Presseschau vom 11. Juni 2015 - Die Süddeutsche Zeitung spricht mit den Kultur-Digitalisierern Tim Renner und Dieter Gorny

Eine Öffnung muss her!

Eine Öffnung muss her!

11. Juni 2015. In der Süddeutschen Zeitung (10.6.2015) hat Andrian Kreye ein Gespräch mit Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner und dem Digitalbeauftragten des Bundeswirtschaftministeriums Dieter Gorny geführt, über "das Theater der Zukunft", "Musik aus dem Netz" und "warum beides vielen Angst macht".

 

Angst vor Veränderung im Kulturbetrieb

Der Grund, dafür, dass es gerade "in der Kultur so viel Angst vor Veränderung" gebe, liege in der Sorge begründet, "der Staat könne sich von der Kultur verabschieden, dass sich das alles zu angelsächsischen Modellen hin entwickelt", konstatiert Tim Renner. Nun sei es aber so, dass der "extrem begehrte Chris Dercon" gerade deshalb nach Berlin habe geholt werden können, weil er es satt habe, dass die Tate Modern weitgehend von Sponsoren abhängig sei.

Außerdem aber, so Dieter Gorny, gehe es "schon auch um Freiräume der Kunst". Alle spürten, dass sich die Gesellschaft enorm verändere. "Wir steigen aus der Kernkraft aus, wir entweihen Kirchen, weil die Leute nicht mehr reingehen. Nur in der Kultur droht die Nichtveränderung der ästhetische Status quo zu werden." Jetzt müsse man darum kämpfen, dass "Bewegung in den Kulturbetrieb kommt, ohne ihn oder seine Bedeutung infrage zu stellen". Man müsse "raus aus den Häusern", man spüre ja, dass es "eine buchstäbliche Wand" gebe, "die verhindert, dass der Impuls aus dem Theater rausgeht".

Es gehe, so Tim Renner, "um Freiräume". Das sei der "Charme von Popkultur", die habe sich "immer wieder Freiräume geschaffen, weil sie sich von rein technischen Anforderungen befreit hat. Die Revolution in der Pop- und Rockmusik war ja, dass Musiker das instrumentale Handwerk von sich schieben konnten und sich so neue Möglichkeiten geschaffen haben."

Inhaltliche Öffnungen = Beliebigkeiit?

Nach einer Diskussion über das Oligopol der großen amerikanischen Internetkonzerne, über Spotify, das Urheber- und das Leistungsschutzrecht, die reformbedürftige GEMA und das neue Umsatzwachstum der Musikindustrie, über die Künstlerförderung und den Streaming-Dienst von Apple kehrt die Diskussion zur sogenannten Hochkultur zurück.

Öffnungsprozesse, merkt Andrian Kreye an, könnten auch zu "inhaltlichen Beliebigkeiten" führen. Jüngstes Beispiel: niemand sei "glücklich" mit der Björk-Ausstellung im Museum of Modern Art.

Von "den Besucherzahlen her", wendet Tim Renner ein, sei die Ausstellung "ein Erfolg". Es kämen Leute in das Haus, die sonst "nicht zwingend über die Schwelle eines Museums gegangen wären".

Aber sei eine solche Öffnung nicht zwangsläufig mit einer inhaltlichen Öffnung verbunden? Insisitiert Kreye.

Es gehe doch immer um Personen, wehrt Gorny ab. Die stünden für "eine ganz bestimmte Sicht oder eine ganz bestimmte Öffnung".

Postnationale Stadt

So stehe Chris Dercon, führt Renner aus, "für eine internationalisierte und genreübergreifende Kultur". Berlin sei keine zusammenwachsende Stadt mehr und der Rosa Luxemburg Platz nicht länger "ein Ort im Osten". Er liege jetzt in der Mitte einer Stadt, die jedes Jahr um 50.000 Menschen wachse, "davon 60 % aus dem nicht deutschsprachigen Ausland". Berlin sei auch eine "postnationale Stadt" und deshalb sei er, Renner, froh, "nun in Dercon einen Macher gewonnen zu haben, der eine internationale Biografie mitbringt". Dercon experimentiere, genau wie Castorf mit Medien gearbeitet habe, die dem Theater fremd waren, "genreübergreifend".

Das Experiment wagen

Das Sprechtheater bleibe mit seinen vier großen Häusern, - dem Deutschen Theater, dem Berliner Ensemble, der Schaubühne und dem Maxim Gorki - weiterhin stark in Berlin. Die vier Häuser würden das Sprechtheater weiterhin "sowohl treiben als auch bewahren". Auch die Volksbühne werde "nicht abtrünnig werden", dafür würden "neben Chris Dercon schon Marietta Piekenbrock und Susanne Kennedy sorgen". Das Sprechtheater werde sich an der Volksbühne lediglich "stärker mit anderen Kunstformen verschränken". Renner: An der Volksbühne sei der "selbst gewählte Auftrag in ihrer hundertjährigen Geschichte" eben "nicht zu bewahren, sondern das Experiment zu wagen". Theater "wurde und wird hier" als Labor der Gesellschaft verstanden. Auch jetzt verschwinde das Theater ja nicht, es werde bloß "komplexer". Es sei genauso wie  "vor Jahrzehnten in der Musik die Verschmelzung von Ton und Bewegtbild zum Videoclip. Dadurch ist eine neue Ästhetik entstanden."

(jnm)

Kommentare  
Presseschau Tim Renner/Dieter Gorny: Blanker Hohn
ojeh, die personaldebatte um dercon ist ja die eine sache, aber was tim renner da redet ist erschreckend. was faselt der da vom videoclip? das ausgerechnet das theater an der volksbühne jetzt mit den angekündigten leuten Komplexer werden soll, als es das bei schlingensief, castorf, pollesch gewesen ist, klingt nach blanken hohn. ein witz. es geht letztendlich nur um die totale enthistorisierung und entpolitisierung dieses ortes, wie tim renner hier ja auch offen ausspricht. eben doch die neoliberale agenda. schlussstrich, alles nur noch mitte, oder was?
Presseschau Tim Renner/Dieter Gorny: der Ort macht die Differenz
Dercon scheint ahnungslos, das qualifiziert ihn. Kapitalismus setzt Geschichtslosigkeit voraus. Das unterscheidet ihn von der Kunst. Die Beseitigung jedes spezifischen Inhaltes ist es, die Renner und Dercon promoten. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Internationalisierung auch sein könnte: Sich Einzulassen auf die spezifischen Erfahrung und die Arbeit an Differenzierung, an Geschichte. Hier aber kaufen wir bei "maison martin margiela" überall den gleichen Schlüpfer, ob in Honkgonk, Kiew oder Kathmandu. Der Ort an dem wir ihn gekauft haben, macht dann die Differenz. Schöne Neue Welt. Wer einmal Mette Ingwersen gesehn hat fragt sich, wie unterkomplex Performance sein darf. Die Antwort: Es gibt nach unten keine Grenzen.
Presseschau Tim Renner / Dieter Gorny: Unverschämtheit
jaja, das ist der Charme der Pop- und Rockmusik, dass dort fast niemand mehr von seiner Kunst leben kann, ausser die mainstreamangepassten Universal-Sony-kapitalismuskonzern-Musiker, die alle gleich geschaltet werden . Wer in der Musik aus der Reihe tanzt und Experimente wagt, muß schon lange seine Kunst als Nebenjob, Straßenkünstler oder Hobby betreiben. Das ist eine totale Unverschämtheit, dies auf das Stadttheater mit seinen letzten Enemblegeistkünstlern zu übertragen!! Das enblößt Herr Renners total Unwissenheit über die Arbeitszusammenhänge eines Theaterbetriebes...und, als wollte sie das Theater nicht erneuern!! Wer jahrzehntelang nur mit Ein-oder Zweijahresverträgen überleben mußte wie ALLE Schauspieler (fie manchmal länger gehen dürfen, aber immer wieder in fRage gestellt werden können), der MUSS sich ständig erneuern!! Herr Renner verhöhnt eine lang gewachsene Struktur und vergleicht Äpfel it Birnen!! Er sollte sich erneuern und seinen Stuhl jemandem überlassen, der sich besser auskennt und vor allem sensibler mit Kunst und Künstlern umgeht.. ist....Pop und Rock sind kein guter Vergleich mit dem Sprechtheater...es ist sehr traurig, daß solche Menschen Macht über die Theater der Hauptstadt haben...mit einem Halbwissen zerstört er mutwillig die wirkliche Weiterentwicklung des Theaters und spricht von Erneuerung.....es ist zum Heulen...
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