Auf Pille

von Falk Schreiber

Hamburg, 3. Mai 2015. "Loslabern!", sagt Rainald Goetz. Und Alexander Maria Schmidt labert los. Steht am Bühnenrand und erzählt: Wie der Berliner Künstler Karl Schmidt am 9. November 1989 einen Nervenzusammenbruch erlebt, drogenbedingt wahrscheinlich. Wie er nach Hamburg zieht. Wie er eine Therapie macht, um schließlich in einer betreuten Wohneinrichtung in Altona zu landen. Wo er seine Vergangenheit aber auch nicht abschütteln kann: Seine Berliner Kumpels Raimund und Ferdi nämlich haben derweil ein Technolabel gegründet und machen richtig Kohle – Mitte der Neunziger konnte man mit Musik noch gut was verdienen, zumindest mit doofem Prolltechno, wie ihn Sigi ("Der Hit mit der Flöte") oder die grenzdebilen Hosti Bros machen. Die Labelbelegschaft jedenfalls wird auf Tour geschickt, und weil Mitte der Neunziger alle auf Pille sind, kommt eigentlich nur einer als Fahrer in Betracht – Karl Schmidt, der medizinisch verordnet clean bleiben muss. Exposé beendet, kurze Laberpause.

So ging die Zeit rum 

Das Altonaer Theater hat seine Nische in der Hamburger Theaterszene darin gefunden, dass es fast ausschließlich Literaturadaptionen spielt, in der Regel erfolgversprechende Romane neueren Datums wie Timur Vermes' Er ist wieder da oder Jonas Jonassons Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand. Was dem Privattheater meist die dringend benötigte hohe Auslastung verschafft und außerdem manchmal Uraufführungen nach Altona bringt, deren Strahlkraft im Grunde zu hell für das Haus ist. So auch Sven Regeners "Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt", der vierte Teil der "Herr Lehmann"-Reihe (aus der hier mit "Neue Vahr Süd" und dem Titelroman zuvor schon zwei Teile für die Bühne adaptiert wurden). Regie führt Mona Kraushaar, und die Rolf-Mares-Preisträgerin 2014 trifft den zwischen Lakonie, Geschwätzigkeit und norddeutscher Unaufgeregtheit changierenden Ton der Vorlage recht gut.

Im Grunde erzählt sie Regeners Roman mehr oder weniger brav und chronologisch nach, die Szenerie skizziert sie geschickt mittels vielfältig einsetzbarer, riesiger Container (Bühne: Katrin Kersten), manchmal schneidet sie (verhältnismäßig unnötige) Videosequenzen dazwischen, ansonsten verlässt sie sich darauf, dass das Ensemble die von Gag zu Gag plätschernde Handlung schon inhaltlich auffangen möge. "So ging die Zeit rum", beschreibt Karl an einer Stelle die Gleichförmigkeit der nicht enden wollenden Autobahn zwischen Berlin und Bremen. "Langsam, aber egal. Langweilig, aber okay." Mal ehrlich, das könnte man auch über Regeners Text sagen, und für einen Roman wäre das alles andere als eine negative Wertung. Aber fürs Theater?

Magical Mystery 4 G2 Baraniak"Die Zukunft ist eine dumme Sau": Alexander Marian Schmidt als Karl Schmidt und Manuel Klein
als Schöpfi hinten.  © G2 Baraniak

Lob des Ensembles

Die Qualität der "Herr Lehmann"-Reihe ist, dass Regener leichthändig Figuren erschafft, die Charaktere sind, nicht nur Typen. Karl ist nicht nur ein sympathischer Loser, er ist ein fein gezeichneter, tragischer Held, über dem immer die Gefahr eines Rückfalls in die Psychose schwebt, Ferdi ist nicht nur ein zugekokster Zyniker, sondern eine gescheiterte Gestalt, die weiß, dass es interessantere Lebensinhalte gibt als provinzielle Dancefloors mit Hits wie "Hallo Hillu" zu versorgen.

Der Knackpunkt für eine "Magical Mystery"-Inszenierung liegt darin, diese Zwischentöne einzufangen, die Figuren nicht zu Chargen verkommen zu lassen, die eine Szene, die in den Neunzigern durchaus für weite Kreise wichtig war, als Witzfigurenkabinett denunzieren. Und da kann man das Ensemble der Altonaer Inszenierung nicht genug loben: Alexander Maria Schmidts Karl, ein sanfter Riese, in dessen Augen die Angst flackert. Jacques Ulrichs Ferdi, dessen Idealismus zwischen Drogen und achtlos weggekipptem Champagner immer noch glüht, und der die Tourgemeinschaft mit einer flammenden Rede dazu auffordert, den Auftritt in "Schrankenhusen-Borstel" doch bloß nicht ausfallen zu lassen, weil: die Jugendlichen brauchen uns! (Der Auftritt wird natürlich ein Fiasko.) Oliver Warsitzs Sozialarbeiter Werner, so jovial wie gefährlich und am Ende doch ein Fels in der Brandung. Das ist Entertainment, klar, aber es ist Entertainment, das seine Figuren ernst nimmt. Zumindest die meisten: Die Frauen bleiben verhältnismäßig blass. Vernünftige Frauenfiguren sind auch schon bei Regener Mangelware, aber Franziska Beate Reincke (als Karls Love Interest Rosa) und Katja Uffelmann (als überspannte Musikerin Sigi) wissen nicht wirklich mehr aus ihren Rollen zu holen als das, was ihnen der Text vorgibt.

Das Programmheft versucht derweil zu erklären, was das eigentlich war, damals in den Neunzigern: Techno. Was ein wenig am Thema vorbei geht, denn Regeners Roman handelt überhaupt nicht von Techno, sondern von einer Odyssee durch das gerade so halb zusammenwachsende Deutschland: Eigentlich ist es egal, ob die beschriebene Gemeinschaft nun ein Fußballverein ist, eine fahrende Theatertruppe oder ein Plattenlabel. Alexander Golz hat ein paar hübsche Four-to-the-Floor-Tracks komponiert, das reicht eigentlich schon, damit man kapiert, in welchem Setting man sich bewegt, die Statements von Elias Canetti, Andi Teichmann und Rainald Goetz bräuchte man da überhaupt nicht mehr. "Loslabern", sagt Goetz. "Bam Bam Bam", sagt Westbam. Schön.

 

Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt (UA)
Nach Sven Regener, Bühnenfassung von Anja Del Caro und Mona Kraushaar
Regie: Mona Kraushaar, Bühne: Katrin Kersten, Kostüme: Aleksandra Pavlovic, Musik: Alexander Golz, Dramaturgie: Anja Del Caro
Mit: Alexander Maria Schmidt, Ole Schloßhauer, Jacques Ullrich, Franziska Beate Reincke, Katja Uffelmann, Manuel Klein, Luis Lüps, Flavio Kiener, Oliver Warsitz
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.altonaer-theater.de

 

Kritikenrundschau

Der Regie und dem Hauptdarsteller sei es zu verdanken, dass diese Reise durch die Techno-Abgründe wie ein gut geschmierter Viertakter laufe. "Niemals hängt die pointenreiche Handlung in den zweieinhalb Stunden", so Heinrich Oehmsen im Hamburger Abendblatt (5.5.2015). "Mit raschen Umbauten zu einem fast immer im Hintergrund wummernden Beat bewerkstelligen die neun Schauspieler die Szenenwechsel und schaffen Tempo." Mona Kraushaar, die vor sechs Jahren bereits Regeners "Herr Lehmann" zu einem Erfolg am Altonaer Theater gemacht habe, lege mit "Magical Mystery" nach. "Der Abend sei perfekt fließend und kurzweilig mit wortwitzigen Dialogen." Höchstes Lob gebühre in dieser mit stürmischem Beifall gefeierten Inszenierung Alexander Maria Schmidt, "der die schwierige Rolle des Karl Schmidt transparent macht. Er ist labil, zärtlich, fürsorglich, ängstlich, zupackend, pragmatisch. Für ihn birgt 'Magical Mystery' Neuanfang und Zukunft."

"Hektik, Chaos, Bumm-Bumm-Beat und schwachsinniges Gelaber nerven, von Kraushaar bestens im starken Containerbühnenbild von Katrin Kersten organisiert", findet MN in der Welt (5.5.2015). Einzig Alexander Maria Schmidt als Charlie erweise sich als Mensch in der Typensammlung. "Wie ein Fels in der Brandung hält er sich, ordnend, warmherzig und klarsichtig zugleich – und dennoch zerrissen von Angst vor Panikattacken."