In Eleganz erstarrt

von Sascha Westphal

Recklinghausen, 3. Mai 2015. Soll das ein bürgerlicher Salon des 19. Jahrhunderts sein? Dieses leere, weite Rund, das nach hinten und zu den Seiten nur von einigen weißen, nicht sonderlich dicken Vorhängen begrenzt wird. Wo einstmals schweres Brokat und noch viel schwerere Möbel Lebensart und Reichtum demonstrieren sollten, herrscht bei Martin Kušej die reinste Abstraktion. Annette Murschetz' Bühnenminimalismus zielt dabei natürlich auf maximale Deutlichkeit: So war es damals im Paris des Second Empire. Der Prunk und der Protz der Stadt und ihrer Haute Bourgeoisie als Ausdruck größter emotionaler und gedanklicher Leere. Alle machen sie ihre Geschäfte, aber nichts macht mehr Sinn.

Wahrheit über das Bürgertum

Der Spekulant Dutrécy ist der perfekte Bürger jener Epoche. Kaltherzig und gierig, immer auf seinen Vorteil und den größtmöglichen Gewinn aus, dabei aber stets auch ein wenig sentimental und verträumt. So kann er sich ernsthaft vormachen, dass er kein Egoist sei, und den Egoismus sogar lauthals verdammen: "Ich mag Fehler haben. Aber diesen nicht! Für mich gibt es kaum etwas Abscheulicheres." Als Dutrécy diese Sätze ausspricht, ist er felsenfest von ihnen überzeugt. Bei allem Nachdruck, den Markus Hering seinen Worten in diesem Moment verleiht, bleibt dennoch kein Zweifel: Der Mann belügt sich selbst. Er kann sich einfach nicht so sehen, wie er ist. Aber auch das ist letztlich typisch für seine Klasse und die Welt, die sie erschaffen hat.

Ganz en passant offenbart sich in Eugène Labiches Salonkomödie die Wahrheit über das französische Bürgertum nach der Revolution von 1848. Kaum hat Dutrécy die hehren Sätze ausgesprochen, schon plant er zusammen mit seinem Geschäftsfreund de la Porcheraie den nächsten großen Coup. In der Oper haben sie zufällig gehört, dass ein neuer Prachtboulevard mitten durch einen Park führen soll, der Dutrécys Hausarzt Doktor Fourcinier gehört. Welch eine Gelegenheit! Also setzen die beiden Spekulanten alles daran, dem unwissenden Arzt das Grundstück abzuluchsen.

Ganz bei sich und ganz verraten

Nur kommt Dutrécy seine sentimentale Ader dazwischen. Georges, der Sohn des Bankiers Fromental, möchte unbedingt seine Nichte Thérèse heiraten. Eine Verbindung gegen die Dutrécy nichts hat, bis er etwas mehr Zeit mit seinem Mündel verbringt und sich in sie verliebt. Aber selbst die Liebe betreibt dieser "schüchterne Egoist", wie ihn de la Porcheraie einmal nennt, gleichsam als Geschäft. Alles wird bei ihm zur Täuschung und zur Intrige. Und genau das macht ihn anfällig für die Täuschungen und Intrigen der anderen. Mit einer kunstvollen Leichtigkeit lässt Eugène Labiche seine Figuren über ihre eigenen Ambitionen und Ideen stolpern. Seine Bürger sind ganz bei sich und verraten sich folglich ganz von selbst.ICH ICH ICH 02 Foto 580 c Andreas Pohlmann © Andreas Pohlmann

Aber das scheint Martin Kušej nicht zu genügen. Er greift nur wenig in Labiches Text ein und bringt doch alles aus dem zarten Gleichgewicht. Es ist wie mit dem nahezu leeren Bühnenbild, das im zweiten Akt, der im Haus des Bankiers Fromental spielt, auch noch zum Spiegel-Salon werden muss. Andeutungen und hingeworfene Wahrheiten, die den Labiche-Bürgern im Eifer des Dialoggeplänkels herausrutschen, müssen so weit verstärkt und verschärft werden, dass jeder die Fratze der Gier erkennt. So ist Wolfram Ruppertis Fromental nicht nur ein Bankier, der auf eine gute Partie für seinen zum Idealismus neigenden Sohn aus ist. Er muss sich auch gleich noch als Heuchler und Hochstapler präsentieren, der Thérèses Mitgift braucht, um sein Bankhaus zu retten.

Die Maske vom Gesicht reißen

Während Labiche all die Egoisten seiner Zeit mit liebevollem Spott bedenkt, sie dabei aber immer auch mit einer gewissen Sympathie betrachtet, sie haben fast schon etwas Tragisches, - will Martin Kušej ihnen einfach nur die Masken vom Gesicht reißen. Doch das würde in letzter Konsequenz so etwas wie Gewalt erfordern oder zumindest eine inszenatorische Radikalität, wie sie Herbert Fritschs Arbeiten auszeichnet. Davor schreckt Kušej allerdings zurück.

Ganz gelegentlich blitzt einmal etwas von Fritschs Exaltationen auf. So könnte Nora Buzalkas Thérèse, dieser Engel der Oberflächlichkeit, auf den alle Männer ihre Illusionen projizieren, durchaus in dessen bürgerlichen Horrorshows zu Hause sein. Wie Oliver Nägele, der seinen de la Porcheraie, diesen Realisten par excellence, in einem Moment der Schwäche in atemberaubende Höhen bürgerlicher Hysterie vorstoßen lässt, beherrscht auch sie die Kunst des Zuviels, während das übrige Ensemble sich in kleinmütiger Kunstfertigkeit ergeht. Das alles ist wie das Bühnenbild von exquisiter Eleganz, aber ganz ohne Leben und auch ohne Esprit. Doch wen überrascht das noch. Wo es nur Leere und keinen Salon gibt, da muss auch die Salonkomödie ausfallen.

 

Ich Ich Ich
von Eugène Labiche,  Deutsch von Charles Regnier 
Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Residenztheater München 
Regie: Martin Kušej, Bühne: Annette Murschetz, Kostüme: Heide Kastler, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Angela Obst, Licht: Tobias Löffler.
Mit: Nora Buzalka, Thomas Gräßle, Markus Hering, Thomas Lettow, Oliver Nägele, Katharina Pichler, Wolfram Rupperti, Götz Schulte, Johannes Zirner. 
Dauer: 2 Stunde 30 Minuten, eine Pause  

www.ruhrfestspiele.de  
www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Man ist ein bisschen verwundert, so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (5.5.2015), "zunächst darüber, dass dieses Stück überhaupt noch jemand macht." Labiche sei sicherlich ein guter Beobachter, aber sein Spott ist milde, sein Humor eher elegant als anarchisch. Es gebe keine Feydeau'sche Anarchie, "man fragt sich, was ein Regisseur wie Kušej damit will". "Nun, Kušej mag offenbar auch manchmal Champagner. Alles perlt." Alles sei fein, leicht und klar, fast völlig frei von Plattitüden. "Vielleicht ist genau das die Kunst hier: nicht durch einen Lachfundus zu trampeln. Aber so richtig interessant wird es nicht. Dazu geht es im Text einfach um zu wenig."

Bühnenbildnerin Annette Murschetz habe ein großes, leeres, von weißen Vorhängen eingefasstes Halbrund erstellt, schreibt Andreas Rossmann in der FAZ (5.5.2015). "Die leichtfüßige Inszenierung erklärt es zum Ort für unverbindliches Edel-Boulevardtheater, das sich in kühler Eleganz ergeht und sich nur Anflüge von Situationskomik leistet." Die Darsteller blieben unterfordert: Sie treten als Lackaffen auf und sollen Salonlöwen spielen, doch sie zeigen, außer in Ansätzen weder Klauen noch Krallen. Abgestandenes statt Abgründe, Zahmheit statt Zuspitzung. "So reicht es nicht zum bürgerlichen Bestiarium. Um dem Publikum Geschmack auf Frankreich zu machen, braucht es mehr. Die Ruhrfestspiele werden es sechs Wochen lang versuchen."     

"Martin Kusej unternehme nichts, um die Boulevardmaschinerie zu ironisieren, zu stören oder zu durchleuchten. Im Gegenteil", bilanziert Stefan Keim auf Dradio Fazit (3.5.2015). "Die virtuosen Schauspieler haben ihre Momente", dennoch laufe der Spielwitz des Ensembles oft ins Leere, weil einfach nicht erkennbar ist, was Martin Kusej mit dem Stück erzählen will. "Auch ästhetisch liefert er nur einen flauen Kompromiss." Was bleibt sei Boulevard auf schauspielerischem Edelniveau. "Als Eröffnungsinszenierung der Ruhrfestspiele ist 'Ich Ich Ich' eine Enttäuschung."

"Alles ist erlesen", resümiert Hans-Christoph Zimmermann in der Neuen Zürcher Zeitung (22.5.2015): "Die Schauspieler agieren auf exquisitem Niveau", das "Spieltempo bleibt wohltemperiert, die Groteske fein abgeschmeckt, und den Slapstick gibt es als Amuse-Gueule dazu." Allerdings: "Perlende Salon-Ungeheuerlichkeit oder anarchische Komik sucht man an diesem Abend vergeblich: Was nach Irrsinn oder Wahnwitz riecht, verkneift sich Kušej. Ein ziemlich harmloser Spekulanten-Zoo, dem man da zähe zweieinviertel Stunden zuschaut."

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