Gespenster an der Gehhilfe

von Christoph Fellmann

Luzern, 8. Mai 2015. Wehe, wenn es klingelt, und dieser Mann steht vor der Tür. Der Herr von der Enkeltrickprävention. Er meint es gut, aber natürlich weiß man in diesem Moment, dass man unwiderruflich alt ist. Und bald wird dieser eloquente Herr ein paar unheimliche Fragen stellen: "Wer braucht Sie noch?" Und dann wird er aufzeigen, wohin das führt, wenn man sich nicht mehr selbst mit Klopapier versorgen kann. Man wird dann zum schwitzenden, nach Scheiße riechenden Etwas, das sich in den Regalen des Großmarkts nicht mehr auskennt. Und so wird man ins Heim überredet und landet in der Anstalt, wie sie hier heißt, im neuen, jetzt in Luzern uraufgeführten Stück von Katja Brunner. "Geister sind auch nur Menschen", heißt es, und auch der nette Mann vor dem Haus ist nur einer von der Sorte. Durch ihn spricht ein Lautsprecher den Text, den jeder anständige Mensch nur denkt: "Wer will Sie schon?"

Erst kürzlich hat Alvis Hermanis im Zürcher Schiffbau ein Requiem auf alte Menschen im Heim eingerichtet. Sein maskenbildnerisch bravourös verrunzeltes Ensemble zeigte, so hieß der Abend, "Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper". Es war ein so sentimentaler wie langweiliger Abend, der ob seiner Begeisterung für knisterndes Vinyl nicht merkte, wie neben dem Plattenteller das Theater verendete. Wie anders diese Luzerner Produktion. Sie gleicht einem Exorzismus.

Gesellschaftliche Nachtmahr

Katja Brunner, geboren 1991, treibt in dieser Textfläche, aus der gelegentlich vernehmbar die Stimmen einer Frau Heisinger, eines Herrn Metzler oder einer Frau Simplon aufsteigen, eine Gesellschaft vor sich her, die auf die Aussicht, alt zu werden, mit panischer Angst reagiert. Und die Regisseurin Heike M. Goetze, geboren 1978, zeigt den Text folglich als Nachtmahr eines jungen und jung gebliebenen Luzerner Ensembles, das sich in halb weiße, halb uringelbe Kostüme gesteckt sieht. So sind sie Insassen dieser Anstalt und gleichzeitig Pfleger. Jedenfalls bis sie in der Mitte des Stücks durch ihre eigenen, greis gewordenen Wiedergänger heimgesucht werden: Im Rollstuhl dämmernd, werden sie von sieben älteren Damen und Herren aus der Statisterie gewaschen, gefüttert und überhaupt für einen "ruhigen Nachmittag" gerüstet.

 GeistersindauchnurMenschen2 560 TanjaDorendorf TTFotografie uVom Insassen zum Pfleger ist es nicht weit: "Geister sind auch nur Menschen"
© Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Das ergibt dann in Echtzeit den einen oder anderen ergreifend gebrechlichen Slapstick, etwa, als Herr Riegler (Clemens Maria Riegler) sein Hemd angezogen bekommt. Aber noch viel mehr: Denn in dieser langen Szene steckt ja nicht nur die Binsenwahrheit, dass die meisten von uns alt und mürbe werden. Sondern auch die neoliberale Realität, wie sehr unsere Altenbetreuung auf unsere treuesten Freiwilligen angewiesen ist, nämlich die Alten. Das ist die brandschwarze Pointe in diesem Stück, das nicht nur deprimierend ist und voll der kleinen und großen Grausamkeiten, die Katja Brunner mit ihrem Aufnahmegerät dem Alltag in Altersheimen abgelauscht hat. Sondern eben auch hoch komisch und in vielen Momenten seltsam würdig.

Malaise trifft Menschenfreundlichkeit

Das liegt zuerst am Text, den Katja Brunner mit weniger brachialen Amplituden ausgestattet hat als ihr Debüt Von den Beinen zu kurz, für das sie 2013 den Mülheimer Dramatikerpreis erhalten hat, oder auch ihre Trauerränder, die sie 2014 in Luzern gezeigt hat. Es ist hier, als habe sich eine Art von Alterspsychedelia auf ihren harten, furchtlosen Stil gelegt. Die Sprache bleibt explizit, packt aber immer wieder ins Leere zu. Oder sie scheint, vor allem in den Monologen, verschliffen zum Strom eines Bewusstseins, das die Dinge noch genau registriert, aber doch nur noch in Bruchstücken.

Die Alten, die eben noch in heftigen Textauswürfen ihre trockengelegten Triebe beklagten und ihre vollgekoteten Wände, sie fallen dann in den sich umständlich entschuldigenden Duktus von Menschen, denen man eingeredet hat, es sei das Schlimmste, der Allgemeinheit zur Last zu fallen. "Sie möchte gar nichts für sich getan haben sehen", heißt es dann, oder: "Man möge die Heimleitung höflichst und tunlichst benachrichtigen, das hier ein Körper zu liegen gekommen ist."

Es sind Sätze, in denen sich die Malaise und die Menschenfreundlichkeit begegnen wie bei Robert Walser, und sie sorgen an diesem Abend immer wieder für einen schönen, wenn auch trauernden Ton. Und wenn dann Herr Baus (Christian Baus) zum Karaokeprogramm eben gerade keine Sterbearie vorträgt, sondern den schwofenden Herzschmerz von Chicagos "You Leave Me Now", dann vergisst man für diesen Moment, dass er bis dahin und vor aller Augen auf dem Abort existiert hat.

Wiedersehen in Pflegestufe drei

Es ist, als habe sich Heike M. Goetze einen Satz von Katja Brunner besonders zu Herzen genommen: "Ich sehe, dass du fühlst", heißt es gegen Ende des Stücks. Es ist also eine Hoffnung eingebaut in diese irrlichternde Vision des Alterns und Verfallens, die im Tanznachmittag der verratzten Bettmatratzen zum Höhepunkt kommt. "Wir sehen uns wieder", sagt eine Stimme noch, "Pflegestufe drei". Und das klingt nun wieder wie eine Drohung. Sollen wir uns fürchten? Vielleicht. Aber vielleicht ist dieser Theaterabend auch nur ein Enkeltrick. Ein großartig gelungener.

Geister sind auch nur Menschen
von Katja Brunner
Uraufführung
Regie: Heike M. Goetze, Bühne: Ricarda Beilharz, Licht: Mariella von Vequel-Westernach, Musik: Malte Preuss, Dramaturgie: Ulf Frötzschner.
Mit: Dagmar Bock, Wiebke Kayser, Juliane Lang, Christian Baus, Jörg Dathe, Hans-Caspar Gattiker, Malte Preuss, Clemens Maria Riegler, Patrick Slanzi u.a.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.luzernertheater.ch

 

Die Autorin Katja Brunner war 2013 zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen.

Kritikenrundschau

Tuuli Stalder auf Radio SRF 1 (10.5.2015): Eine "Serie von Monologen", keine "eigentliche Handlung", aber ein gemeinsames Thema: Das Alter. Die Autorin verwende eine "kraftvolle Sprache, direkt und teilweise auch deftig". Heike M. Goetze gehe mit Brunners Texten "spielerisch" um. Sie würden direkt auf der Bühne gesprochen, ertönten vom Lautsprecher oder erschienen als Schriftbild auf der Bühne. Goetze lasse das Schauspielensemble von alten Leuten pflegen, ein Einfall, der besteche, eine "tragisch-komische Situation". Die Inszenierung habe Längen, trotzdem überzeuge sie durch intensive Sprache und die "einfallsreiche Inszenierung".

Barbara Villiger Heilig schreibt auf NZZ Online, der Webpräsenz der Neuen Zürcher Zeitung (11.5.2015) "Zimperlichkeiten" kenne Katja Brunner keine. "Barmherzige Momente", wie sie Alvis Hermanis kürzlich in seiner Zürcher Opernrevue zelebrierte, seien in Luzern die Ausnahme. Hier zeige sich das "Alter in seiner ganzen Härte als Demütigung". Der "virtuos vor sich hin mäandernde Text", den die Regisseurin "variationenreich aufteilt zwischen Einzelstimmen und Gruppenszenen", strotze vor "bösem Witz", und doch unterlege ihn "anrührende Poesie": "Niemand will uns zuhören", laute die Klage der alten Menschen. "Abhilfe schaffet auch Brunner nicht, indem sie die Zustände an- und beklagt". Die "Luzerner Revue", deren "undramatische Anlage" Heike M. Goetze "szenisch dynamisiert (und bisweilen auch nur dekoriert)", gebe "solcher Ohnmacht eine laut und klar vernehmliche Stimme. Bei allem schwarzen Humor: ein potentes Plädoyer".

Tobias Becker auf Spiegel Online (11.5.2015): Brunner habe eine "Wutrede" geschrieben gegen die "Zumutungen des Alters", "deftig und derbe und auch mal ordinär". Doch sei ihr Text nicht depressiv, er stecke "voller Sehnsucht": nach dem Tod, nach dem Leben. "Wild mäandernde Metaphern" und "wuchtige Wortkomposita" sprengten die Grenzen der Sprache, "Textrandale, bitterböse Wörtergewitter", die an Jelinek erinnerten, an Thomas Bernhard. Goetze betone das "Groteske und Fantastische" der Vorlage. Wenn Brunners Stück nicht so stark sei wie ihr Debüt, die Inszenierung sei "der Hammer". "Man sollte Brunners Texte künftig nur noch in Goetzes pflegende Hände geben". Goetze kontere "den Overkill sprachlicher Mittel" mit einer Vielfalt "szenischer Einfälle". Es sei zum Heulen und es sei schön.

Im Schweiz am Sonntag (10.5.2015) schreibt Kurt Beck, dass Katja Brunner alten Menschen eine Sprache gebe, damit wir ihre Nöte und Träume hören. "Die deutsche Regisseurin Heike M. Goetze unterstützt mit ihrer Inszenierung die versöhnlichere Seite des Stücks. Neben Wut und Trauer lässt sie auch den leisen Emotionen und dem Humor Raum. Mit ruhigen Bildern lässt sie den Text Wirkung entfalten. Einen wichtigen Part hat die Musik von Malte Preuss, die Stimmungen aufgreift, lautstark anheizt oder besänftigend auf das Geschehen einwirkt."  

 

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