Kirchzarten ist wie im Irak

von Annette Hoffmann

Freiburg, 2. Mai 2015. "In der Straßenbahn wird nur noch ausländisch gesprochen" – Tagelang konnte man an öffentlichen Plakatstellen diesen Vorwurf lesen. Eine Absurdität, die sich im Alltag festsetzte. Das vom Verein zur Förderung der Jugendkultur Element 3, dem Theaterkollektiv Turbo Pascal und dem Theater Freiburg gemeinsam veranstaltete Theaterprojekt "Die Völkerwanderung", auf das diese Plakate hinwiesen, bedient hingegen keine Ressentiments. In keine der denkbaren Richtungen.

Der Mensch, kein sonderlich sesshaftes Wesen.

Die Grundidee dieses "lebendigen Archivs für Geschichten vom Kommen, Gehen und Bleiben", das Thema Migration einmal aus der Tagesaktualität herauszulösen, ist bestechend. Denn selbst durch den Freiburger Stadtteil Littenweiler, der eher durch seine Gewöhnlichkeit auffällt, hat die Geschichte der Wanderungen ihre Schneisen geschlagen. Vor 2100 Jahren zogen hier Kelten durch, vor 2000 Jahren folgten römische Legionäre, vor 900 Jahren dann siedelten sich auswärtige Tagelöhner an, um im Bergbau zu arbeiten, der die Stadt reich werden ließ und von hier aus brachen wiederum später, so referieren Frank Oberhäußer, Margarete Mehring-Fuchs und Kathrin Feldhaus, Menschen auf, um in Amerika ihr Glück zu suchen.

Voelkerwanderung 8098 560 Rainer Muranyi uHarmlose Theatralik der achtziger Jahre: Das lebende Archiv in Littenweiler  © Rainer Muranyi

Die drei stehen vor einer Art Bauwagen randvoll mit Geschichten, wir, die Zuschauer schauen auf Einfamilienhäuser mit Solardächern, in unserem Rücken befindet sich eine Brücke, die über die Eisenbahnlinie führt, dahinter ein Flüchtlingslager. Seine Baracken wurden in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erbaut, Flüchtlinge aus dem Jugoslawienkrieg kamen hier zuerst unter. Das Lager ist das Ziel dieser "Völkerwanderung", der Abend endet hier in einem gemeinsamen Fest mit Essen und Musik (Friedrich Greiling, Ro Kuijpers mit dem Heim und Flucht Orchester). Denn natürlich ist die Freiburger "Völkerwanderung" im Vergleich zu jeder Flucht ein läppischer Spaziergang.

"Die Leute sind bestimmt verschieden"

Eine groß angelegte Recherche ging diesem Kooperations-Projekt voraus. Margarethe Mehring-Fuchs, Frank Oberhäußer, Veit Merkle, Kathrin Feldhaus sowie Eva Plischke und Tobias Gralke haben sich im Stadtteil Geschichten von Spätaussiedlern angehört, von Taiwanerinnen, die unbedingt byzantinische Geschichte studieren wollen, von Afrikanern, die mittels Schleppern nach Europa kamen oder von neu Hinzugezogenen, die sich die Innenstadtlage nicht mehr leisten können.

Voelkerwanderung 8545 280 Rainer Muranyi uDie Starre löst sich, die Leute beginnen zu erzählen © Rainer Muranyi Aufbereitet sind all diese Lebensgeschichten in den Ordnern "Kommen, Gehen und Bleiben", die sich wiederum in weitere Archivalien untergliedern. Die heißen dann "ich bin C1 jetzt", "Die Leute sind bestimmt verschieden", "Und raus kamen gelbe, rote Smarties" oder eben "In der Straßenbahn wird nur noch ausländisch gesprochen". Und damit das menschliche Element nicht zu kurz kommt, gibt es die Datenträger: Leute aus Littenweiler, aus den Einfamilienhäusern und dem Flüchtlingsheim, aber auch aus Laienensembles des Theater Freiburg, die alle mit einer Archivnummer versehen sind. Zwischen den Stationen bilden diese bewegte und stille Bilder, was an die harmlose Theatralik von Spieleshows aus den achtziger Jahren erinnert.

Fremdes Leben aneignen

Stellt man sich neben diese Männer, Frauen und Kinder, löst sich ihre Starre und sie beginnen zu erzählen: dass sie sich in der Stadt ein bisschen menschlich gefühlt haben, bis sie wieder zurück ins Heim mussten, dass Kirchzarten auch ein bisschen wie der Irak ist oder dass reiche Norweger den Winter in wärmeren Gegenden verbringen, auch der Fall der Familie Ametovic ist darunter, die im Januar dieses Jahres in den Kosovo abgeschoben wurde, was auch überregional für Aufsehen sorgte.

Man hört einen französischen Akzent, Englisch und andere Sprachen, manche zeigen Familienfotos. Keiner erzählt hier seine Lebensgeschichte, die Darsteller eignen sich fremdes Leben an, ihre Biografien haben dann andere Brüche. Die Zuhörer hingegen entkommen so der Betroffenheitsfalle und doch stellt sich über den Blickkontakt Empathie her. Aber die Zerstreuung ist groß, hier ein sehnsuchtsvolles Akkordeon, dort der Verkehrslärm und häufig sind die Fluchtgeschichten sehr kurz, so dass sich diese "Völkerwanderung", was die Aufmerksamkeit angeht, selbst kannibalisiert. Die Erzählungen von "Kommen, Gehen und Bleiben" haben das Zeug einen zu packen, die szenische Umsetzung nicht.

 

Völkerwanderung
Ein lebendiges Archiv für Geschichten vom Kommen, Gehen und Bleiben
Konzept: Element3 e.V., Kollektiv Turbo Pascal & Theater Freiburg, (Margarethe Mehring-Fuchs, Frank Oberhäußer, Veit Merkle, Kathrin Feldhaus, Eva Plischke, Tobias Gralke), Ausstattung: Nina Hofmann, Komposition: Friedrich Greiling, Ro Kuijpers, Dramaturgie: Veit Merkle.
Mit: Kathrin Feldhaus, Margarethe Mehring-Fuchs, Veit Merkle, Frank Oberhäußer, Eva Plischke und Bürgerinnen und Bürger aus Littenweiler.
Musiker: Friedrich Greiling, Ro Kuijpers, Heim und Flucht Orchester, Musikverein Littenweiler. Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theater.freiburg,de

 

Kritikenrundschau

147 Beispiele aus dem "Lebendigen Archiv für Geschichten vom Kommen, Gehen und Bleiben", von  denen man als Zuschauer allerdings nur einige erzählt bekomme, schreibt Anja Bochtler in der Badischen Zeitung (4.5.2015). "Welche und wie viele, entscheiden sie selbst während der drei Zwischenstopps auf dem gemeinsamen Weg von der Haltestelle Hasemannstraße zur Flüchtlingsunterkunft an der Hammerschmiedstraße". Zwischendrin gibts viel Musik vom "Heim- und Flucht-Orchester". Am Ende laden zwischen den Baracken Bänke, Tische und Lichterketten zum Feiern mit den Bewohnerinnen und Bewohnern ein, die Leckeres für ihre Gäste gebacken haben.

 

Kommentare  
Völkerwanderung, Freiburg: wirkt nach
Im besten Sinne Bürgertheater: seriös recherchiert, angemessen aufbereitet und 'gespielt', nah an den Menschen. Dieser Abend hat das Potential, länger nachzuwirken als so manche große Stadttheaterproduktion zum Modethema Flüchtlinge. Spannend, rührend, aber auch raffiniert, weil so manchen Gutmenschen-Fettnäpfchen ausweichend, dazu ein musikalischer Ritt durchs Unterholz..
Hat mir sehr gefallen!
Kommentar schreiben