Apropos Chicks Now

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 17. Mai 2015. Bei der Abschlussdebatte der Theatertreffen-Jury war man sich am Sonntagnachmittag auf dem Podium einig, dass wir "in schlimmen Zeiten" leben. Und dass die eingeladenen Inszenierungen das widerspiegeln. Nur: Was meinen die Juroren mit "schlimme Zeiten"? Meinen sie den Krieg im Nahen Osten, meinen sie den Krieg in der Ukraine, meinen sie die Menschen, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrinken, meinen sie die Gentrifizierung in Berlin-Kreuzberg, das Zeitungssterben? Wie lokal oder global war das eigentlich gemeint?

Baal2 560 ThomasAurin u"Baal"auf dem Weg ins Herz der Finsternis: Aurel Manthei und Andrea Wenzl  © Thomas Aurin

Es ist Krieg und wir gehen hin

Frank Castorfs "Baal", der das Theatertreffen mit seiner erzwungenen Derniere am Sonntagabend abschloss, positioniert sich ähnlich diffus zur Weltlage und kann aber das Recht der Kunst für sich reklamieren. Es ist Krieg, aber es ist auch lustig und glamourös. Es ist dunkel und unübersichtlich auf der Bühne von Aleksandar Denic, aber das erleuchtete Auge der Live-Kamera findet immer wieder animierte Schauspielergesichter oder sich darbietende Frauenschöße, in denen es zum Trost verweilen kann.

Es ist nicht genug Brecht für die Brecht-Erben, aber es ist eigentlich doch erstaunlich viel Brecht. Auch wenn Baals expressive Aufwallungen immer wieder genussvoll durch den Kakao gezogen werden (und die Schauspieler ein paarmal witzelnd auf die nach Ansicht der Brecht-Erben übermäßige Fremdtext-Verwendung anspielten), als Energiestifter funktionieren sie ganz gut und strukturieren die Inszenierung, die allerdings nur im Mittelteil ein Tempo findet, in dem Castorfs Ästhetik nicht gerinnt oder Blasen schlägt. Da werden vor allem lange Teile von Apocalypse Now nachgespielt; die Schauspieler stehen vor einem Blue Screen mit dem laufenden Film vor der Bühnen-Kamera und haben immer ein bisschen Vorsprung, so dass es die Originaldialoge sind, die nachhallen. Und es öffnete sich ein im besten Sinne historischer Assoziationsraum, der in seiner Weite das meiste, was sonst so bei diesem Theatertreffen geboten wurde, klein aussehen ließ.

Baal 25 600 Foto Aurin Castorfs Chicks: Bibiana Beglau, Andrea Wenzl, dazu Aurel Manthei   © Thomas Aurin

Schon nackt zur Probe?

Aber dieses Erlebnis lässt mich die Frage nicht vergessen, die vor allem die erste Dreiviertelstunde – mal wieder – bei mir aufkommen ließ: Wie ist das eigentlich? Kommen Castorfs Schauspielerinnen schon nackt zur Probe und werden je nach Fundusbestand mit Glitzer- oder Spitzenschlüpfer eingekleidet. Oder kommen sie angezogen und strippen dann, um das Team in Stimmung zu bringen? Also, warum, lieber Frank Castorf, müssen die Frauen bei Ihnen immer halb bis fast/ganz nackt sein und auf Stöckelschuhen balancieren? Weil sie das so gut können? Weil sie es so wollen? Weil es so ungeheuer sexy ist, wenn sie dann auch noch intelligent und furios daherreden?

Nach so einer Castorfschen Wahrnehmungs-Dekonstruktion kann es schon mal passieren, dass man an Einzelheiten hängenbleibt. Zum Beispiel eben an diesen Frauen, die bestimmt keine Frauenquote brauchen und auch nicht wollen. Was wohl Brecht himself dazu sagen würde?

 

CastorfHubschrauberBaal Residenztheater 2015 Mai © Ingo Sawilla / Residenztheater München

Mehr zum großen Frank Castorf-Baal-Hype:

- Lexikon-Eintrag Frank Castorf

Nachtkritik von Michael Stadler vom 15. Jänner 2015

- Alles zum Urheberrechtsstreit um Baal

- Rupprecht Podszuns Genealogie "Nach Baal: Dürfen Regisseure remixen? Urheberrecht und Regietheater"

- Festivalübersicht Berliner Theatertreffen 2015

 

 

Kommentare  
Baal beim TT Berlin: die Erben von "Apokalypse Now"
Was sagen denn die "Apocalypse Now"-Erben eigentlich dazu?
Baal beim TT Berlin: Sexismus ist aufgefallen
Es ist jemandem aufgefallen. In Berlin laufen sie mittlerweile aus dem Saal, wenn eine Figur eine rassistische Handlung zitiert, selbst wenn sie von extraklarem Schulfunk flankiert wird. Aber der seit hundert Jahren unveränderte, keineswegs reflektierte Sexismus hat bislang keine(n) gestört.
Baal beim TT Berlin: Männer auch nicht stärker bekleidet
Hmm, laufen die Männer hier stärker bekleidet herum? Und wenn es beide Geschlechter (ich weiß, unzulässige Vereinfachung) gleichermaßen betrifft, ist es dann Sexismus?
Baal beim TT Berlin: ins Zentrum der Aufmerksamkeit
Seit 30 Jahren hinterfragt F.C. in seinen Inszenierungen kritisch das Bild der osteuropäischen Hure, und jetzt plötzlich soll das Sexismus sein? F.C. nutzt die Mittel der Überzeichnung, um unsere sexistische Welt zu entlarven - ich bin mir sicher, dass er an dem Frauenbild, das er entwirft, keinerlei persönliches Interesse hat. F.C. führt vor, wie die Frau nur dann ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerät, wenn sie ihre Geschlechstmerkmale inszeniert (auch die sekundären natürlich, etwa Hysterie oder auch Kreischsucht). Und was ist eigentlich mit dem Männerbild bei Castorf?
Baal beim TT Berlin: Verrohung ist verteilt
Schon interessant: den Mittelteil, vor allem die LANGE Apocalypse Now Geschichte, fand ich mit Abstand die langweiligste Passage des Abends! Dass da historische Assoziationen aufgemacht wurden, will ich ja gar nicht bestreiten -- aber dass die durch die Länge dieser Mit- und Nach-(oder Vor-)spielszene wirklich entwickelt wurden, kann ich nicht unbedingt bestätigen.

Was den Sexismus angeht: in diesem konkreten Fall finde ich das ein etwas problematisches Argument. Nicht nur, weil die Männer genauso zur Schau gestellt werden, wie die Frauen (Aurel Mantheis erster Auftritt findet doch gleich mit entblößtem Schmerbauch und in der knappen Unterhose statt -- siehe auch das Poster). Sondern auch, weil Brechts Text auf so interessante Weise verteilt wurde, dass Baal jetzt von allen gesprochen wird. Und sich daraus für mich eine Situation ergab, in der sowohl die Verrohung als auch die paradoxe sexuelle Anziehungskraft auf und über alle verteilt. Da sind nicht mehr, wie bei Brecht, die Frauen alle mehr oder weniger hilflos dem Baal verfallende Wesen, sondern da verfallen eigentlich alle allen, und alle haben ähnlichen Zugang zu diesem Baalschen Magnetismus. Und das hebelt den Sexismus, den man dem Text wohl schon vorhalten kann, doch irgendwie aus. Oder nicht?
Baal beim TT Berlin: Trubel in Wilmersdorf
So einen Rummel hat das beschauliche Wilmersdorf lange nicht erlebt. In dem Trubel und Gewusel vor dem Festspielhaus stehen an den wenigen freien Plätzen Menschen mit bangendem bis verzweifeltem Blick und “Suche Karte”-Schildern. Gesprächsfetzen: “Wie, Du hast noch gar keine Karte?” Und im Epizentrum der allgemeinen Aufregung vor der ultimativ letzten “Baal”-Aufführung hat sich das Theatertreffen-Blog postiert: in einer Auktion wollen sie die allerallerletzte Karte versteigern, der Erlös soll an die Brecht-Erben gehen, die mit ihrer Klage verhindert haben, dass die Inszenierung im Repertoire des Münchner Residenztheaters bleiben kann.

Falls sich jemand ohne ausreichende Sprachkenntnisse in diese Menschentraube verirrt haben sollte und vor lauter “Karte, Karte, Karte” nur noch Bahnhof versteht: es ging “nur” um eine Theater-Aufführung von Frank Castorf. Ein Berliner Theatermacher, von dem man ähnliche Arbeiten einige Kilometer weiter östlich in seinem Stammhaus am Rosa-Luxemburg-Platz ganz stressfrei ohne die ganze “Suche Karte”-Hysterie erleben kann. Wenn man sich statt für seine aktuellste Arbeit Baal für seine vorletzte Produktion Kaputt entscheidet, kann man es sich in einem halbleeren Auditorium richtig gemütlich machen.

Wenn der zufällig in den Trubel geratene Besucher sich nun fragt, was ihn bei einem Castorf-Abend erwartet, können wir ihn guten Gewissens an das Theatertreffen-Blog verweisen. Genau, das sind die mit der allerallerletzten versteigerten Karte. Auf Englisch erklärten sie dort, woran man einen Castorf-Abend erkennt.

Wenn man sich mit dieser Checkliste in die Aufführung setzt, kann man fleißig die Punkte abhaken: es gibt wieder viele Live-Videos, es wird viel geschrien, die Schauspielerinnen und Schauspieler rennen leichtbekleidet über die Bühne und beschimpfen sich: “Hier geht man nicht halbnackt auf die Bühne!” – “Idiot!” Und das Ganze dauert wieder deutlich mehr als vier Stunden.

Brechts “Baal” wurde mit viel Fremdtext zu den Themen Krieg und Kolonialismus angereichert, dazu coole Beats, etwas Tarantino-Style und ein Hubschrauber.

Die Quintessenz: “Das Leben ist eine Farce, die wir spielen müssen.”

Also alles wie immer bei Castorf. Kein Grund zur Aufregung.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/24999-castorfs-umstrittene-verbotene-baal-inszenierung-zum-abschluss-des-berliner-theatertreffens-2015.html
Baal beim TT Berlin: schlechtes Argument
@Holger Syme: Männer mit Schmerbauch auszustellen inmitten schöner junger Frauen ist so denke ich nicht eine Verteilung, die den (angeblichen) Sexismus in den Bühnenshows von Castorf entkräften würde. Ganz schlechtes Argument.
Baal beim TT Berlin: nicht austauschbar
Sexyness kann auch nicht sexy sein. Es kommt auf die Haltung an und da haben sich die SpielerInnen bei Castorf eigentlich immer ziemlich stark positioniert und einen vermeintlichen Sexismus entweder für sich verwendet oder/und gleichzeitig inhaltlich den Garaus gemacht (Männer und Frauen).
Was ich irritierend finde ist, dass Typen gesucht werden, die einen ziemlich stark an VoBü Stammspieler (K. Angerer) erinnern und die doch nur in der Kopie hängenbleiben (eine gute Kopie, aber trotzdem Kopie). In diesem Zusammenhang geht für mich dann auch manchmal die Haltung verloren. Das Ergebnis sieht man an obiger Fragestellung. Castorf hat etwas geschafft, dass heute tatsächlich selten ist - Er ist nicht austauschbar und so ist es auch mit seinen Schauspielern.
Baal beim TT Berlin: dunkles, wildes Spektakel
aurel manthey hat sicher keinen schmerbauch.
einen schmerbauch hat aber diese sexismusdebatte im kleinen.
schade, dass baal nun vorbei ist, ich hatte das glück die letzte münchen vorstellung sehen zu können, ein dunkles wildes spektakel. apocalypse now bbaal! danke castorf, danke brecht, danke coppola... war ein grandioser mmix vom mixmaster fränk
Baal beim TT Berlin: geringster Textilanteil
@7 Der geringsten Textilanteil des Abends gehört wohl Franz Pätzold. Keine Frau und sicher auch nicht Träger eines Schmerbauchs.
Baal beim TT Berlin: Schlüpfer-Solidarität
Wenn's sonst keine Probleme gibt, werfe ich beim nächsten Castorf aus Solidarität für die Chicks meinen Schlüpfer auf die Bühne.
Baal beim TT Berlin: bitte nicht!
@Baal: es stimmt, eigentlich alles wie immer bei Castorf, dafür mögen viele ihn. Ich frage mich immer noch, wie sich so eine Inszenierung im Streit mit den Erben derart hochschaukeln kann. Aber dafür muss man vielleicht Jurist sein...
@Sexismus: plumper Versuch eines Debattenanstoßes. Nachtkritik, bitte nicht! Oder war es Anbiederung an Brechts Erben: Castorf, Du darfst inszenieren, aber bitte ohne nackte Frauen (und natürlich ohne Fremdtexte)!? Ich bin dankbar, dass die Kommentaristi hierauf nicht reingefallen sind und sich eher lustig machen. Und jetzt: ohne Cognac, keine Lyrik.
Baal beim TT Berlin: Was sagen die Schauspielerinnen dazu?
Genau, Stefan B., und ich möchte von Ihnen trotzdem nicht "Chick" genannt werden, Sie Blödhammel! Davon abgesehen, wenn Castorfs Schauspielerinnen sich so "billig" präsentieren wollen, warum nicht? Es wäre Sexismus, wenn Castorf dieses Frauenbild affirmieren würde. Und wenn die Schauspielerinnen sich nicht auch dagegen wenden könnten, sich so zu präsentieren. Bei dieser ganzen Debatte würde ich gern mal die Stimmen von den Schauspielerinnen selbst hören. Ich hör aber immer nur den einen Namen: Castorf. DAS könnte vielleicht sogar Sexismus sein. Die Frauen zeigen ihre Brüste und Castorf schreibt seinen Namen drüber und heimst das große Geld ein. Im Grunde ähnlich wie Brecht.
Baal beim TT Berlin: Erotik der Lücke
Zusatz: Erotischer als die totale Nacktheit ist sowieso die Lücke (in der Kleidung). Gibt sogar theoretische Texte dazu.
Baal beim TT Berlin: anderer Film
@ Inga
Das ist jetzt aber ein anderer Film mit den Brüsten, und der ist tatsächlich von einer Frau. Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass ich Sie Chick nennen würde? Kenne wir uns näher? Und außerdem habe ich nur die Bezeichnung aus der Überschrift übernommen. Aber vielleicht ist es hier ja genauso wie auf der Bühne. Frauen machen die Texte und Männer die Headlines. So kommt zum strukturellen Rassimus auch noch der alltägliche Chauvinismus. Und dafür bzw. dagegen opfere ich gerne mal einen Schlüpfer. Ansonsten, Mut zur Lücke, liebe Inga.
Baal beim TT Berlin: So viele können nicht irren
Fakten
Castorf wurde zu Recht gefeiert.
Standing Ovations am Ende.
Männer hatten keinen Bauch, sie waren ebenso erotisch wie die Frauen.
Und politisch wurde es auch.
Wenige gingen in der Pause. Keine Buhs am Ende.
Inga muss wieder schreiben gegen Brecht und gegen Castorf, gegen nicht gezeigte Busen. Hat sie die homoerotische Komponente des Stückes verpasst? War sie anwesend?
Klar, immer wieder schön der Ablauf auf Highheels.
So viele Menschn, die am Ende weit mehr Beifall gaben als zu all den anderen sehr guten Inszenierungen des TT 15 (Ich haben 9 gesehen) können nicht irren.
Am Ende bleibt bei mir die Frage, ist solch ein Abend genial, der so viel zusammenbringt, Fragen aufwirft und mit klugen Zitaten antwortet? Man muss Castorf zuhören, um diesen Gewinn zu spüren. Man darf nicht blind in seinen eigenen Strukturen haften, man muss offen sein. Dann bleibt ein großer, nachhaltiger Gewinn nach solch einem Abend. Dann spürt man die Menschlichkeit und ehrlich, es geht doch wirklich nicht um Nacktheit, Geilheit und männliche Vorlieben. Wer das so einfach sieht, hat einfach nicht zugesehen oder versucht zu verstehen.
Solche Abende brauchen die Qual der 5 Stunden. Am Ende hat man aber ein wenig Welt verstanden.
Baal beim TT Berlin: wider die sexistische Logik
Also, ich wollte dem Aurel Manthei ja nun wirklich nicht zu nahe treten. "Bauchansatz," wäre das angemessener?

Sehr kluge Dinge sind ja schon gesagt worden hier (v.a. #4 und #8!). Deswegen ist es vielleicht kleinlich und auch recht pedantisch, trotzdem mal darauf hinzuweisen, dass zwar alle Schauspieler mehr oder weniger spärlich bekleidet agierten, aber eigentlich niemand nackt war. Und das macht schon einen gewissen Unterschied, eben besonders wegen der theoretischen/politischen Perspektive, die #4 & 8 der Diskussion gegeben haben. Castorf lässt seine Spieler zwar eine sexistische Logik demonstrieren, tänzelt aber um die Falle, diese Logik damit einfach wieder zu reproduzieren, herum in dem er seine Frauen (und zum Grossteil auch die Männer) dann eben doch nicht einfach zu Schauobjekten macht. Da muss man sich allein anschauen, wie Bibi Beglau (hier noch weniger als noch bei Reise ans Ende der Nacht) die grösste körperliche Stärke von allen vorzeigen darf, um zu erkennen, dass es hier nicht darum geht, gängige Geschlechterstereotypen auf die Bühne zu bringen.

Die andere Frage ist die der Erotik. Und da muss ich schon sagen, dass ich diesen Abend ganz extrem (und ganz gewollt) unerotisch fand. Das musste aber auch so sein -- alles andere fände ich doch ziemlich problematisch und im totalen Widerspruch zur politischen Linie der Inszenierung.
Baal beim TT Berlin: hetero-normative Sehgewohnheiten
Ich glaub man muss sich auch einmal fragen, inwieweit man selber schon die sexistischen, hetero-normativen Sehgewohnheiten, mit denen man alltäglich bombardiert wird, angenommen hat, beziehungsweise diese wiederum strukturell anwendet. Ich habe immer den Eindruck, dass es bei Castorf versucht wird, diese Sehgewohnheiten zu brechen - so auch bei Baal. Ein noch nichteinmal gänzlich entblößter Frauenschoß muss nicht gleichzeitig für suggerierte, sexuelle Verfügbarkeit stehen. Er kann eine feministische Position sein oder auch nur eine Position im Bewegungsablauf einer Schauspielerin.
Baal beim TT Berlin: Castorf ist der neue Don Quixote
“Eine Geschichte, die man versteht, ist nur schlecht erzählt”, sagt Manthei an einer Stelle und fasst das Castorfsche Theater wohl treffender zusammen als das jemals zuvor gelungen wäre. Denn das eigene Scheitern ist Teil des Konzepts. Was er vor der Pause aufbaut, lässt er danach schrittweise sich auflösen, bis nichts mehr bleibt als die eigene Ratlosigkeit. Aus der ein erneuter Versuch, diese kranke Welt zu verstehen erwachsen wird. Baal ist so etwas wie die Quintessenz des Castorfschen Theaters und zugleich nur eine Rädchen, welches das Perpetuum Mobile weiterlaufen lässt. Das Erwachen aus dem Fiebertraum schenkt keine Klarsicht, sondern führt nur in den nächsten noch trostloseren und verworreneren. Castorf ist der neue Don Quixote, von dem einmal die Rede ist: einer, der gegen Windmühlen kämpft, nicht weil er sie für Riesen hält sondern,weil es “einfach jemanden geben muss der gegen Windmühlen reitet.”

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/05/19/schweine-und-windmuhlen/
Baal beim TT Berlin: Zensur wie in DDR-Zeiten
Castorf hatte recht: Diese blindwütige Verbieterei ist Zensur wie in schlimmsten DDR-Zeiten. Einzig allein um ein Phantom zum Heiligtum zu stilisieren.
Brecht-Boykott bis 2027 !!!
Baal beim TT Berlin: Gehirnwäscher
Das Problem stellt sich anders: Wer kann diejenigen, die uns weismachen wollen, die Riesen seien nur Windmühlen, gegen die zu reiten folglich unsinnig wäre, von ihrer augenblicklich höchst erfolgreichen Tätigkeit als Gehirnwäscher abhalten?
Baal beim TT Berlin: Castorf ist nicht der Verwirrte
Lieber Sascha, das mit den Windmühlen kommt zwar im Text so vor, erscheint mir hier aber doch in einem falschen Kontext gebraucht. Denn ein Don Quixote ist Castorf wohl eher nicht. Er weiß schon ganz genau, wer die Riesen und wer die suggerierten Windmühlen sind, gegen die wir kämpfen. Übrigens kämpfen sollen. In Apokalypse Now sagt ja der Franzose auf der Plantage auch zu Cpt. Willard: "Ihr kämpft für das außergewöhnlichste Nichts". Da kann man sich ja jetzt überlegen, was das ist. Die scheinbar wahllos eingestreuten Fremdtexte erschließen sich eigentlich nur im Gesamten. Castorf mit den Figuren, die er da herumirren und -fiebern lässt, gleichzusetzen, halte ich für falsch. Nur weil wir nicht immer alles verstehen, ist Castorf nicht der Verwirrte. Da wird eher umgekehrt ein Schuh draus. Es gibt immer nur ein paar Häppchen, auch falsche Spuren, die er legt, und dann wieder Leere, Irrglaube, Ideologiewahn, usw. usf. Und das zeigt dann eben auch Brechts Baal. „Eine Geschichte, die man versteht, ist nur schlecht erzählt." Das ist kein Diskursangebot, hier wird sich nicht ironisch weggeduckt. Bei Castorf gibt es eben immer voll auf die 12. „Die Intelligenz offenbart ihre wirkliche Natur, all die Jahre des Schweigens, Ekels und der Komplizenschaft.“ Auch so ein Zitat aus der Inszenierung. Und das hat wenig mit Don Quixote und Windmühlen zu tun.
Baal beim TT Berlin: Kampf gegen das Nichts
Eben, es ist ein Kampf gegen das Nichts, einer, dessen sich Castorf bewusst ist und den er immer und immer wieder führt. Ich behaupte nirgendwo, er sei einer der Verwirrten. Genausowenig setzte ich ihn mit seinen Figuren gleich. Ganz im Gegenteil, er ist eben kein Quixote, er weiß, dass die Windmühlen Windmühlen sind und das sie das einzige sind, wogegen man kämpfen kann. Er ist das Gegenteil von Quixote, was das Zitat ja auch aussagt.
Baal beim TT Berlin: die zwei Seelen
Ich glaube, du hast mich immer noch nicht verstanden. Das Nichts ist ja nicht Nichts. Das sind im Zweifel eben immer bestimmte Interessen, Träume, Ideologien. An etwas Glauben und dafür kämpfen. Das bringt Positives wie auch Negatives hervor. Nochmal Apokalypse Now: „Zwei Seelen wohnen in dir, eine die tötet und eine, die liebt.“ Das hat Castorf auch im Baal erkannt und verschneidet das mit der Geschichte Westeuropas (hier vor allem Frankreichs) als Kolonisten in Südostasien und Nordafrika. Vietnam, Korea, Algerien usw. Die Liste kann man beliebig fortführen bis ins Heute. Und dazu kommen der Führungsanspruch Nordamerikas im Namen der Freiheit und Demokratie und die ideologischen Kämpfe in den Mutterländern der Kolonien, die sich erstaunlicher Weise wieder an Mao und Ho Chi Min orientierten. Kommt alles vor in Castorfs Baal und in Apokalypse Now.
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