Jubilate, Anti-Exaltate!

von Wolfgang Behrens

Berlin, 21. Mai 2015. Mit der Langeweile ist es so eine Sache. Laurent Chétouane hat einmal von den Proben zu seinem Hamburger "Don Karlos" (der ist schon ein paar Jährchen her) erzählt, dass der Schauspieler August Diehl ihm, dem Regisseur, von der Bühne herab alle möglichen psychologischen Angebote gemacht habe, wie er die Titelfigur spielen könne. "August, Du bist so langweilig", soll Chétouane gesagt und sich demonstrativ weggedreht haben. "Sprich doch einfach nur den Text." Diehl tat zuletzt, wie ihm geheißen – und alle anderen Schauspieler*innen auch: Sie sprachen den Text. Und siehe, Chétouane langweilte sich nicht. Noch jetzt leben indes Leute, die Zeuge jener sonderbaren, fünf Stunden währenden Inszenierung waren und sie, Wort für Wort, sterbenslangweilig fanden.

Bereits im Vorfeld seiner jüngsten Premiere "Considering" am Berliner HAU war nun zu lesen, dass Chétouane mit dieser Arbeit "das heimliche Movens" seines bisherigen Schaffens auf die Bühne bringe, nämlich Heinrich von Kleists Schrift "Über das Marionettentheater". Der Tänzer, dem der Ich-Erzähler in Kleists Text begegnet, wendet sich darin gegen "die Ziererei", moderner formuliert könnte man sagen, gegen jegliche Exaltation. Ziererei erscheine, wenn sich die Seele "in irgendeinem anderen Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung." Was bei Kleist auf die Körper von Tänzern gemünzt ist, hat Chétouane offenbar seit jeher auch auf die Sprache übertragen: Er hatte, als ihm Diehl den Karlos vorchargierte, wohl die Befürchtung, die Sprachseele könne dem Schauspieler "gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen" sitzen.

Considering1 560 benoite fanton uAn Schnüren: Mikael Marklund, Raphaëlle Delaunay © Benoite Fanton

Die Erforschung der anmutigen Bewegung

In "Considering" hört man Kleists Text zwischendurch vom Band. Johann Jürgens spricht ihn "einfach nur", und zwar so ausdruckslos und gleichförmig, wie es nicht einmal der Weltmeister unter den Gleichförmigkeitslesern, Heiner Müller, vermocht hätte. Man könnte auch sagen: Langweiliger geht's nimmer. Freilich beruhigt es ungemein zu wissen, dass das Konzept ist – und nicht die Hauptsache an diesem Abend. Denn die Hauptsache sind die beiden Tänzer*innen Raphaëlle Delaunay und Mikael Marklund, die zur Live-Klaviermusik von Mathias Halvorsen der ungezierten, der anmutigen, der unschuldigen Bewegung nachforschen – ebenjener Bewegung, die Kleists Tänzer den Marionetten zuschreibt.

Zu Musik von Charles Ives, Anton Webern, Beat Furrer, Mendelssohn und Bach vollführen Delaunay und Marklund beständig kreisende Schrittfolgen auf der gänzlich leeren Bühne: Alles Heftige und Spektakuläre wird vermieden, die Glieder beschreiben Parabeln und Hyperbeln, die Körper fließen sanft dahin. Es gibt Momente, in denen wirken die beiden tatsächlich, als würden sie von einer fremden Macht gezogen, von einem milden und stummen Gott, der seine Fäden am Nacken und den Extremitäten der Tänzer*innen befestigt hat. Ein paarmal legt dieser Gott seine Gliederpuppen auch ab, dann liegen sie achtlos am Boden, und wenn er gedankenverloren noch ein wenig mit dem Marionettenkreuz spielt, geht ein Nachbeben durch ihre Körper. In seiner Anti-Exaltation ist das schön anzuschauen.

Die Geschichte der Welt bekommt ein Happy End mit Glückstaumel

Lose und unaufdringlich folgt die Choreografie der Dramaturgie des Textes. Klingt bei Kleist das Motiv des Narziss an, dem die Anmut seiner selbst bewusst wird und der sie im gleichen Atemzug verliert, so wird der Tanz pointierter und virtuoser, die Blicke der Tänzer*innen suchen sich nun – aus der Selbstvergessenheit des Anfangs entwickelt sich ein Füreinander, eine zarte Form des Showing off. Und wird am Ende "das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt" aufgeschlagen, in dem wir "wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen", so wird aus dem immerwährenden Kreisen ein wahrhafter Glückstaumel, der selbst den Pianisten einbezieht – ob Delaunay dabei mit Absicht oder versehentlich als Opfer der Schwerkraft einen Cluster in Bachs B-Dur-Partita platziert, sei dahingestellt.

Das HAU hatte die Premiere schon vor Wochen selbstbewusst mit den Worten angekündigt: "Laurent Chétouanes neue Tanzproduktion ist nichts anderes als eine Offenbarung." Nun ja, das ist in seiner Vollmundigkeit schon fast ein wenig exaltiert. Langweilig allerdings muss man den Abend auch nicht finden. "Considering" ist wohl vor allem das: graziös und, ja, wohltemperiert.

Considering
von Laurent Chétouane
nach Heinrich von Kleists "Über das Marionettentheater"
Choreografie: Laurent Chétouane, Dramaturgie: Georg Döcker, Licht: Stefan Riccius, Tonbearbeitung und Klangkonzept: Johann Günther, Assistenz Choreografie: Lisa Blöchle, Produktion: Christine Kammer, Hendrik Unger.
Mit: Raphaëlle Delaunay, Mikael Marklund, Mathias Halvorsen (Klavier), Johann Jürgens (Stimme vom Band).
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

Chétouane sei bekannt dafür, "dass er seinen Tänzern die ballettöse Anmut austreibt", schreibt Sandra Luzina im Tagesspiegel (23.5.2015). Bei Raphaëlle Delaunay sei ihm das "aber nicht gelungen", sie sei jedoch "hoffnungslos unterfordert", wohingegen Marklund "wie erschlafft" wirke. Das "Getändel" der beiden lasse aber ohnehin "nichts von den Kleist'schen Motiven erkennen", so "sehr man sich auch bemüht." Der Abend biete keine Erkenntnisse, vielmehr beweise er, "dass zu viel Reflexion dem Tanz nicht unbedingt zuträglich ist."

Elisabet Nehring schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (22.5.2015): Der Kleist-Essay sei  "eigentlich eine spannende Geschichte". Was choreographisch dabei herauskomme, sei allerdings "diffus und beliebig". Die "tänzerischen Begegnungen und gegenseitigen Bezugnahmen" dieses Bühnenpaares könnten sich auf "Kleists Gedanken, aber ebenso auf etwas ganz anderes beziehen". Keinerlei "innere Notwendigkeit" verbinde in diesem Stück "Tanz, Text und Musik". "Considering" sei von großer "Bedeutungs- und Zusammenhangslosigkeit".

 

 

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