Theatertreffen 2015 – Schlussdiskussion mit der Theatertreffen-Jury und Tweetsammlung
Männer in der Wagenburg - und eine Frau
von Georg Kasch
18. Mai 2015. Nun ist es vorbei, das 52. Theatertreffen. Im Rückblick erscheint mir dessen Auswahl ziemlich okay: Ein bisschen Experiment (Atlas der abgelegenen Inseln, Warum läuft Herr R. Amok), ein bisschen Schauspieler-Glamour (John Gabriel Borkman, die unverheiratete), etliche tolle Gesamtkonzepte (Common Ground, Die lächerliche Finsternis, Das Fest) und ein bisschen Vergangenheit (Baal, Warten auf Godot), vor allem aber aktuelle politische Debatten (Die Schutzbefohlenen), das Ganze mit drei Frauen und fünf Newcomern, mit Neuer Dramatik, politischem Theater – das wirkt wie eine Mischung, die die deutschsprachigen Stadttheatertrends in der 1. und 2. Liga einigermaßen gut abbildet. Klar, aus vielen Häusern, wo sich gerade was tut, ästhetisch oder strukturell oder bei beidem, war nichts dabei, Darmstadt oder Dortmund zum Beispiel. Aber wenn einige Juroren darauf bestehen, dass das Theatertreffen ein Elitefestival sein will – bitte.
Man denke! Oldenburg!
Allerdings könnte man nach der abschließenden Jurydebatte doch noch mal hinterfragen, ob sich das Auswahlverfahren nicht optimieren ließe. Sagen wir so: Hätte die Jury vor zwei Jahren Thom Luz' Archiv des Unvollständigen in Oldenburg gesehen, wäre er schon beim Theatertreffen im vergangenen Jahr mit einer Arbeit zu sehen gewesen, die noch überzeugender war als sein "Atlas der abgelegenen Inseln" in diesem Jahr. Um nur ein Beispiel zu nennen.
Linke Hälfte der Wagenburg mit einer Frau ... Christoph Leibold, Wolfgang Huber-Lang, Peter Laudenbach, Barbara Burckhardt, ..., Aber, natürlich, dazu müsste zunächst mindestens ein Juror und gegebenenfalls später mindestens ein Großteil der Kampfrichtertruppe nach Oldenburg reisen. Man denke: Oldenburg! Und nicht bei stets herrschender Terminnot dann doch lieber nach Wien, München, Hamburg, wo an den größeren, also wohlhabenderen Häusern bekanntlich die besseren Schauspieler*innen arbeiten. Was ja ein Naturgesetz und Oldenburg deshalb grundsätzlich vernachlässigbar ist. Musste man jedenfalls annehmen, wenn man so der Verteidigung einiger Juroren lauschte.
Und wie ließe sich das Problem lösen, dass die Jury nun mal nicht alles sichten kann, was im Jahr so auf deutschsprachigen Bühnen herauskommt? Nicht mal die Hälfte? Allenfalls ein Viertel? Und dass in der Provinz letztlich ein Juror allein entscheidet (falls er den Daumen hebt, kommen die andern angereist, sonst eher nicht)?
... und die rechte Hälfte, mit Frau. Barbara Burckhardt, Bernd Noack, Stephan Reuter, Andreas Wilink, Till Briegleb. © Piero Chiussi/Agentur StandArtBarbara Burckhardt sagte einmal sinngemäß, sie würde durchaus bei nachtkritik.de nachlesen, wo es Vielversprechendes gäbe, schließlich schaue kein anderes Medium mehr so in die Breite. Juror Peter Laudenbach bügelte das sofort ab. Der Kollege Christian Rakow hakte aus dem Publikum nach: Wenn sich bei nachtkritik.de z.B. abbildet, dass ein Haus spannend ist, warum fährt die Jury dann nicht mal geschlossen hin, um sich das anzugucken? Eine weitere Option wäre eine Art Scouting-System, wo weitere Experten der gesamten Jury Entdeckungen melden.
Unfehlbar
Aber gut: Mit dieser Jury wird das nix mehr. Der Mehrheit ihrer Mitglieder fehlt ein Restbewusstsein für die eigene Fehlbarkeit, Transparenz- und Diskussionsbereitschaft auch nach außen hin – wer verlangt denn, dass die Jury sich immerzu einig ist? Warum die Dissonanzen und Konfliktfälle nicht offener austragen? Stärker durchblicken lassen, entlang welcher Argumente inhaltlich diskutiert wird? Sympathisch immerhin die tastende Suche Barbara Burckhardts, die etwa ihre Ratlosigkeit angesichts der Formen politischen Theaters bekannte. Oder auch Wolfgang Huber-Langs Offenheit für Fragen, die über das Ästhetische hinausgehen. Theatertreffen-Leiterin Yvonne Büdenhölzer versprach am Ende für die Jury ab 2016 mehr Frauen und junge Menschen. Vermutlich wird das nichts am Elitären dieses Festivals ändern. Aber ein bisschen weniger Wagenburgmentalität, ein bisschen mehr Bewusstsein für Zweifel und Brüche wären ja auch schon was.
An der traditionellen Abschlussdiskussion mit der Jury nahmen teil: Wolfgang Huber-Lang (Ressortleiter Kultur bei der Austria Presse Agentur), Peter Laudenbach (freier Autor, u.a. Süddeutsche Zeitung und Brand eins, Redakteur beim TIP Berlin), Barbara Burckhardt (Redakteurin von Theater heute), Bernd Noack (freier Kulturjournalist, u.a. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Theater heute), Stephan Reuter (Theaterredakteur der Basler Zeitung), Andreas Wilink (Redakteur von K.WEST und Kritiker, u.a. für nachtkritik.de und Theater heute) und Till Briegleb (Autor für die Süddeutsche Zeitung). Hier eine Sammlung der Tweets, die die Jury-Abschlussdiskussion protokollierten und kommentierten:
(Lieber Samuel Flock, auf der Abschlussdiskussion der Jury des Theatertreffens gestern ist Andreas Wilink gefragt worden, ob es stimme, dass er nicht mehr nach Dortmund fahre. Seine Antwort: Selbstverständlich fährt er auch nach Dortmund. Wir haben Andreas Wilink auch deshalb als wichtigen Autoren für uns in NRW, weil wir seine reisende Tätigkeit und seine Expertise schätzen. Mit freundlichem Gruß aus der Redaktion, Nikolaus Merck und Christian Rakow)
Die Annahme, ein Kritiker reiche für ganz NRW aus, ist doch vollkommen utopisch. Vor allem wenn es dann gefühlt eh nur nach Bochum und Köln geht. Dass Theater wie Aachen, Oberhausen oder (vllt. vor allem) Dortmund so wenig überregionales Echo erhalten, wird allmählich affig.
klar, die Jury ist nicht unfehlbar. Aber auch Nachtkritik ist manchmal etwas vorschnell mit ihren Urteilen, wenn sie nur ins Klischee passen. Ich war Mitglied der Jury fürs TT 2014 und habe in Oldenburg Thom Luz' "Archiv des Unvollständigen" gesehen. Ich habe damals mit Nein votiert – über die Gründe können wir uns gern im persönlichen Gespräch austauschen. Und auch über die Vor- und Nachteile des bestehenden Votensystems. Es ist bestimmt nicht perfekt und sollte unbedingt immer wieder diskutiert werden – aber glauben Sie mir: Jede(r) von uns ist soviel gereist, wie es ihm oder ihr irgendwie möglich war.
vielen Dank für die Korrektur! Ich wollte Ihnen nichts unterstellen – dass jeder Juror so viel reist, wie er / sie kann, glaube ich sofort (und beneide Sie überhaupt nicht um diesen Stress). Allerdings macht der Fall "Archiv des Unvollständigen" eben doch den Knackpunkt des derzeitigen Systems deutlich: dass nämlich in der so genannten Provinz eine einzelne Stimme entscheidend ist, während in den Metropolen die Kolleg*innen sich schneller selbst ein Urteil bilden (können). Und dass – siehe oben – in der Jury-Debatte 2015 Meinungen geäußert wurden, die mich etwas an der Entdeckerlust einiger Juroren haben zweifeln lassen.
Herzliche Grüße
Georg Kasch