Nach New York kraulen

von Ralf-Carl Langhals

Heidelberg, 24. April 2015. Finnland: Schnee, Wasser, Eis, Schnaps, Tango und Karaoke, gemixt mit einer süßlichen Note großer, existenzieller Grundtraurigkeit von geringer Bevölkerungsdichte, durchzogen mit einer Prise Sehnsucht wonach auch immer. Soweit das Klischee – und die deutschsprachige Erstaufführung von Pipsa Lonkas "These little town blues are melting away", mit der der 32. Heidelberger Stückemarkt eröffnet wurde, weil Lonka im Vorjahr den Internationalen Autorenpreis des renommierten Festivals gewann.

"Die Welt des Stücks setzt sich aus Bildern zusammen." So lautet die erste von Lonkas "Anmerkungen zu Bildern und Licht", die Erzählerin Karin Schroeder chansonesk auch dem Publikum nicht vorenthält, als sie die Dramatis Personae vorstellt. Und damit ist eigentlich schon alles gesagt. Bilder. Poetische, absurde, skurrile, traurige, aber kein Stück.

Hübsche, spielastische Versuche

Eisschwimmerin Aila (Elisabeth Auer) kann herrlich in der Luft kraulen und in Gummistiefeln tapern, ihr missratener Lyriker-Sohn (Martin Wißner) akrobatisch verdreht seinen Rausch ausschnarchen oder mit seinen Säuferkumpels (Olaf Weißenberg, Pedro Stirner) pantomimisch Alkohol vernichten und die Welt dann lustig finden. Was sie treiben, wovon sie leben, was sie bewegt, erfahren wir kaum. Und auch der Glück-Supermarkt in der Dorfmitte, wer hätte es gedacht, bietet wenig Trost. Das alte Paar Ukko (Andreas Seifert) und Hilkka (Karin Nennemann) hat immerhin eine echte Szene eheliche Lebens. Er malt als "Picasso der Provinz" Weiß auf Weiß. Hoch ist in dem namenlosen Straßendorf am finnischen Ostseestrand also nicht nur der Wasserstand, sondern auch die Künstlerdichte.

TownBlues 560 AnnemoneTaake uSitzkreis ohne Sauna: Sonst werden alle Klischees durchschritten © Annemone Taake

Gattin Hilkka zeigt ihm Verehrung, vermisst dennoch Farbe im Bild oder im Leben und wünscht sich ein Quietscheentchen – auch wieder so ein Bild. Wer keine Eisschwimmerin ist, dem kann vielleicht die Loriot'sche Badeente das Leben retten, denn das Wasser steigt unablässig, die Klimaerwärmung lässt grüßen und macht den gewohnten Lebensraum zum "unbewohnbaren Gebiet". Auf Csörsz Khells Bühne ist es dank atmosphärischer Lichtgebung immer noch hübsch anzusehen und Hintergrund für die gelegentlich poetischen, meist aber spielastischen Versuche Cilla Backs, diesen musikdurchsetzten Bilderbogen ein Stück werden zu lassen.

Nur die Sauna fehlt

Vielleicht ist man auch nur deshalb über das choreographierte Tableau-Theater im Nummernrevueformat erschrocken, weil gerade eine finnische Autorin und eine finnische Regisseurin die Finnland-Klischees so unerschrocken ungeniert um- und übersetzen. Jede Figur hat ihren Auftrittstanz, individuelle Motorik – und Pardon, auch einen kleinen Dachschaden.

Die spinnen, die Finnen, anders kann man das Stückpersonal, Poesie des Nordens hin, Traurigkeit des Scheiterns her, nicht beschreiben. Wenn man am Schluss gemeinsam im "Glück-Seniorenheim" im "Glück-Zentrum" (Slogan: "Das ganze Leben aus einer Hand") sitzt, Kuchen mampft, Sinatras "New York, New York" und kollektiv finnisches Liedgut singt, kann sich der Zuschauer nicht ganz sicher sein, ob es die Arche Noah, ein Rettungsboot oder die Nervenheilanstalt ist. Es wurde getanzt, gesoffen, Karaoke gesungen und im Eiswasser geschwommen. Und war ein Finnland-Trip wie aus dem Bilderbuch des Overactings. Nur den Saunabesuch, der etwas Dampf in die plätschernde Ostsee-Fabel vom untergehenden Glückssucher gebracht hätte, den haben Pipsa Lonka und Cilla Back – vermutlich aus doch noch einsetzender Klischee-Scham – ausgelassen, stattdessen krault die alte Eischwimmerin vorbei an Pinguinen gen New Yorker Freiheitsstatue. Noch so ein Bild... Wir dürfen vermuten, dass sie dort nie ankommt.

 

These little town blues are melting away. Lieder vom Ufer des grauen Meeres
von Pipsa Lonka, aus dem Finnischen von Katja von der Ropp
Regie, Kostüm, Musik: Cilla Back, Bühne: Csörsz Khell, Dramaturgie: Lene Grösch.
Mit: Elisabeth Auer, Josepha Grünberg, Karin Nennemann, Elena Nyffeler, Karin Schroeder, Andreas Seifert, Pedro Stirner, Olaf Weißenberg, Martin Wißner.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

 

Zum Stückporträt auf heidelberger-stueckemarkt.nachtkritik.de, einem Projekt im Auftrag des Theaters Heidelberg

 

Kritikenrundschau

Das Meer schwappe über, "die nach und nach vorgeführten Bewohner ziehen keine Konsequenzen, und bald merkt man, dass auch die Autorin daraus keine Konsequenzen zieht", so Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (27.4.2015). "Was als Apokalypse auf dem Dorfe anfängt, läuft auf ein dramaturgisch unsicheres Potpourri hinaus", Dorfgeschichten werden zwar in Gang gesetzt, aber so rasch wieder beiseitegelassen, dass sie im Allgemeinen steckenbleiben. Fazit: "Hinter den stilisierten, geradezu choreografierten Bewegungsabläufen vor diskret maritimem Grund, die zunächst noch verblüffen und einleuchten, steckt bald nurmehr das Klischee von den Verstörten und den Grenzdebilen."

"Auch wenn das Meerwasser schon in den Häusern der finnischen Küstenbewohner steht, so geht es doch - gemäß dem Verursacherprinzip - in erster Linie um die Menschen- und Zivilisationskatastrophe", schreibt Heribert Vogt in der Rhein-Neckar-Zeitung (27.4.2015). Zwar seien die direkt Betroffenen sogenannte kleine Leute aus zum Teil einfachsten Verhältnissen, aber gerade in ihrem Schicksal erlebt man die von Menschen herbeigeführte Bedrohung besonders elementar: Denn wohin können diese Opfer der globalen Umweltzerstörung schon ausweichen? "Alles in allem eine Aufführung, in der zahlreiche Aspekte ineinanderfließen und für einen erheblichen Wellengang sorgen, sodass es für den Zuschauer nicht immer einfach ist, den Überblick zu behalten."

 

 

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