Theatertreffen 2015 - Susanne Kennedys gespenstisches Fassbinder-Theaterremake "Warum läuft Herr R. Amok?"
Kriechende Fiesheit
von Georg Kasch
3. Mai 2015. Meinen ersten Fassbinder-Film habe ich mit 15 gesehen. Damals scannte ich als ungeouteter Teenager allwöchentlich die Fernsehzeitung nach potentiellem Identifikationsmaterial. Wenn's was mit schwuler Story gab, trug ich heimlich den kleinen Schwarzweiß-Zweitfernseher auf mein Zimmer, stellte mir den Wecker (Filme mit schwuler Thematik liefen in den 90ern meist nachts) und guckte am nächsten Morgen entsprechend müde aus der Wäsche. Einmal schaute ich so "Faustrecht der Freiheit", in dem ein (bürgerlicher) Mann seinen (proletarischen) Lover bis zum Letzten ausbeutet – ein Schlag in die Magengrube, nach dem ich bestimmt zwei Wochen lang deprimiert war.
Dieser Ur-Schlag wiederholte sich vor einiger Zeit, als ich "Warum läuft Herr R. Amok" sah. Diese Sprachlosigkeit in allem Gequatsche, das Bleierne im Alltäglichen, das Böse des Banalen – unerträgliche 90 Minuten lang. All die Spuren, die die durchökonomisierte Gesellschaft in den zwischenmenschlichen Beziehungen hinterlässt. Die Fremdbestimmtheit der Figuren, gefilmt in Farben, die wirken, als hätte man ihnen zu viel Blut abgezapft. Nach all den Szenen, in denen Herr R. durch sein fades Leben trottet, wirkt sein Triple-Mord an Frau, Nachbarin und Sohn wie eine Befreiung.
Was man vom Mord in Susanne Kennedys Münchner Theaterfassung (hier die Nachtkritik) schon deshalb behaupten kann, weil sie einem in den zwei Stunden zuvor so richtig auf die Nerven geht. Ihre an Vinge / Müller erinnernde und bei Fegefeuer in Ingolstadt erprobte Idee, die Schauspieler mit (beweglichen) Masken zu versehen und zum (von anderen eingesprochenen) Playback-Text agieren zu lassen, hat sie weitergedreht: Jetzt schlüpfen die Darsteller abwechselnd in die Hauptrollen von R. und seiner Frau, zwischen den Szenen zeigen Projektionen mit Homevideo- und früher Gameästhetik einen realen holzgetäfelten Raum, mal mit Gummibaum, mal mit Hollywoodschaukel, der dem Hobbykeller-Alptraum auf der Bühne einigermaßen ähnlich ist.
Hier stehen die lebenden Puppen herum wie bestellt und nicht abgeholt, lassen ihre fremdgesteuerten Sätze in die bleiernen Pausen tröpfeln und die langen Blicke ins Publikum schweifen. Manchmal, wie bei der Lehrersprechstunde, gibt's einen comic relief mit Loriot-Appeal. Meist bleibt die Sache aber bitterernst, ahnt man in den aufgerissenen Augen-Blicken allenfalls ein plötzliches Erschrecken über das verpfuschte Leben. Ein Kunst-Exerzitium und Gedulds-Exorzismus, der auf wundersame Weise die in alle Ritzen kriechende Fiesheit des Films noch zu übertreffen vermag.
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