Kohlhaas Global

von Anne Peter

Berlin, 23. Mai 2015. Die Welt steht in Flammen. Die Kontinente brennen. Vor der in Brand gesteckten Weltkarte krümmt Thomas Wodianka sich übers Mikro, schießt seinen augenaufrissig-wütigen Wodianka-Blick ins Publikum, krächzt Paint it black! und würde wohl jeden Mick-Jagger-Überbietungswettbewerb gewinnen. Mach schwarz die Welt, die in Arglist versunken ist! Was einst zur Anti-Vietnam-Kriegs-Hymne taugte, fetzt hier und jetzt als Kleist-Revival-Song. Rock it, Kohlhaas!

Benachteiligungsklischee-Kanonade

Die Geschichte jenes gerechtigkeitsfanatischen Rosshändlers Michael Kohlhaas ist es, von dem aus dieser ideenschäumende, spielfreudesprühende und heftig beklatschte Abend im Berliner Gorki Theater Anlauf nimmt. Nach ihrer gefeierten Balkankriegs-Auseinandersetzung Common-Ground und der vergleichsweise nabelbeschaulichen Großstädter-Sex-Talkshow Erotic Crisis tänzelt die Hausregisseurin und unerschrockene Konfliktzonen-Bezwingerin Yael Ronen mit "Das Kohlhaas-Prinzip" wieder in Richtung Großthema: Gerechtigkeit, Rache, Selbstjustiz.

Kohlhaas 560a UteLangkafelMAIFOTO uBrandstifter oder Feuerwehrmann?  Kohlhaas-Variante von Thomas Wodianka  
© Ute Langkafel | MAIFOTO

Und wie so oft gelingt es ihr aufs Leichtfüßigste, das sich politisch gebärdende Theater in seinem Relevanzbemühen gleichzeitig zu verfertigen und selbstironisch auf die Schippe zu nehmen. "Vielleicht sollte ich etwas sagen, was 'ne wirkliche Bedeutung hat", räsoniert Dimitrij Schaad zu Anfang in einem scheinbar hinimprovisierten Monolog. "Wir sollten mal aufbegehren, wir sollten wütend werden!" Um kurz darauf seine Kollegen mit einer Kanonade aus schlimmsten Benachteiligungs-Klischees zu überfallen: "Jerry, wenn ich du wäre, ich wäre so sauer! So ein behinderter Schwarzer in diesem Land! Du musst ja andauernd diskriminiert worden sein."

Kohlhaas, der Fahrrad-Händler aus Friedrichshain

Nachdem Ronen einen derart am eigenen Vorurteilsschlafittchen gepackt und die moralischen Messlatten des Zuschauers schon gleich zu Beginn durcheinanderrüttelt hat, steigt Wodianka mit Pappsteckenpferd und ältertümelnder Perücke in die moralisch ebenfalls höchst schwierig zu sortierende Geschichte des Rosshändlers Kohlhaas ein und verwandelt sich flugs in einen Schrotthändler ... Fahrradhändler ... "Entrepreneur für elektrische Fahrräder".

Die zusammenkonstruierte, sich lose an Kleist-Parallelen entlanghandelnde Story, die von den fünf Spielern kollektiv erzählt wird, dreht sich um Wodiankas ökologischen Zweirad-Revolutionär, der samt (Puppen-)Sohnemann von dem mit Vitamin B vollgepumpten Milliardärssöhnchen Hajo von Tronka (Schaad schön kotzbrockig) über den Haufen gefahren wird. Er fordert Ersatz für sein zerschrottetes E-Bike samt Entschuldigung und wird vom Rechtsstaat ob massiver Korruptionsverfilzung ähnlich gefoppt wird wie Kleists Gewährsmann im 16. Jahrhundert von der adeligen Willkür.

Wutbürger, Justizopfer, Flüchtling, Terrorist

Gekreuzt wird das mit einer weiteren Kohlhaas-Variante um den palästinensischen Käsehändler Michail (in mehreren Rollen groß in Form: Taner Şahintürk), der von israelischen Grenzsoldaten schikaniert, um sein Auto gebracht wird und schließlich in Deutschland Asyl beantragt – wo sein Verfahren vorbei ist, bevor es angefangen hat, weil er nicht in dem ihm zugewiesenen Asylbewerberheim bleiben will, das von Neonazis belagert wird. Während der eine Kohlhaas aus Prinzip zum Terroristen wird, versucht der andere, aus existentieller Notwendigkeit heraus die eigene Haut zu retten – welch Luxusproblem ist die Fahrerflucht im Vergleich zum illegalen Flüchtlingsdasein. Oder? Ist Wodiankas Kohlhaas jener Wutbürger, der seinen Hintern nur hochkriegt, wenn's vor der eigenen Haustür ungemütlich wird?

Heike Schuppelius' Bühne besteht aus einem Haufen hingeworfener Auto- und Fahrradteile, die für windeseilige Spielsituationen diverser Art taugen. Mal bebildern die Autotüren den Stau vor dem Checkpoint, mal wird eine als Anwaltsschreibtisch aufgebockt. Stimmungsverstärkend wirken Hanna Slaks Videobilder und die tolle Soundspur, die Nils Ostendorf von den Stones über Elektro bis in rachelustige Western-Gefilde legt. Und dann wimmelt es auf der Bühne noch von schwarzen Raben, die als Metapher aller Erniedrigten und Beleidigten und als "invasive Spezies" speziell die Flüchtlingsproblematik ins aggressive Bild fassen.

Bitterer Ernst mit Amüsement-Faktor

Der Plot dient dabei vor allem Gerüst, an dem alle erdenklichen Gegenwartsprobleme und -problemchen in Form kabarettistisch zündender Kabinettstücke aufgehängt werden, in denen sich die Schauspieler karikierend durch verschiedene Rollen brillieren. Kohlhaas selbst ergeht sich zeitgemäß rechtschaffen im mülltrennenden Biobürgertum, protestiert als Stehender Mann vom Taksim-Platz, startet später eine Facebook-Kampagne, die nach seinem ersten Bombenanschlag auf das Soho-House 15.000 Likes zählt, während Attac und Blockupy via Twitter gratulieren und Spieler mit Guy-Fawkes-Masken durch den Bühnennebel robben. Ein assoziationsseliges Protestbewegungs-Potpourri mit hohem Wiedererkennungs- und entsprechendem Amüsement-Faktor.

Und doch schafft Ronen es, den Zuschauer Kohlhaas gegenüber in ein beständiges Hin- und Hergeworfen-Sein zwischen Identifikation und Distanzierung zu bugsieren. Bei all dem Herumgewitzel scheinen die aus Mai-Manifesten und Papstreden ersampelten Sätze wie "Die gegenwärtige Krise ist kein natürlicher Unfall!" und "Baut eine bessere Welt!" bitter ernst gemeint und gleichzeitig Ausdruck davon, dass alle Protestformen, alle Rebellenposen längst erprobt, bloß Zitat sind – und die Welt noch immer dieselbe ungerechte ist. Die Erkenntnis, dass auch unser Rechtsstaat heute von Vetternwirtschaft und Bestechlichkeit durchschlupflöchert ist, ist zwar keineswegs neu, aber immer noch erschreckenswert. Es ist jedenfalls längst auch unsere Hütte, die da brennt.

 

Das Kohlhaas-Prinzip
von Yael Ronen und Ensemble, frei nach Heinrich von Kleist
Regie: Yael Ronen, Bühne: Heike Schuppelius, Kostüme: Miriam Marto, Musik: Nils Ostendorf, Video: Hanna Slak, Licht: Hans Fründt, Puppenbau und Coaching: Ulrike Langenbein, Dramaturgie: Irina Szodruch.
Mit: Jerry Hoffmann, Cynthia Micas, Taner Şahintürk, Dimitrij Schaad, Thomas Wodianka.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, ohne Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Eine blitzgescheite, wirbelnde Performance über Political Correctness und Klischee-Zuschreibungen sei das, so André Mumot auf Dradio Fazit Kultur vom Tage (25.5.2015). Ob Deutschland die bestmögliche aller Welten sei, diese Frage werfe das Ensemble schon zu Beginn der Premiere im Berliner Gorki-Theater auf. "Grandios ist das, absolut hinreißend – besser noch im Grunde als das, was kaum weniger virtuos darauf folgt". Es fehle das verzweifelte, selbtsironische, lösungslose Hin und Her, "dafür setzt es umso mehr Aktion und Humor, jede Meneg kurzweilige Momente, in denen das feuereifrige Ensemble nur allzu gern seine Glanzstücke abliefert. Pralles, hyperaktives Volkstheater ist das – so mitreißend, dass einem schwindlig werden könnte."

"Ronens theaterselbstkritischer Humor ist wahrscheinlich die klügste Haltung, wenn es darum geht, mit derben Zügen, mit Anklängen ans Kabarett aus dem Kleistschen 'Kohlhaas' Bauanleitungen für zeitgenössische politische Revolten zu entwerfen", findet Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (24.5.2015). Sie benutze das Stück als dramatisches Skelett, dem sie ein heutiges Themenkostüm überwerfe und lasse in der Frage nach der biografischen Legitimation von gewalttätigem Widerstand ihre israelisch-palästinensische und ihre deutsche Lebenswelt aufeinandertreffen. "Als Politkabarett, lustig buntes und ziemlich lautes Sittenbild und mit Schauspielern in einer revoluzzenden Jungmännerpose, wie es so nur am Gorki zu sehen ist."

"Yael Ronen, die ihre Stücke stets zusammen mit den Schauspielern entwickelt und dabei auch diesen kreativen Prozess mitreflektiert, hat die diesmal die Pferde durchgehen lassen", meint Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (26.5.2015). "Weil so viele Funkenflug-Einfälle und verblüffende Querschläger rübergebracht, so viele verschiedene Typen karikiert werden müssen und darüber hinaus auch noch alle Nase lang das sperrige, aus illustrativem Schrott bestehende Bühnenbild kompliziert umzubauen ist, bleibt wenig Raum für Figuren, Spiel und moralische Irritation." Bei aller fantastischer Überfrachtung und bei aller verzweifelten Albernheit sei zu verbuchen, "dass die Inszenierung in dem Drang, alles auf einmal zu erzählen, auf dass des Zuschauers Nerven explodieren, doch ziemlich nah bei Kleist landet."

Gar nicht amüsiert ist Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.5.2015): Ronen schmeiße sich mit ihrem fünfköpfigen Ensemble schamlos ans Publikum heran und setze voll auf ökologisch-populistische Comedy. Am Ende versinke "das biologisch-dynamische Gutmenschentum, mit dem Kohlhaas bei Yael Ronen in knapp zwei Stunden abgespeist wird, in saurem Kitsch – und in rührseligem Studententheater, in dem viel geulkt, aber wenig gedacht, viel gebrüllt, aber wenig gespielt wird: Klamauk ja, Kleist kaum".

Anders als in "Common Ground" arbeite Ronen beim "Kohlhaas-Prinzip" nicht mit den Biografien der Schauspieler, sondern werfe gemeinsam mit ihnen bewusst alles umstandslos in den "Kohlhaas"-Topf, was so an Ungerechtigkeitsstereotypen und Widerstandsposen im zeitgenössischen Bewusstsein herumschwirrt, berichtet Christine Wahl im Tagesspiegel (26.5.2015). Ihr Fazit: "Wohl war: Wohl dem, der Widerspruch und Revoluzzer-Pose, Protest und Protestfolklore anno 2015 auseinanderzudividieren vermag!"

Ronen verstehe sich darauf, sich hochpolitischen Stoffen mit Leichtigkeit und Selbstironie anzunähern, so Mirja Gabathuler in der tageszeitung (26.5.2015). "Die Kernfragen von Kleists Novelle verlieren durch die bewusst eingesetzten ironischen Brechungen aber nicht an Sprengkraft, scheinen die Zuschauer dadurch sogar unvermittelter zu treffen."

In der Süddeutschen Zeitung (27.5.2015) schreibt Peter Laudenbach: "Die Inszenierung gibt sich diffus radikal – sie bedient aber nur die üblichen Ressentiments. Dass der Abend als gekonnt inszenierte Farce, als fröhlicher Klassenkampf-Boulevard trotzdem funktioniert, verdankt er der tollen Spielfreude der Schauspieler." Selbstironie werde zur Selbstfeier und das Spiel mit der Authentizität zum Kalauer. Ziemlich platt sei der " Versuch, die Klassengesellschaft im Straßenverkehr zu entdecken oder den Rechtsstaat mit feudalen Herrschaftsverhältnissen gleichzusetzen." Es gehe auch nicht um etwas anderes als um "eine Bebilderung von Klischees, der Kleist höchstens als Stofflieferant dient".

Nach einem furiosen Auftakt geht dieser Abend für Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (30.5.2015) nicht recht auf. Ronens Kohlhaas kenne "einzig irdische Ungerechtigkeit. Was bei Kleist ein aufschlussreich unlösbarer Konflikt ist, wandelt sich bei Ronen zum knalligen Prinzip. Es lautet: Aus Ungerechtigkeit erwächst Fanatismus, Gewalt, Mordbrennerei." Der Held des Abends sei "hauptsächlich damit beschäftigt, wider das Gefängnis seiner eigenen Prinzipienreiterei zu wüten statt gegen die Ursachen der Ungerechtigkeit. Er wird zum Genarrten der gesellschaftlichen Verhältnisse – und der Zuschauer bleibt schlicht Voyeur einer schön anzuschauenden Entsetzlichkeit."

 

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