Wie heißt das Problem?

Berlin, 4. Mai 2015. Auch die zweite Theatertreffen-Premiere wurde unter das Zeichen des politischen Engagements für die Belange von Refugees gestellt. Das Ensemble unterbrach den Applaus, indem Walter Hess eine Solidaritäts-Adresse verlas und das Publikum darum bat, am Ausgang für das Bündnis My right is your right zu spenden.

Blackfacing-Vorwurf

Das vorhergegangene Stück hatte inhaltlich nichts mit dem Thema zu tun; anders als die Eröffnungsinszenierung Die Schutzbefohlenen von Nicolas Stemann, die trotz ihres klaren politischen Impetus', markiert durch Tischgespräche mit Flüchtlings-Aktivisten, Refugees und Künstlern im Anschluss ans Theater, heftig umstritten ist: Das schlägt sich auch im nachtkritik.de-Kommentarthread zur Eröffnungskritik nieder, wo Kommentator Kolja berichtet: "Wagner Pereira de Carvalho, Künstlerischer Leiter des Ballhaus Naunynstraße, der einzige Schwarze Theaterleiter im deutschsprachigen Raum verließ die Aufführung gestern nach 45 Minuten aus, wie ich finde verständlichen, politischen Gründen. Er schreibt dazu bei facebook: 'Wenn weiße privilegierte Männer-Regisseure auf dumme Ideen kommen, um die Mehrheitsgesellschaft zu unterhalten, bleibt mir nichts anderes übrig, als sie zu verdammen.'" "Einfach rausrennen ist doch keine Haltung", findet dagegen Kommentator/in Kira.

Carvalho äußert sich (bisher?) nicht im nachtkritik.de-Forum, aber auf dem Theatertreffen-Blog, wo er seinen Kritikpunkt konkretisiert auf die Blackfacing-Szene in Stemanns Inszenierung und schreibt: "Meine Haltung ist, seit ich mich als politischen Menschen verstehe, sehr klar: Wenn Rassismus (auch) auf der Bühne praktiziert wird, reagiere ich sofort. Dies geschah in der Vorstellung von 'Die Schutzbefohlenen' von Nicolas Stemann am 1. Mai. Blackface ist Rassismus pur (...)."

Meinungsstreit

Über die Inszenierung selbst gehen die Meinungen der Kommentator*innen auseinander – genauso wie auch die der Berliner Printkorrespondent*innen: "Selten kommt man so gewissensverwirrt aus dem Theater", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (4.5.2015) und kommt zum Schluss: "Stemann stürzt den Zuschauer kontrolliert in die moralische Verwirrung und überantwortet ihn so der Wirklichkeit."

Auch Sonja Vogel sieht in ihrem Bericht in der taz (4.5.2015) über Eröffnungsinszenierung und Thementag Flucht und Asyl in Stemanns Inszenierung "mehr als ein bloßes Vorführen der gesellschaftlichen Konflikte nach Brecht", und zwar durch den "Einbruch der Realität der Marginalisierten". Mit den illegalisierten SchauspielerInnen komme das konkrete Scheitern der Gesellschaft auf die Bühne, so Vogel.

In ihrem am 7. Mai nachgereichten Bericht zum Thementag in der Neuen Zürcher Zeitung kommt Sieglinde Geisel zu dem Schluss: "Es sieht ganz danach aus, als würde sich das politische Theater neu erfinden, auf demselben schwankenden Boden der europäischen Werte, auf dem die europäische Politik längst den Halt verloren hat."

Rüdiger Schaper hingegen benennt im Tagesspiegel "das Hauptproblem des Stemann-Arrangements, im Grunde eine Schweinerei" folgendermaßen: "Die Flüchtlinge bleiben eine anonyme Gruppe. Kaum, dass man ihren Namen erfährt, ihre Herkunft. Was ihnen widerfahren ist, was sie durchgemacht haben, kann und soll man sich denken. Warum dürfen sie nicht selbst davon sprechen?" Schaper schließt: "Schlechtes Theater für eine gute Sache! Gebt das Geld, das diese Kunst kostet, direkt an die Flüchtlingshilfe. Über diese Möglichkeit muss man auch reden."

Ergänzung zum Thementag

Zum Schluss dieser Zusammenfassung des Diskussionsstands nach dem TT-Eröffnungswochenende noch eine Ergänzung zu unserem Bericht vom Thementag Flucht und Asyl am 2. Mai: Der Thementag wurde beschlossen mit einer Aktion des JugentheaterBüro-Projekts KulTür Auf!: Mit einem überdimensionalen Stempel stempelten die Aktivist*innen vor dem Haus der Festspiele den Slogan "Name it Racism" auf Papierbahnen und erklären in einem Videobeitrag auf dem Theatertreffen-Blog, dass sie mit der Aktion ihre Überzeugung demonstrieren wollten, "dass wir uns an die Benutzung des Wortes Rassismus gewöhnen müssen, um gesellschaftliche Zustände zu beschreiben". Das Theatertreffen versuche offensichtlich, sich auseinanderzusetzen – "trotzdem gibt's eine Jury, die aus sieben weißen Leuten besteht, die offensichtlich alle einen akademischen Background haben", so Nils Erhard von KulTür Auf! In dem Videobeitrag. Ein bisschen gesinnungspolizeilich wirkte das schon – aber die Diskussion lässt sich ja offensichtlich nicht davon stören.

(sd)

Alles zum Theatertreffen 2015 gesammelt in der (mitwachsenden) Theatertreffen-Übersicht

 

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