Big Love is watching you

von Christoph Fellmann

Zürich, 9. Mai 2015. Das Leben als Saustall ist zurück. In Kill Your Darlings hat man sie vor drei Jahren schon in Berlin gehört, "Life Is A Pigsty", diese Klagehymne von Morrissey auf ein unaufgeräumtes Liebesleben. Und jetzt hat René Pollesch das Lied nach Zürich mitgebracht, wo es aber nicht mehr viel zu schöne Turnszenen vertont, sondern wo ein 21-köpfiger Chor dazu die Zähne geputzt kriegt und schließlich zu Marie Rosa Tietjen in die Badewanne steigt. Doch alles Saubermachen hilft nichts, der Chor steht trotzdem wie eine unverhofft eingezogene Wand in der doch eher kleinen Wohnung. Als Wand notabene, die den Eindruck erweckt, als blicke sie die Bewohner an, ja, als spreche sie zu ihnen wie die Sperrschrift auf der betonierten Bühnenrückwand: "DEAD END".

LoveNoLove1 560 Matthias Horn uEin Chor ist ein Netzwerk ist eine Wand bleibt eine Sackgasse © Matthias Horn

Wer "Kill Your Darlings" oder auch andere Stücke von René Pollesch gesehen hat, wird sich nun allerdings auch in "Love / No Love" nicht wundern, dass der Chor / die Wand darauf besteht, ein Netzwerk zu sein. Ein Internet der Dinge wohl sogar, das als kluge Klingel, intelligente Dusche und smarter Hometrainer zu den Menschen nach Hause kommt, Möbel spielt – und auch diese WG aus Maria Rosa Tietjen, Inga Busch und Nils Kahnwald zur Annahme verführt, hinter dem Netzwerk müsse doch ein Subjekt existieren. Eine Innerlichkeit. Doch wenn wir etwas lernen in Polleschs neuer Soirée, dann dies: Auch so ein Netzwerk bleibt eine Wand bleibt eine Sackgasse. "Ich dachte, du bist ein Netzwerk, aber du siehst aus wie ein Fließband", sagt Inga Busch, und: "SCHEISSE!"

"Wir hätten so eine gute algorithmische Beziehung führen können"

Es geht an diesem Abend also unter anderem um das, was man den "smarten Kapitalismus" oder die "restrukturierte Menschheit" genannt hat: Um die digitale Ökonomie und ihre kuschelige Rhetorik der Kooperation, des Teamworks und des Teilens, die nichts anderes tut, als dem Markt bisher private, intime, kommerziell nicht genutzte Räume zu erschließen. "Die Welt scheint ein riesiges Netz zu sein, aus dem alle anderen sozialen Formen verschwunden sind", heißt es einmal, und: "Mir kam Kooperation schon immer schal vor. Mit eigener Hand das zu tun, was die Herrschenden getan sehen möchten." Dass die Algorithmen schon jetzt unsere Kreditwürdigkeit oder unsere Krankenakte von morgen errechnen, wird uns alle in naher Zukunft dazu zwingen, zu Maklern unserer eigenen Daten zu werden.

Und das ist der Punkt, an dem sich die zwei großen Themen des Abends zu fassen kriegen. Big Data und Big Love. René Pollesch zeigt die Liebe als Übungsfeld, auf dem wir den Handel mit unseren privaten Daten trainieren. "Ich geb dir ja gerne über mich Auskunft", sagt Marie Rosa Tietjen, und Inga Busch pflichtet bei: "Ich hab dein Essen bezahlt, und du nahmst dafür an einer Umfrage teil, in der ich wissen wollte, was du so machst." Das ist so lange ein gutes Geschäftsmodell, wie die Liebe nicht zur Sackgasse wird, zur Wand, zum Netzwerk. Zum toten Etwas in der Wohnung, hinter dem man nur noch gewohnheitshalber ein Subjekt oder eine Innerlichkeit vermutet, etwas, das man wenn schon nicht mehr lieben, so doch wenigstens noch liken kann. "Wir hätten so eine gute algorithmische Beziehung führen können", sagt Nils Kahnwald, und: "FUCK!"

Zizek als Hometrainer

Doch es gibt eben nur Liebe oder keine Liebe. Wie in "Smoking / No Smoking", dem Film von Alain Resnais, in dem das Leben einer Frau einen ganz anderen Verlauf nimmt, je nachdem, ob sie sich für oder gegen eine Zigarette entscheidet. Und so rauchen und reden sich Busch, Tietjen und Kahnwald bravourös durch den Abend, der Chor tanzt sexuelle Reize zum Geschäftsmodell von Jamiroquai und Madonna, das Publikum lacht und erträgt geduldig ein paar lose monologische Fäden über Darknet und Basketball, dies und das. Denn es sitzt bei Pollesch mittlerweile ja saugemütlich, wie in einer vertrauten Wohnung, mit Agamben als Duschkopf und Zizek als Hometrainer. Bloß den unheimlichen Blick der Wand, den hat man an diesem Abend eigentlich nicht gespürt.

 

Love / No Love
von René Pollesch
Regie: René Pollesch; Bühne: Bert Neumann; Kostüme: Sabin Fleck; Licht: Lothar Baumgarte; Dramaturgie: Karolin Trachte; Chorleitung: Christine Groß.
Mit: Inga Busch, Marie Rosa Tietjen, Nils Kahnwald und Chor.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

In welchen Pollesch-Abenden sonst noch ein Chor auftrat? Zum Beispiel hier: Ein Chor irrt sich gewaltig (Berlin, 2009), Mädchen in Uniform (Hamburg, 2010), Kill your Darlings! Streets of Berladelphia (2012), Herein! Herein! Ich atme euch ein! (2014).

Zuletzt besprach nachtkritik.de am Schauspielhaus Zürich: Die Zofen in der Regie von Bastian Kraft (4/2015).

 

Kritikenrundschau

Pollesch-Abende seien "ja immer so etwas wie ein kurzer, heftiger Flirt. Sie stürzen sich in einen hinein, sie reizen die Situation aus, und hinterher hängt man ihnen ein wenig verwirrt nach. Es ist die schönste Verwirrung, auch hier", schreibt Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (11.5.2015). Allerdings sei "Love / No Love" sicherlich nicht der stärkste Pollesch, nicht der originellste und auch nicht der überspannteste, doch der Besuch lohne "wegen des überwältigenden Furors der drei Darsteller Inga Busch, Nils Kahnwald und Marie Rosa Tietjen und des 21-köpfigen, enorm sportiven Chors, der ebenso virtuos ein multiples Liebes-Gegenüber darzustellen vermag wie Möbel, ein Fliessband oder ein soziales Netzwerk."

"So eine Gaudi kann Gescheitheit sein, und so cool Komödie." So lässt Alexandra Kedves ihre Rezension über den neuen Pollesch-Abend, "ein erstklassiges Theatererlebnis", im Tages-Anzeiger (11.5.2015) beginnen. Es sei "schlicht genial, wie Autor und Regisseur Pollesch seine fein miteinander verzahnten Satz-Maschinen, seine intelligent wuchernden Wortuntersuchungen mit einer komischen Comedy-Choreografie konterkariert; wie er jeden Tiefsinn erbarmungslos plattschlägt." Und Kedves schließt: "Die richtige Stelle, nach sich selbst zu suchen, befindet sich derzeit definitiv in Zürich, in der Box im Schiffbau, bei René Polleschs 'Love/No Love'."

"Wer den immer laut und rasch vorgetragenen Text vorschnell als platt und sinnlos verurteilt, muss wohl ein Bildungsbürger von gestern sein", vermutet Roger Cahn auf Deutschlandradio Kultur (10.5.2015). Denn Pollesch bewege sich mit "Love/No Love" "voll am Puls der Zeit: Man redet über alles und jeden, hat jedoch schnell mal genug von einem Thema." Diese Themen seien "all jene Befindlichkeiten, die Menschen heute beschäftigen – oder eben auch nicht." Dieses "junge" Theater sei "ein brillantes Theater-Happening", die Schauspieler und der Chor zauberten "einen gigantischen Text virtuos auf die Bühne".

 

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