Obwohl - Die Ruhrfestspiele Recklinghausen überzeugen mit der Uraufführung eines deftigen Stücks modernen Volkstheaters von Beate Faßnacht
Endstation Eckkneipe
von Friederike Felbeck
Recklinghausen, 29. Mai 2015. Was in Deutschland die kleine Kneipe an der Ecke ist, heißt in Österreich "Beisl", in der Schweiz "Beiz". "Dort fragt Dich keiner, was Du hast oder bist", sang schon Peter Alexander. Im abgedunkelten Intimabsackraum kommt ein eigentümliches Sonnensystem aus Stammgästen zusammen, die sich auf ihren Hockern festgesessen haben.
Eine Welt wie ein Schlagersong
In ihrem Zentrum eine Wirtin in klassischem Dirndl mit rätselhafter Geschichte, und eine aufreizende Bedienung in fleischfarbener "nude"-Bluse und hoch geschlitztem Lederrock, die allen und keinem gehört. Ihnen gegenüber hocken ein gerne aufbrausender verkappter Dichter, ein begehrlicher Möchtegern-Macho, der im Zustand verschmähter Liebe vor sich hin schrumpelt, und ein altersweiser Arzt, der noch Restneugier für andere aufbringt. Alle sind sie irgendwann mal in dieser Kneipe gelandet, um dort miteinander stecken zu bleiben. Eine Welt wie ein Schlagersong, Typen, die man schon an ihrer Sitzhaltung erkennt, und die ihr eigenes Leben ins Nichts dirigieren. Nur der Auftritt einer fremden Frau stellt sie noch in Frage in ihrer heimelig eingerichteten Dumpfheit.
Beate Faßnachts Stück, das ein paar Jahre auf den Richtigen gewartet hat, ist ein Knüller. In Koproduktion mit dem WLB Esslingen und dem Theater Rampe Stuttgart ist "Obwohl" nun im Rahmen der Ruhrfestspiele Recklinghausen uraufgeführt worden. "Obwohl" meint die ewige Gleichmacherei und Selbstzensur, mit der jede der Figuren einen eigenen Gedanken unterbricht und vor den Ohren und Augen der anderen wieder glatt bügelt. Der Schweizer Autorin gelingt dabei ein fast zärtlicher Wortwitz, der ihre Figuren scharf stellt und das Zeug zu einer prallen Komödie liefert.
Endzeitstimmung wie bei Beckett
Der Regisseur der Uraufführung, Wolfram Apprich, entscheidet sich für eine existenzialistische fast Beckett-hafte Erzählweise des Stückes. Die Inszenierung verabschiedet sich von jedem Naturalismus – keine Gläser und Tabletts, keine Fernbedienung für den gemeinsam angeglotzten Fernseher – und gewinnt so eine gehörige Portion Endzeitstimmung. "Draußen gibt es nicht mehr", ist einer von Faßnachts Schlüsselsätzen. Und tatsächlich, es regnet ohne Ende als käme die nächste Sintflut.
Der formale Coup von Faßnachts Stück ist es, dreimal eine fremde Frau, hier gespielt von Kristin Göpfert, in das geschlossene System der Kneipenbewohner treten zu lassen. Ob es ein und dieselbe Frau unter unterschiedlichen Perücken ist, oder doch verschiedene, das bleibt offen. Die Gemeinschaft der Gäste ist der Prototyp einer geschlossenen Gesellschaft, die sich untereinander spinnefeind und zutiefst unsympathisch ist und erst wieder lebendig wird, wenn jemand von außen an sie herantritt. Die Fremde kommt mal unglücklich mit unnennbarem Kummer und unterdrückten Tränen zu ihnen, oder baggert die ausschließlich männlichen Gäste schamlos an, probt an ihnen "Ich liebe dich"-Sagen mit unscharfer Zielperson, die sie dann befriedigen will.
Auf die Sprache konzentriert
Anstatt, wie in Faßnachts Text vorgeschlagen, im Fernsehen Bilder vom Hinterzimmer, der Küche oder der Toilette, also dem Fortgang des Geschehens, zu zeigen, geschieht dies nur über ihre Beschreibung. Das ist symptomatisch für Apprichs Zugriff, der die Aktionen auf das Wesentliche reduziert und allein der Sprache vertraut. Die Bühne ist denn auch ein hohler Zylinder, ganz in grau, von kleinem Durchmesser, der auf einer Drehbühne steht. Auf dieser Kneipen-Insel fläzen sich die Gäste, schaukeln auf ihren Barhockern, laufen wie in einer Fronleichnamsprozession drum herum oder klammern sich am halbrunden Tresen fest, als wären sie auf einem Rettungsboot, das dem Untergang geweiht ist.
Faßnachts Stück kommt daher wie ein skelettiertes Stück Volkstheater – sprachgewaltig, jeder Satz ein Zufallstreffer, lauter Weisheiten, die unreflektiert aus dem Maul des Sprechenden schießen. Ihr Text erinnert an die kräftig-brutalen Schaustücke einer Marieluise Fleißer, eines Rainer Werner Fassbinder oder Franz Xaver Kroetz. Das Festival der Uraufführungen, eine Art Festival im Festival, bespielt damit im dritten Jahr die ehemalige Fördermaschinenhalle der Zeche König Ludwig ½ und bleibt so den außergewöhnlichen Bemühungen der Ruhrfestspiele Recklinghausen um moderne Varianten des Volkstheaters treu.
Obwohl
von Beate Faßnacht
Uraufführung
Regie: Wolfram Apprich, Bühne/Kostüme: Indra Nauck, Dramaturgie: Martina Grohmann, Marcus Grube.
Mit: Eberhard Boeck, Nikolaos Eleftheriadis, Kristin Göpfert, Nina Mohr, Vivian Scheurle, Florian Stamm.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
Koproduktion Ruhrfestspiele Recklinghausen, WLB Esslingen, Theater Rampe Stuttgart
www.ruhrfestspiele.de
www.wlb-esslingen.de
www.theaterrampe.de
Was dieser rechte Schmarrn solle, erschließe sich weder durch die Textlektüre noch die Urinszenierung, findet Pitt Herrmann in den Sonntagsnachrichten aus Herne (31.5.2015). Nach Lektüre des Programmhefts liege der Schluss nahe, "Beate Faßnacht habe ein Stück geschrieben über die Merkel-Ära der Großen Koalition, über den allzu bequemen Stillstand im Denken und Handeln ihrer saturierten, nur um sich selbst kreisenden Wähler-Figuren, die sich auch durch aufreizende 'Fremde' nicht aus der Reserve locken lassen und der Apokalypse beim 'Zweier' gelassen entgegen sehen. Obwohl..."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 11. Oktober 2024 Theater Ansbach: Großes Haus bleibt bis 2026 geschlossen
- 10. Oktober 2024 Berlin: Neue Teamleitung fürs GRIPS Theater ab 2025
- 10. Oktober 2024 Literaturnobelpreis für Han Kang
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
neueste kommentare >
-
Kultursender 3sat bedroht Kontaktformular
-
Neumarkt Zürich Klage Was wäre die Alternative?
-
Neumarkt Zürich Klage Jens Balzers Essay
-
Der Reisende, Essen Variation
-
Neumarkt Zürich Klage Kopf auf Füße
-
3sat bedroht Mehr Vielfalt
-
euro-scene Leipzig Arnas Kinder
-
euro-scene Leipzig Kuratorische Unwucht
-
euro-scene Leipzig Tendenziös
-
euro-scene Leipzig Versuch einer Antwort
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau