Subversive Spielesammlung

von Friederike Felbeck

Mülheim, 21. Juni 2015. An seinem letzten Abend steht das Impulse Theater Festival in voller Blüte. Florian Malzacher, sein künstlerischer Leiter, eröffnet eine "durational performance", in dessen Verlauf eine im Mülheimer Wald verstorbene Eiche zunächst coram publico wieder zusammengesetzt wird, um sie dann endgültig zu Holz werden zu lassen. Wenige Meter entfernt ist gerade die letzte Veranstaltung der "Silent University" zu Ende gegangen, ein subversiver Schwarzmarkt von Wissensvermittlung von Akademikern, die durch ihren unsicheren Aufenthaltsstatus keine Lehraufträge annehmen können.

Im Autonomen Zentrum und den beiden Spielstätten des Ringlokschuppens laufen zeitgleich die letzten Beiträge einer opulenten Werkschau, die zeigt, was freies Theater im deutschsprachigen Raum heutzutage kann. Nach einem zögerlich aufgenommenen Auftakt sind am zweiten Wochenende alle Veranstaltungen fast ausverkauft und selbst das theoretische Rahmenprogramm, die Konferenz "Images that mean the world" zu Grenzen von Repräsentation in Politik, Medien und Theater zieht an die hundert Teilnehmer an.

Breit angelegt

Totgesagte leben länger. De facto stand das bereits in den 90er Jahren gegründete Festival vor dem Aus. Überschuldete Kommunen, der (vorübergehende) Rückzug der Kunststiftung NRW und eine fehlende Neuorientierung machten das aufwendige Festival mit zahlreichen Gästen angreifbar. Nun firmieren die Impulse in ihrem 25. Jahr als jährlich wiederkehrendes Event, das sich nicht mehr parallel in den Städten Bochum, Düsseldorf, Köln und Mülheim an der Ruhr aufblättert und so manches mal auf der Strecke blieb, sondern konzentriert sich jeweils auf eine Stadt und damit einen zentralen Spielort.

MalzacherFestival1 560 Festival Impulse uFestivalleiter Florian Malzacher zwischen Besuchern © Impulse Festival

Den Anfang macht in diesem Jahr der Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr. Im Jahr 2016 wird der Hauptaustragungsort das FFT Düsseldorf sein, 2017 die Stadt Köln mit der Studiobühne als festem Partner. Bochum hat sich aus dem Zirkel der Veranstalter verabschiedet, ein künstlerisches wie buchstäbliches Armutszeugnis: Von dem Oldtimerbus, der Zuschauer von einem zum anderen Ort brachte und zugleich Kinosaal für künstlerische Interventionen von Studierenden aus Ramallah mit dem Filmemacher Phil Collins war ("Our Position Vanishes"), musste die Theaterstadt Bochum nicht mehr angefahren werden.

Deutsche-Eiche-Projekt

Malzachers Auswahl weist ihn einmal mehr als gelehriges Kind der Gießener Schule aus. Lectures, Reenactments, interaktive Versuchsanordnungen, "Spezialisten des Alltags" und sehr viel künstlerische Nabelschau machen das Programm aus. Lediglich Gintersdorfer/Klassen mit ihrer "Chefferie - Das neue schwarze Denken" und Milo Rau und sein International Institute of Political Murder mit "The Civil Wars" vertrauen auf die Beteiligung von Tänzern und Schauspielern. Zu den insgesamt neun aus dem deutschsprachigen Raum eingeladenen Arbeiten gehören daneben auch das bereits etablierte Kollektiv Gob Squad ("Western Society"), andcompany&Co ("Sounds like war: Kriegserklärung"), der in Berlin lebende libanesische Künstler Rabih Mroué ("Riding on a cloud") und der amerikanische Videodesigner und Regisseur Chris Kondek ("Anonymous P.").

Aber auch Newcomer wie Markus&Markus ("Ibsen:Gespenster"), Herbordt/Mohren ("Die Aufführung") oder Hendrik Quast & Maika Knoblich, die mit ihrem Beitrag "Der Ur-Forst" die vielleicht ungewöhnlichste und spektakulärste Aufführung des Festivals lieferten: In einem süffisant ironischen Ton zelebrieren die beiden Performer ausdauernd über sechs Stunden ihre kränkelnde Hauptdarstellerin – die deutsche Eiche – und kommentieren spannend wie lehrreich den absurden Vorgang, einen 800 kg schweren Baum in seine Einzelteile zu zerlegen, auf der Drehscheibe des Ringlokschuppens wieder zusammenzusetzen, um sie dann endgültig zu fällen. Dazwischen gibt es Gelegenheit, Selfies mit der Eiche zu machen und der Zeichenkurs der VHS Mülheim pinselt in den unterschiedlichsten Techniken live mit. Quast und Knoblich schaffen es, so etwas wie "Nachhaltigkeit" in Zeiten von Umwelt-Enzyklika und Klima-Gipfel plastisch zu machen.

urforst1 560 ImpulseFestival uSpaß mit dem "Urforst": Eiche zerlegt, fotografiert, wieder aufgebaut © Impulse Festival

Vormals als "Wiederbewaldung" der Sophiensäle in Berlin inszeniert, verpaart sich die Performance, zu der man an diesem langen Abend immer wieder zurückkehren kann und die einen wahrhaftigen Sog auf ihre Zuschauer ausübt, mit der zeitgleich stattfindenden Nacht der Industriekultur, "ExtraSchicht", die seit 2001 aktuelle und ehemalige Stätten industrieller Arbeit im Ruhrgebiet mit diversen Veranstaltungen adelt und im benachbarten Müga-Park mit einem begehbaren Labyrinth, Walk-Acts und Feuerwerk aufwartet. Diese Synergie ist ein richtungsweisender Glücksfall, der den üblicherweise rücksichtslos in Konkurrenz stehenden Veranstaltungen und Festivals an Rhein und Ruhr gegenübersteht.

Gegenwart verdauen

Ein gemeinsamer Nenner der neun Gastspiele ist das Abschöpfen von vertrauten, an der medialen Oberfläche schwimmenden Themen und Diskursen. Darunter Europäer, die entfernt mit dem syrischen Dschihad zu tun haben ("Civil Wars"), die nach Europa schwappenden Bürgerkriege des Nahen Ostens ("Riding on a Cloud"), Flüchtlingspolitik und Asylantendramen ("Silent University"). Dazu gehört der Blick ins eigene zunehmend ungesicherte Wohnzimmer ("Western Society"). Chris Kondek und Christiane Kühl hacken in ihrem "Anonymous P." private E-mails ihrer Zuschauer, die sie zuvor mit Aussicht auf Freibier und Mitmach-Entertainment in ein Universum aus historischen wie modernen Überwachungsmethoden gelockt haben.

Freies Theater als Verdauungstrakt der Gegenwart? Die letzte Premiere der Impulse schlägt denn auch dem Fass den Boden aus. Das Genre heißt: Lecture-Concert. Die Ellbogen auf dem Tisch abgestellt, da liegt der Text, von dem die Performer der andcompany&Co ablesen, Pickelhelm auf dem Haupt, Keyboard und Mischpult wie gefüllte Teller auf einer Tafel und das Mikro tief im Mund: "Ähm." Dann wird in einer knappen Stunde alles durchdekliniert, was einem zum Thema Kriegs-Erklärungen so einfallen könnte.

Sprechen üben

Richtig Futter gab es durch die Einladung der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, die mit ihrem jüngsten Buch "Agonistik" den diesjährigen Impulsen, die unter dem Motto "Gesellschaftsspiele" liefen, ein weiteres Leitmotiv verlieh und in ihren Vorträgen den Finger auf die Wunde der einig linken und selbstbezogenen intellektuellen und künstlerischen Elite legte. So erweiterte denn auch die niederländische Regisseurin Lotte van den Berg ihr bereits in Amsterdam und München erprobtes Format "Building Conversation" um ein "Agonostisches Gespräch". In Konstellationen von 5 bis maximal 20 Teilnehmern lud van den Berg zu insgesamt vier verschiedenen Gesprächen ein, die mal wortlos, mal im Liegen (als Gesprächstechnik der Maori) oder anhand der Dialogmethode des Quantenphysikers David Bohm angeboten wurden.

ImpulseBuildingConversation 560 SandraKoermann uLotte van den Bergs "Building Conversation" © Sandra Koermann

Bereichert um gemeinsame Spaziergänge und ein Essen an einem vor dem FFT von Daan´t Sas installierten öffentlichen Meeting Point, ist dies neben "Silent University" und "Our Position Vanishes" eine von drei originär durch die Impulse generierten Koproduktionen, die das Festival lokal verorten. "Building Conversation" hat indes in seiner radikalen Prozesshaftigkeit die größte Eigendynamik entwickelt – zahlreiche Zuschauer entschieden sich, nach einem ersten Gespräch auch noch weitere der drei bis vierstündigen exklusiven Sessions folgen zu lassen.

Verdiente Wiederbelebung

Die diesjährige Auswahl des Impulse Theater Festivals ist sehr viel schärfer gestellt, unmissverständlich und niemals gefällig. Das ist neben der verdienten Wiederbelebung dieser wesentlichen Plattform des freien Theaters ihr größter Gewinn. Doch ein solches Programm braucht eine größere Spannbreite, um seine Flügel richtig ausbreiten zu können – viele Formate, wie zum Beispiel das von Lotte van den Berg sind schwer zu kommunizieren, die Unübersichtlichkeit und Verschiedenartigkeit des Angebots fordern den Zuschauern sehr viel Entscheidungsfreude, aber auch Vorwissen ab. So läuft es Gefahr, über ein Spezialisten- und Insidertreffen nicht hinauszukommen, und letztlich kein breiteres Publikum für Konstellationen und Ästhetiken zu gewinnen und den Begriff Theater weiter konsequent anders aufzuladen.

 

Impulse Theater Festival 2015
11. Juni bis 20. Juni 2015, veranstaltet vom NRW KULTURsekretariat in Verbindung mit den Städten Mülheim an der Ruhr, Düsseldorf und Köln. Unterstützt vom Ministerpräsident des Landes NRW, dem Goethe Institut und prohelvetia. Die internationalen Produktionen wurden u.a. gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, die Allianz Kulturstiftung und Urbane Künste Ruhr.

www.festivalimpulse.de

 


Kritikenrundschau

"Die Errungenschaften der freien Theaterszene, die gern mit ästhetischen Klischees beschrieben werden – Radikalität, Innovation –, zeichnen sich, wenn es überhaupt einen gemeinsamen Nenner gibt, vor allem dadurch aus, dass sie die Rolle des Zuschauers wenn nicht abschaffen, so doch methodisch erneuern." So schreibt Martin Krumbholz für die Süddeutsche Zeitung (24.6.2015) über die "Impulse" 2015. Mit der Freitod-Dokumentation "Gespenster" von Markus&Markus sei "ein Grad an Unmittelbarkeit erreicht, der nicht leicht zu ertragen ist". Diese wie andere Arbeiten bestätigten die repräsentationskritische These der "Impulse": "Im 'freien' Theater betritt der Mensch als Mensch die Szene, sei es als Experte des Alltags oder als professioneller Performer, der sich nicht an einen überlieferten Text hält, sondern freimütig von sich selbst erzählt. Am besten gelingt dieses Experiment immer dann, wenn tatsächlich der einzelne Akteur mit seiner Geschichte im Mittelpunkt steht, und nicht etwa eine extravagante formale Idee."

Auf Deutschlandradio (20.6.2015) nutzt Tobi Müller seinen Festivalbericht zur kulturpolitischen Stellungnahme für die Freie Szene: "In Deutschland fehlt ein durchfinanziertes Haus, das solche Kunst in die Mitte des Programms stellt und kontiniuerliche Entwicklung erlaubt."

 

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