicht mehr" zeige sich das "Schweizer Autorentheater", schreibt Andreas Klaeui in der Frankfurter Rundschau (3.3.2008). Auch Klaeui reümiert kurz die Struktur des Dramatik-Aufschwunges in der Schweiz: "Es fängt an mit Schreibwerkstätten, in denen Talente erste Erfahrungen sammeln können; es geht weiter zu einem Programm wie dem "Dramenprozessor", bei dem im Lauf eines Jahres ein komplettes Stück entsteht, das dann auch öffentlich zu sehen ist. Den Abschluss macht die Masterclass MC6, in der eine erfahrene Autorin oder ein Autor ein Jahr lang die aufstrebenden Bühnenschreiber betreut. Ein Name, der in diesen Förderprogrammen an allen Ecken und Enden auftaucht, ist der des umtriebigen und exzellent vernetzten Vermittlers Erik Altorfer. Seit Anfang der Spielzeit ist er als Dramaturg am Theater Bern engagiert." Allerdings handele es sich bei der Berner Schau mehr um "Appetithäppchen als Pièce de résistance: Der Abend kann im Ganzen eine Anmutung von Präsentation und Schaulaufen nicht ablegen." Immerhin zeige Enda Walsh, dass man "in 30 Minuten ein meisterliches Miniaturdrama mit Einstieg, Entwicklung und Schluss entwerfen kann", und "dass man in der kurzen Zeit tief in Figuren eindringen, den ganzen Prozess einer Entfremdung zeichnen kann, führt Daniela Janjic in der Dreiecksgeschichte eines Jungen, seines fernen Vaters und des fremden Neuen vor".

"Der lange Abend entpuppt sich zum Glück als ein kurzweiliger", schreibt Beatrice Eichmann-Leutenegger ganz angetan in der NZZ (5.3.2008). Den "Boom der Deutschschweizer Gegenwartsdramatik", der jedoch "nicht die innerhelvetischen Sprachgrenzen" überschreite, habe das Stadttheater Bern für eine "facettenreiche Werkschau" genutzt, die "das Fremdsein weit fasst, manchmal derart weit, dass in einigen Beiträgen der Zusammenhang mit dem vorgegebenen Thema kaum mehr aufscheint". Immerhin kämen die "elf kurzen Stücke anregend, frisch und unbekümmert daher", auch wenn manche Stücke zu statisch und mehr wie eine szenische Lesung wirkten.

Martin Halter (FAZ, 7.3.2008) hat eine "durchaus unterschiedliche Qualität der Stücke" erlebt. Diejenigen von Händl Klaus und Gerhard Meister waren für ihn "irritierend befremdlich", will sagen: gut. Oliver Chiacchiaris Stück dagegen sei zu "klamottenhaft" geraten. Aber das, die unterschiedliche Stück-Qualität, war für Halter nicht das Problem. "Die Schweizer Dramatiker müssen sich derzeit vor niemandem, schon gar nicht vor ihren deutschen Kollegen, verstecken." Allerdings, so Halter, "elf Stücke am Stück (...) und dazu noch ein Bonus-Hörspiel im Foyer (...) sind auch in Zeiten anschwellender EM-Euphorie ein bisschen viel". "Europameister" waren jedenfalls nicht zu erleben, sondern "eine mit zwei, drei Ausländern verstärkte xenophile Stadtauswahl".

Kommentar schreiben