Vom Wohlstand kalt gemacht

25. April 20215.Eine europäische Stadt am Meer: Zwei Flüchtlinge werden ans Ufer spült. Mit staunenden Augen blicken sie auf die schöne neue Welt, in der sie gestrandet sind. Esther Hattenbach hat Dea Lohers Erfolgsstück inszeniert.

Von Elisabeth Maier

Heilbronn, 25. April 2015.Die Zuschauer spiegeln sich in einer großen, schräg über der Bühne hängenden Wand. Sie sind im Licht ausgestellt wie die Figuren in Dea Lohers "Unschuld" – eine traurige Groteske in 19 Szenen, eine Verdichtung der Schicksale von Menschen, die sich schuldig machen. 

In Heilbronn lässt Esther Hattenbachs klug komponierte Regiearbeit die Schauspieler immer wieder in den Zuschauerraum ausbrechen und den Blickwinkel verschieben. Hattenbach spitzt Dea Lohers gesellschaftskritischen Seiltanz zwischen Leben und Tod auf eine starke Bildersprache zu, geht dabei aber nicht immer so konsequent in die Tiefe, wie es die existenziellen Fragen, die die Autorin aufwirft, erfordern.

Gott in der Plastiktüte

Die Handlung beginnt in einer europäischen Stadt am Meer, das zwei Flüchtlinge ans Ufer spült. Sie blicken mit staunenden Augen auf die schöne neue Welt, in der sie gestrandet sind. Sebastian Weiss und Tobias D. Weber gelingen als Elisio und Fadoul wunderbare komische Momente. In den abgerissenen Jogginganzügen, mit denen Alice Nierentz sie ausstattet, sind sie Ausgestoßene. Als Fadoul angeblich Gott in einer Plastiktüte findet, stellt er das Weltbild der jungen blinden Absolut (Katharina Leonore Goebel) komplett auf den Kopf. Später zahlt er ihr eine Augenoperation, die misslingt.

Die beiden lassen sich auf einen philosophischen Wettstreit ein, der letztlich in komischen Momenten verpufft, die nicht immer passen. Auch die Eltern eines bei einem Amoklauf getöteten Mädchens lassen Stefan Eichberg und Gabriel Kemmether zu stark in die Groteske entgleiten, als dass die gesellschaftliche Relevanz des Themas deutlich werden könnte.

Bittersüße Momente

Loher analysiert in ihrem Stück, das 2003 in der Regie ihres langjährigen Wegbegleiters Andreas Kriegenburg am Thalia Theater in Hamburg uraufgeführt wurde, den Zerfall einer Welt, der die moralischen Werte abhanden gekommen sind. Die Sprengkraft dieser gesellschaftlichen Diskurse vermag Hattenbach nicht überzeugend zu vermitteln. Dennoch gelingen ihr mit dem Ensemble starke Momente: Sabine Unger als alternde Philosophin Ella, die mit ihrem Lebenswerk "Von der Unzuverlässigkeit der Welt" das theoretische Rückgrat von Lohers komplexem Text liefert, kehrt die Verzweiflung einer Intellektuellen über die aus den Fugen geratene Wirklichkeit stark nach außen.

unschuld1 560 THOMASBRAUN uBunte, aber harte Welt © Thomas Braun

Bittersüß ist der Augenblick, als sich der ehemalige Medizinstudent Franz, inzwischen als Bestatter und "Versorger von Verstorbenen" angestellt, mit einer Leiche auf dem Seziertisch im erotischen Spiel verliert. Hilflos steht seine Frau Rosa daneben und hofft vergeblich auf ein Kind. Schön zeigt Bettina Burchard, was es für eine Frau bedeutet, wenn ihre Weiblichkeit endlos ins Leere läuft.

Am Ende geht eine Frau vor den Augen der Flüchtlinge ins Wasser und ertrinkt. Niemand schickt sich an sie zu retten, denn das könnte die Aufenthaltsgenehmigung kosten. Kalt und hart sind die Menschen, die in der Wohlstandsgesellschaft ihre Unschuld verlieren. Dieses Schlussbild trifft ins Herz.

Unschuld
von Dea Loher
Regie: Esther Hattenbach, Bühnenbild: Geelke Gayken, Kostüme: Alice Nierentz, Musik: Johannes Batmes, Licht: Carsten George, Dramaturgie: Anne Tysiak.
Mit: Sebastian Weiss, Tobias D. Weber, Katharina Leonore Goebel, Sylvia Bretschneider, Joachim Foerster, Bettina Burchard, Angelika Hart, Sabine Unger, Frank Lienert-Mondanelli, Stefan Eichberg, Gabriel Kemmether.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theater-heilbronn.de

 

Kritikenrundschau

Eine Woche nach der Flüchtlingskatastrophe erscheine Dea Loher "Unschuld" aktueller denn je, schreibt Claudia Ihlefeld in der Heilbronner Stimme (27.4.2015). Dabei sei Loher absurdes Drama zwölf Jahre alt. Einige Szenen der Inszenierung funktionieren richtig gut, am Ende drifte die Dramatik der ersten und letzten Fragen ins Beliebige: "ein abruptes Schlussbild, dann der Applaus des beeindruckten Premierenpublikums".

 

 

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