Winnetous Erben

von Michael Laages

Kassel, 6. Juni 2015. Gerade trat ja der österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer in die Spur seines Landsmanns Peter Handke, der vor drei Jahren (und zum 70. Geburtstag) mit dem renommierten Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde. Und unübersehbar verbindet sich "die unverheiratete", das Preisträgerstück Palmetshofers gleich in mehrerlei Hinsicht mit "Immer noch Sturm", jenem Handke-Text, der den Dramatiker derzeit heimisch werden lässt wie nie zuvor in den Spielplänen deutscher Bühnen.

Generationen-Dramen zwischen Nazi-Zeit und Gegenwart

Die Verwandtschaft beider Dramatiker mag sicher auch begründet sein in den strengen, kraftvollen Formen, derer sich beider Sprache auf der Bühne bedient; vor allem aber reflektiert Handke wie Palmetshofer aus österreichischer Sicht die Jahrhundert-Katastrophe, die die deutsche Nazi-Barbarei über die südliche Nachbarschaft brachte – bei Palmetshofer führt eine einfache Frau auf dem Land im Mühlviertel den Nazi-Wahn über dessen eigentliches Ende hinaus fort und denunziert noch nach der Niederlage der "Herrenrasse" einen harmlosen jungen Soldaten, der desertieren will; und bis in die übernächste Generation zeugt sich das begangene Unrecht fort. Handke erzählt das Familien- und Generationen-Drama der eigenen engeren Heimat – in den Obstbauerndörfern am Jaunfeld, zu Füßen der Saualpe im südlichen Kärnten, nahe der slowenischen Grenze, fokussiert der Dramatiker Erniedrigung und Widerstand einer Volksgruppe, deren Eigensinn und Identität (und deren Sprache vor allem) verloren geht; im Krieg und danach noch immer. Für dieses historische Panorama beschwört Handke die eigene Familie.

ImmernochSturm 560 N.Klinger uFamilienbildnis auf der Apfelsaft-Pyramide. Mit Peter Elter als Ich-Erzähler am Mikro und Christina Weiser, Moritz Löwe, Alexander Weise. Auf der Treppe: Anna Böger, Christian Ehrich  © N. Klinger

Als Erzähler-Ich holt er Oma und Opa, Tanten und Onkel aus der Erinnerung hervor – vor seinen und des Publikums Augen materialisieren sie sich, während der Dichter sich selber auf einer Bank sitzen und über die Landschaft schauen sieht. Neulich am Kieler Theater (in Malte Kreutzfeldts Inszenierung von "Immer noch Sturm") lebten Handkes Obstbauern auf schräger Ebene, wie an den Hängen der Saualpe, und die Äpfel, von deren Zucht, Pflege und Ernte sie seit Menschengedenken lebten und leben, kollerten immer wieder von oben zu Tal.

Für Marco Štormans Inszenierung jetzt in Kassel hat Frauke Löffel auf die Schauspielhaus-Bühne eine riesige Pyramide aus grünen Kisten mit je zwölf Flaschen Apfelsaft drin gebaut; echter "Jablotschni Sok" aus Slowenien. Einige wenige Hof- und Küchen-Utensilien markieren daneben im ersten Teil auch den Verwertungsprozess der Äpfel, und im zweiten Teil (wenn sich die Menschen vom Jaunfeld auf unterschiedliche Weise der deutschen Besatzung zu widersetzen beginnen) werden die Kisten auch zum Baumaterial für Barrikaden.

Wir sind noch da, auch wenn Ihr uns unser Land gestohlen habt

Mehr und mehr nimmt das Handke-Personal (in Anna Rudolphs Kostümen) auch Haltung und vor allem Körper-Bemalung von Indianern an – und bereitet so die grandiose Mini-Phantasie vor, die das Ende des Textes beherrscht. Da erzählt Handke vom Indianer-Stamm der Atabaquen, deren Heimat zum touristischen Disneyland verkam – und mittendrin in der fremd gewordenen eigenen Welt sitzen nun die Atabaquen stumm und still, und nur gelegentlich stehen sie auf und winken einander zu. Wir sind noch da, sagen sie, auch wenn Ihr uns unser Land gestohlen habt.

Benjamin, jüngster Bruder der Mutter vom Ich-Erzähler, ist der erste, der stirbt im Weltkrieg der Nazis, den niemand auf dem Jaunfeld will; aber winkend wie ein Indianer bleibt er als Geist im Spiel. Überhaupt gibt sich Štormans Inszenierung recht geisterhaft und indianisch. Wenn die Überlebenden Benjamins Tod betrauern kurz vor der Pause, und auch gegen Ende, wenn die Befreiung vom Nazi-Wahn zum Greifen nahe ist, brechen sie in jenes Klagegeheul mit vor dem Mund flatternden Händen aus, wie wir es aus alten Indianerfilmen kennen. Was für ein Zufall: Am Premierentag starb Pierre Brice, Deutschlands Kino-Winnetou. Hier sind die Erben.

Die verlorene Sprache

Sehr kollektiv gestaltet das Kasseler Ensemble im ersten Teil den Alltag der Familie, viel und gern wird durch- und übereinander gesprochen; und die Sprach-Melodie des Abends nimmt so eine Art von Fremdheit an, die fast slowenisch klingt. So spricht ja eigentlich die slowenischstämmige Minderheit auf dem Jaunfeld; und als erstes Mittel der Unterdrückung wird dieser Minderheit die eigene Sprache ausgetrieben. Und im zweiten Teil (also im Krieg und danach) markiert die Inszenierung auch deutlicher die Fremdheit des Erzählers – zwar ist er hier zu Hause, aber willkommen war er nie: als Kind einer der Schwestern vom Jaunfeld-Hof, die mit einem deutschen Besatzer fraternisierte. Sie bleibt die Verräterin, das Kind bleibt ausgestoßen. Vermutlich nehmen erst die Geister den verlorenen Sohn auf in ihrer Mitte.

Die Geschichte ging nicht gerecht um mit den Slowenen in Kärnten. Obwohl sie eine der wirklich kämpfenden Widerstandsgruppen waren im Reich der Nazis, haben sie nichts vom Sieg: müssen staatlich bei Österreich bleiben, bekommen auch die geliebte eigene Sprache und Kultur nicht zurück. Darum, sagt Handke, sei eben "immer noch Sturm" – und das Bild der siegreichen Indianer-Geister auf dem Podest aus Apfelkisten wird bei Štorman auch zum Epitaph, zum Nachruf auf die Welt, wie sie war. Sie kommt nicht wieder.

Und die zornige Verzweiflung des alt gewordenen Dichterkindes macht "Immer noch Sturm" auch mit dem Ensemble in Kassel und auch bei Marco Štorman zur großen, berührenden Geschichte aus der Geschichte.

 

Immer noch Sturm
von Peter Handke
Regie: Marco Štorman, Bühne: Frauke Löffel, Kostüme: Anna Rudolph, Musik: Gordian Gleiss, Sebastian Jurchen, Licht: Oskar Rosman, Dramaturgie: Michael Volk.
Mit: Anna Böger, Christian Ehrich, Peter Elter, Moritz Löwe, Anke Stedingk, Alexander Weise, Christina Weiser, Jürgen Wink.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 


Kritikenrundschau

Handkes Text biete "überraschende Einsichten in historische Zusammenhänge, in eine Vergangenheit, deren Folgen bis heute reichen", und zwar "mittels einer faszinierenden, poetisch erzählten Familiengeschichte mit vielen unterschiedlichen Facetten", so schreibt Michael Schäfer im Göttinger Tageblatt (8.6.2015). "Marco Štorman – ein deutscher Regisseur mit slowenischen Wurzeln – gibt sich viel Mühe, aus dem Prosatext lebendiges Theater zu machen. Das gelingt ihm über weite Strecken, manchmal allerdings kann er Längen nicht überspielen."

Werner Fritsch lässt seine Besprechung in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (8.6.2015) auf das Finale der Inszenierung zulaufen: "Dass in Alaska Indianer vom Stamm der Athabasken als letzte versprengte Ureinwohner sich von Zeit zu Zeit erheben und einander zuwinken: Wir sind noch da. Ein leichtes, poetisches Schlussbild dieses faszinierenden, aber auch fordernden Stücks. Denn auch in einer Zeit des extremen Individualismus und der Ich-Optimierung winken uns die Vorfahren aus der Vergangenheit von Zeit zu Zeit zu: Wir sind noch da."

 

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