Die Toten kommen - Im zweiten Teil der ZPS-Aktion ziehen tausende Demonstranten vor den Reichstag. Und unterwerfen die Sache eigenen Interessen
Leichte Beute
von Esther Slevogt
Berlin, 21. Juni 2015. Es ist ungewiss, ob es die junge syrische Mutter wirklich gegeben hat, deren Begräbnis in Berlin neulich die spektakuläre Kunstaktion Die Toten kommen des Zentrums für Politische Schönheit eröffnet hat. Ob sich ihr angeblich aus einem anonymen Massengrab exhumierter Leichnam wirklich in dem weißen Sarg befand, der auf dem muslimischen Friedhof in Berlin-Gatow in die Erde versenkt wurde. Denn sie ist in erster Linie eine Theaterfigur, erschaffen, um zu erreichen, was gut ausgedachte Theaterfiguren seit Aristoteles zu erreichen versuchen: nämlich beim Zuschauer Jammern ("Eleos") und Schaudern ("Phobos") hervorzurufen, um schließlich Läuterung (und Erkenntnis) zu bewirken. Und wie sehr das ZPS mit dieser Aktion einen Nerv getroffen hat, zeigt schon das enorme Medienecho.
Eigentlich möchte man daher inständig hoffen, dass der Sarg leer gewesen ist. Ebenso leer, wie die Särge heute, die in einem inszenierten Trauermarsch von der Berliner Straße Unter den Linden bis kurz vor das Bundeskanzleramt getragen wurden: mit der krassen Behauptung, man wolle die anonym verscharrten Ertrunkenen hier nun im Zentrum von Macht und politischer Verantwortung real noch einmal begraben. Denn jeder habe das Recht auf ein würdiges Begräbnis. Die Behörden hatten allerdings reale Bestattungen verboten, inklusive des Mitführens eines Baggers, mit dem die Erde vor dem Kanzleramt hätte aufgerissen werden sollen.
Symbolische Aufladung
Was für eine Würde hätte den im Mittelmeer Ertrunkenen und anonym verscharrten Menschen hier schließlich zurückgegeben werden können: Wenn man sie, wie geplant, plakativ auf dem Platz vor dem Kanzleramt ganz real und guerillahaft begraben hätte? Keine. Ihre Missachtung und Instrumentalisierung hätte sich fortgeschrieben.
Ein kraftvolles und eindringliches Bild stand schließlich am Ende dieser Als-ob-Aktion: ein Feld mit über 100 symbolischen Gräbern für die ertrunkenen Flüchtlinge auf der enormen Wiese vor dem Reichstag, die "Platz der Republik" heißt. Eine ähnlich symbolische Aufladung hatte dieser Platz wohl zuletzt vor 20 Jahren als Christo den Reichstag verpackte: kurz bevor er zum Symbol der neuen Berliner Republik umgebaut werden sollte.
Aber leider ist das nur ein Bild von vielen. Denn die Veranstaltung wurde ziemlich bald übernommen: von unterschiedlichsten radikalen und politischen Gruppierungen von radikal links bis radikal rechts. Alle versuchten, ihre eigenen Bilder zu produzieren und sich in die Aktion einzuschreiben. Das ZPS war am Ende nur noch eine Randerscheinung – die Veranstaltung war ihnen entglitten. Zwar waren einige solidarisierende Gruppen im Vorfeld wohl offiziell ausgeladen worden (siehe ZPS-Facebookseite). Ihrem Unmut darüber machten einige von ihnen während des Trauermarsches lauthals Luft. Ein paar Ultra-Rechte wurden während des Demonstrationszuges sogar von der Polizei entfernt, als sie ihre Parolen brüllten.
Medienspektakel
Die ersten, die am Sammelpunkt Unter den Linden / Ecke Charlottenstraße unangenehm aufgefallen waren, war eine Gruppe mit Grabkränzen bewaffneter Funktionär*innen der Berliner Piratenpartei, die verkleidet waren, als gehörten sie zu einer Provinzinszenierung von "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" – mitten drin: Anke Domscheit-Berg mit rotem Hut und einem Transparent mit peinlich demagogischen Parolen. Umringt waren sie von Dutzenden Medienleuten, vom Rumor des Spektakels angelockt: sie hielten die schrille Truppe für ZPS-ler.
Die echten ZPS-ler jedoch traten eher dezent in schwarzen Anzügen und weißen T-Shirts mit Auschrift "Die Toten kommen" in Erscheinung. Und der obligatorischen schwarzen Schminke im Gesicht. Vielleicht als Symbol für den Dreck dieser Welt, dem sie sich mit ihrem ganzen moralischen Pathos entgegenwerfen. Gemessenen Schrittes begleiteten sie einen Transporter eines muslimischen Bestattungsunternehmers.
Tausende Trittbrettfahrer
Mehrere Tausend Menschen hatten sich dem Zug angeschlossen. Viele mit Blumen und selbstgebastelten christlichen Grabkreuzen. Erst dachte man noch: hier wurde mit einer ebenso krassen wie sinnfälligen Setzung eine gesellschaftliche Bewegung angestoßen. Doch bald wurde auch deutlich: es hatten sich diffuseste Gruppen als Trittbrettfahrer daran gehängt und wollten ihre eigene Gechichte damit schreiben. Die Abschlusskundgebung des Zentrums für Politische Schönheit unter dem symbolischen Bauschild am Kanzleramt findet am Ende mangels Publikum nicht mehr statt.
Denn Antifa-Gruppen hatten den Zaun, der die Reichstagswiese vor dem Demonstrationszug schützen sollte, umgestürzt. Die Menge strömte weg vom Bauschild auf die Wiese. Viele gruben mit bloßen Händen symbolische Gräber für umgekommene Flüchtlinge aus. Eine Wahnsinns-Szenerie. Doch ins friedliche Bild drangen bald schrille Töne. Sogenannte "Anti-Deutsche" skandierten aggressive Parolen. Am Rande immer wieder erhitzte Debatten: Zwei junge palästinensische Männer beschimpfen Gräber-Ausheberinnen in geblümten Hosen: "Ihr missbraucht unser Schicksal!" und ernten völliges Unverständnis. Irgendwo knäulen sich Massen, die aggressiven Parolen schwellen an. Aus einer anderen Ecke des Platzes dringt fanatisch säuselnder Sing-Sang. Schließlich stürmt die Polizei die Veranstaltung. Auch das ein Bild, das bleibt.
Und eben das des symbolischen Gräberfelds vor dem deutschen Bundestag. Wenn es nicht über Nacht weggeräumt wird. Als theatrale Setzung hat "Die Toten kommen" enorme Wucht und Wirkung entfaltet. Doch als es auf die Straße ging, in den Raum jenseits der imaginären Bühne im medialen Raum, war die Luft raus, wurde "Die Toten kommen" zur leichten Beute für Instrumentalisierer und Populisten. Das ZPS hatte dem nichts entgegenzusetzen. Merkwürdig schlachtenbummlerische Kommentare auf Twitter stattdessen. Leider.
Hier eine Presseschau zur Aktion.
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Und dass diese Veranstaltung nicht "unter sich bleiben" würde, war doch irgendwie klar. Im öffentlichen Raum gehört eben jede/r dazu, nicht nur die Künstlergruppe mit Namen. Schlingensief hätte das voll unterschrieben, ausser natürlich die Teilnahme der Ultra-Rechten. Was ist zum Beispiel mit den Flüchtenden aus dem ehemaligen Jugoslawien? Warum werden die hier nicht aufgenommen? Gerade, wo Deutschland an Krieg und Zerstörung dieses Landes mitbeteiligt war? Und warum schreibt Arno Widmann im Kommentar der Berliner Zeitung zu dieser Aktion plötzlich gegen die griechischen Reeder an, welche keine Steuern zahlen würden und doch mit ihren Booten den Flüchtenden im Mittelmeer helfen könnten? Warum wird hier alles thematisch vermischt? Geht's hier am Ende wieder mal um Parteipolitik (Linke und Piraten gegen Grüne)? Hilft das den Flüchtenden? Fragen über Fragen.
Am Besten Sie gehen wieder ins Bezahltheater, dort machen Sie nämlich extra Theater nur für Sie und die anderen obersten zehntausend und dann gibt es auch keine unangenehmen Dinge über die man länger als wie während der Vorstellung nachdenken muss.
Krieg den Hütten, Frieden den Palästen!
Die Diskussion und Kritik um das Projekt ist hochinteressant. Etwa die Frage, warum entsteht so etwas nur in diesem künstlerischen Kontext? Oder umgekehrt: Warum passiert es sonst – aus politischen Zusammenhängen heraus – nicht? Und was sagt das über das System "Kunst" aus?
(Es handelt sich um keine Besprechung sondern einen Kommentar. Freundliche Grüße aus der Redaktion)
Es geht um einen Völkermord im Mittelmeer. Dem kann man sich nicht mit offenen Gräbern und weißen Särgen entgegenstellen. Das Bild versagt und deformiert die gute Absicht ins Groteske.
Das Zentrum für politische Schönheit konnte der Tragödie im Mittelmeer nur ein Zwischenspiel hinzufügen. Der eigentlich Konflikt bleibt unberührt und wälzt sich weiter aus. Der Mangel an absichtsvoller Genauigkeit lässt einen ratlos zurück. Das ist traurig. Ein Schuss ins Leere. Und nun verwalten wir sein hohles Echo.
Seit der Aneignung dieser Aktion durch Bürger und andere Aktivisten frage ich mich nun, ob das vom ZfpS eigentlich von vornherein mitgedacht wurde. Diese Möglichkeit, dass eine Kunstaktion im öffentlichen Raum sich immer auch verselbständigen kann. Zudem hätte ich gern mehr Information darüber, was hier anhand von "Die Toten kommen" kritisiert wird. Das fehlt mir hier nämlich sehr, mehr Information. Gestern lief ich an folgendem Plakat vorbei und war irritiert, was mich zu folgender Website führte:
http://www.asylrechtsverschaerfung-stoppen.de/?p=550
Aber wenn man dieses Tragödie wirklich künstlerisch thematisieren möchte, muss man die Informationen doch differenziert verarbeiten. Da geht es bei dem Zentrum für politische Schönheit so unterkomplex zu, man kann nur mit den Gehirnwendungen hilflos hin und her schlackern.
Wie kommt jemand auf die Idee, für die Toten dieses Völkermordes Kreuze und Särge und offene Gräber zu organisieren? Was für eine Art Empfang für die Toten ist das? Kreuze, verstehen sie?! Sind alle Afrikaner Christen? Und wenn „ja“, warum wäre das so? Stehen an muslimischen Gräbern Kreuze? Deckt dies eine christliche Symbol alle Religionen Afrikas ab? Nein!
Da kann man doch nur zornig werden. Ist ein moderner Völkermord mit christlichen Symbolen allein zu bewältigen und offenen Gräbern? Gibt es auch ein atheistischen Ansatz? Einen analytische, politischen, neben diesem künstlerischen Unvermögen?
Wenn, darf man doch erwarten das Künstler einen Aufschrei der Empörung erzeugen, und nicht alles mit einer falschen Trauer überziehen. Wut, Zorn, Empörung sind angemessene Kategorien und vieles mehr. Wozu das Spiel mit den Toten, wenn es soviele Lebende zu retten gilt?
Ich glaube, dass es wenig Sinn macht die Aktion(en) von ihrer medialen Rezeption zu trennen. Das ZPS produzierte Leerstellen (angefangen mit der Behauptung (?) eines Begräbnisses bis zum Fehlen von Lösungsansätzen) und für mich liegt die "eigentliche" Performance in den Reaktionen auf diese Leerstellen, die durch das Kunstsetting eine Rahmung erhalten und dadurch vielleicht etwas sichtbarer werden.
Überspitzt formuliert: Geht es in dieser Arbeit wirklich um das Leid von Flüchtenden bzw. um politische Forderungen, oder um uns und unser Verhalten gegenüber dieser Thematik?
Ich konnte aus gesundheitlichen Gründen am Sonntag nicht an dem Marsch teilnehmen (teilnehmen als solidarisierung? bzw. wäre eine neutrale Position überhaupt möglich?) und verfolgte deshalb das Treiben in der Facebook-Veranstaltung. Flüchtende als Thema? Fehlanzeige! Weiße Männer, die sich im Kampf um Deutungshoheit über Begriffe zerfleischen...
Warum gerade Deutschland (und das ZfpS agiert doch in diesem Rahmen, oder nicht?) die Toten aus dem Mittelmeer besser bestatten können soll als zum Beispiel Italien, das verstehe ich auch nicht. Öffnung der Grenzen heisst Internationalismus. Und Religionen sind immer schon grenzenlos. Ja, vielleicht kann das ZfpS das jetzt hinterher alles auf seine Fahnen schreiben. Ob das so ist, werden wir es erfahren? Schade, dass sich hier niemand von ihnen dazu äussert.
Da ich also davon ausgehe, dass das "Werk" überhaupt erst durch diese Aushandlungsprozesse entsteht und im Bezug auf die Übersetzungsprozesse in Bilder usw. ständig transformiert wird, müssen sie mir schon etwas genauer erklären, woraus Sie die Unabhängigkeit (schwingt da auch etwas Objektivitätsbehaubtung mit?) Ihrer Betrachtung ableiten.
Sonst ist das erstmal nur eine Setzung Ihrerseits, die in ihrer Opposition zur "Egozentrik" der Macher für mich nicht ganz do unabhängig wirkt bzw. Ihre Agenda verschweigt.
Nun zum Zentrum: Den Zeitpunkt, in dem Sie die Auflösung verorten, denke ich als Entstehung. Und das erst einmal wertungsfrei im Gegensatz zum "entgleiten". Deshalb ist es für mich auch irrelevant, ob das nun vom Zentrum intendiert ist oder nicht (obwohl Fall zwei eine sehr dürftige Reflexion der eigenen Position im Verhältnis von Akteur_innen und Zuschauer_innen bzw. Teilnehmer_innen darstellen würde), da ich in dem Ganzen die Position der Teilnehmer_innen stark mache und als konstitutiv erachte.
An welcher Stelle hat sich das Zentrum explizit die Reaktionen der Teilnehmer_innen angeeignet? Dieses Statement hab ich wohl dann in dem ganzen Rauschen nicht gelesen? Haben Sie diesbezüglich einen Link?
Mal abgesehen davon das Macher und Betrachter in dem Moment nicht über die selben Mittel verfügten, gab es auch keine Chance zur Konzeption unter dem Druck des öffentlichen Raum. Das ist fahrlässig und verantwortungslos. Leider.
Wo setzen Sie hier die Trennlinie zu anderen Interventionem im öffentlichen Raum oder formulieren Sie damit eine generelle Kritik an diesen?
Der Begriff der Verantwortung für die Reaktion (?) beißt sich dann doch etwas mit dem Vorwurf der totalitären Denkstruktur in diesem Punkt.
Vor allem wenn ich Intentionalität gar nicht so wichtig erachte, um Effekte der Aktion für eine Analyse fruchtbar zu machen?
Es wäre an dieser Stelle echt hilfreich, wenn sie ihre erkanntem Allmachtsphantasien mal an einer konkreten Stelle festmachen.
Natürlich ist eine solche Argumentation eine Provokation. Aber da sitzt eine Künstlergruppe und meint mit Rechthaben und Baggern und Särgen und echten Leichen alle demokratischen Regeln umgehen zu können. Doch am Ende sagt sie, es war gar nicht so gemeint. Es war alles nur ein Setting. So dumm sind wir ja auch nicht, dass wir meinen aus dem Stand heraus den Vorhof der Macht umgestalten zu können. Und in dieser Unmöglichkeit suchen sie Belege dafür, dass die „Mächtigen“, die „Entscheider“, eben immer falsch entscheiden, denn eigentlich müsste dieses Gräberfeld längst am Kanzleramt angelegt sein. Das Eigentliche führen sie ins Feld, gegen alle Mühsal demokratischer Umsetzung. Sie suchen die Abkürzung, wohl wissend, dass es die rechtlich nicht gibt. Sie bauen sich ein System auf, indem sie immer Recht haben, egal wie es kommt. Das sind selbstermächtigte Allmachtsvorstellung, zumindest im Ansatz.
Einen Gegenentwurf kennen sie nicht. Sie überlassen den Betrachter der Eile. Eilig sollen sie an einem Sonntagmorgen ihre Pfade weiter austreten.
Was aber wenn jemand sagte, ich möchte keine offenen Gräber. Ich möchte lieber ein Flüchtlingsboot in die Mitte Berlins, ins Zentrum der Macht holen, und dort ein internationales Büro für Kriegsflüchtlingsausweiße einrichten. Für solche Querschläger der Phantasie lassen sie keinen Raum.
Ja, falls es eines ist. Warum müssen sich politische Aktionen und Demonstrationen, die als solche höchst eindrucksvoll sein können, ein ästhetisches Mäntelchen umhängen und worin besteht die ästhetische Dimension genau, worin deren politischer Mehrwert? Auch das Kongo-Tribunal, das ich aus tiefer Provinz nur durch Kritiken und die Debatte hier mitbekomme, ist eine mutige, bewundernswerte politische Tat - so etwas benötigt m. E. keinen, im Grunde lediglich behaupteten, Kunstanspruch.
@ Gottfried Fischborn: Könnte diese Aktion des ZfpS nicht unter dem Label "erweiterer Kunstbegriff" bzw. "soziale Plastik" nach Beuys stehen? Ich kopiere hier mal kurz Wikipedia rein:
"Beuys erweiterte nun den gewohnten physikalischen Aspekt der Kunst um die geistige, nicht greifbare, aber ebenso formbare plastische Komponente. Schließlich führte er ein Wechselspiel der Begrifflichkeiten ein, indem er Polaritäten definierte und Kunst und Anti-Kunst gegenüberstellte, was letztlich zu der einfachen Relation 'Alles und nichts ist Kunst' führte. Als sozial definierte er dabei die Erkenntnis, dass der Mensch ein schöpferisches, die Welt bestimmendes Wesen sei und gemeinschaftlich an diesem sinnlichen Erlebnis teilhaben solle. Er formulierte diese Erkenntnis in dem oft zusammenhangslos und beliebig zitierten Ausspruch: 'Jeder Mensch ist ein Künstler'."
Wenn "Die Toten kommen" nicht unter dem Label "Kunst" laufen würde, dann würde es auch nicht zu Irritationen führen, welche beabsichtigt waren/sind(?). Diese Aktion hinterfragt möglicherweise die Zuordnung von sinnlichem und symbolischen Körper. Sinnliche Körper ersaufen, Verzeihung, und die deutsche Regierung macht dazu höchstens Symbolpolitik.
Man könnte Ihrer Antwort komplett zustimmen, wenn man einer Ausweitung des Kunstbegriffes ins Unendliche, wo er sich ins Ungefähre verliert, zustimmen könnte. Man kann aber auch, mit Verlaub, Beuys für einen genialischen Scharlatan halten. Und politische Aktionen benötigen nicht das Label "Kunst", um wirksam oder irritierend zu sein; sie benötigen es nicht einmal, um symbolisch zu sein.
@ martin baucks: Warum schwindelig reden? Waren in den Särgen denn jetzt "echte Leichname"? Das ist doch die politische Leerstelle, diese leeren Särge. Es geht dagegen um die zahlreichen noch lebenden Menschen, welche durch eine andere Asylpolitik gerettet werden könnten! Darf man daraus eine Art Massenbegräbnis vor dem deutschen Reichstag machen? Die Aktion hat für mich in dem Moment Sinn gemacht bzw. funktioniert, wo die ersten Gräber auch in anderen europäischen Ländern aufgetaucht sind. Und ich frage mich auch immer noch weiter, ob das beabsichtigt war, im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs. Die Festung EU muss befragt werden, darum geht's! Deutschland nimmt im Vergleich mit anderen EU-Ländern eher wenige Geflüchtete auf. Da brauchen "wir" dann auch keine narzisstische Trauer-Symbolpolitik.
In dem Sinne wurden wir Betrachter einer etwas missratenen Beerdigung und einer plumpen Demonstration. Kunst gab es keine.
Es ist eine Art Transsubstantiation mit der die Gruppe während der Demonstration spielte. Man wusste zunächst nicht, bis die Polizei die Särge öffnete, ob weitere Leichname tatsächlich enthalten waren. Es war der Versuch die toten Flüchtlinge, ähnlich wie in der Eucharistie, die Anwesenheit der Toten real werden zu lassen. Das Ganze trägt stark rituelle Züge. Es wäre zumindest eine Lesart.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, das einige Demonstranten sich neben die offenen Gräber legten, stellvertretend sozusagen, leibhaftig. Ein recht hilfloser Versuch der Versinnlichung, denn ein Lebender kann nicht stellvertretend für einen Toten stehen. Das wäre anmaßend und auf seine Art respektlos. Wie auch die ganze Richtung etwas gruseliges hatte. Es geht ja nicht darum in die Gräber zugeraten, eine persönliche Nahtoderfahrung zu machen, sondern die Gräber zu verhindern. Die Aktion ist also eher im Bereich einer kultischen Handlung, einer politischen Demonstration zu sehen und kaum ein Kunstwerk. Herr Ruch betonte ja auch, dass es ihm scheißegal sei, ob dies Kunst sei. Es ging um einen Generalissimus dem gefälligst alle folgen sollten.
Ich habe mich übrigens zunächst gefragt, warum die erste Tote eine Mutter mit Kind war. Und das ging dann nicht in Ihre Richtung der Ikonisierung bzw. Auferstehung von den Toten, sondern ich fragte mich vielmehr, was das mit der von Spencer verdrehten Evolutionstheorie in Bezug auf Menschen ("Sozialdarwinismus") zu tun hat. Warum nicht ein Mann mit einem Kind? Würden "wir" über einen Mann nicht genauso trauern, weil Frauen und Kinder eben die "schwächsten Glieder der Gesellschaft" sind? Sind sie das denn? In welcher Gesellschaft? Der deutschen oder der afrikanischen? Ich kenne mich da nicht so gut aus.
Geht es in diesem Kontext dann auch um die Frage der "Arterhaltung", vorzugsweise der eigenen? Sollten wir nicht lieber die Arten abschaffen, frei nach Dath, was immer nur wieder eine Hierarchisierung von Menschen nach sich zieht?
Der deutsche Innenminister soll ja in diesen Tagen gesagt haben, dass, wer kommt und sich nicht über Arbeit und (deutsche?) Sprache integriert, sofort wieder raus soll. In Bezug auf wen sagt er das? Auf das männliche oder weibliche Geschlecht? Welche Vorurteile stecken dahinter? Männer werden schneller kriminell? Deswegen Handyüberwachung und Ausweitung der Abschiebehaft? Welche (Sexual-)Ängste gar? Ängste der Mischung eines national homogenen Volkes?
Der Unterschied zwischen Schlingensief und Ruch liegt wohl darin, dass Schlingensief nicht dem Widerspruch von Ruch unterlag, Aufklärung betreiben zu wollen, das dann aber mit offenbar sehr ernst gemeinten BILD-Parolen. Schlingensief benutzte diese Parolen eher, um sie über den Einbau in seine Kunst AUCH kritisch zu befragen, zum Beispiel "Tötet Helmut Kohl". Dass das Ernst genommen wurde, würde ich nicht sagen, es ist eher groteske Überzeichnung des "autoritären Charakters" der BILD-Schreiber und -Leser, zum Beispiel, ein Spiel, obwohl die Medien da genauso reflexartig wie bei Ruch reagierten.
Bei Ruch kommt diese Irritation und Selbstbefragung möglicherweise gar nicht zustande. Ich habe gerade die schöne Rede von Navid Kermani "Vergesst Deutschland!" gelesen. Ihm geht es sowohl um den NSU (plus Verfassungsschutz und Polizei) als auch um islamistische Selbstmordattentäter, ebenso um die deutsche Literatur, welche sich kritisch gegen das eigene Land wendet und es zugleich als Heimat liebt, nicht aber als homogenes Staatsgebilde bzw. als Nation, sondern im Bewusstsein, ein Weltbürger zu sein.
Bei Ruch steht quasi erstmal der Hass auf Deutschland und damit alles Deutsche, inklusive des Selbsthasses(?). Über das Ressentiment kommt man aber nicht weiter, weil man damit eigentlich nur lukrativ bzw. teuer finanziert predigt, ohne etwas zu verändern. Was geschieht über die mediale Aufmerksamkeitsspanne seiner Aktionen hinaus? Oder ist das nicht vielmehr Aufgabe der Politik und der Weltbürger? Kunst hat noch nie eine direkte Wirkung gehabt, und vielleicht ist sie deswegen auch besser im Theaterraum bzw. in der Literatur oder im Film aufgehoben?
Ich würde Sie gern noch nach dem Begriff "Nahtoderfahrung" fragen. Wie kommen Sie darauf? Sich neben Gräber zu legen ist doch keine Nahtoderfahrung. Das ist jetzt nicht lustig.
Da haben sie vollkommen Recht. Ich wollte auch lediglich darauf hinweisen, in welchem Bereich tote Körper verwendet werden, um Inhalte aufzuladen, aufzuwerten. In der Kunst geschieht dies gemeinhin nicht. Damien Hirst verwendete für seinen Diamond Skull keinen echten Schädel, sondern einen aus Platin. In der Totengräber Szene von Hamlet werden keine echten Knochen verwendet. Künstler wie Flatz oder Tim Ullrichs benutzten ihre eigenen lebenden Körper. Ruch überschreitet hier eindeutig eine Grenze und verlässt damit den Bereich der Kunst. Ob er sich selber als „Priester“ sieht, man weiß es nicht. Aber der Umgang mit Leichen erfordert eher ein Priesteramt als Künstlertum. Hier werden nicht nur die Grenzen zwischen Kunst und Realität verwischt, hier wird eine Grenze empfindlich überschritten. Offensichtlich stört dies kaum jemanden. Eventuell ist die Aktion auch einfach nicht wichtig genug, um diese Grenzüberschreitung zu debattieren. Mir viel sie sofort auf und hat mich einigermaßen entsetzt. Nun zu behaupten, Ruch setze seine Aktionen bewusst ins Ungenaue, in die Unschärfe, um nicht greifbar zu sein, und darin liege das Besondere seiner Arbeit, erscheint mir wie die Erweiterung des künstlerischen Unvermögens um eine weitere Scharlatanerie.
Wie, ach so? Sie beziehen sich hier also auf Thomas Hobbes Leviathan, der Staatsform des aufgeklärten Absolutismus, welcher möglicherweise auch heute, nur mit dem Wort Demokratie als Fassade, gilt? Weil's eh viele kennen werden, hier wieder nur Wikipedia kopiert: "Sein (des Leviathans Körper, I.) besteht aus den Menschen, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt haben (wenn sie das denn auch wirklich wollen!, sic!, I.). In seinen Händen hält er Schwert und Krummstab, die Zeichen für weltliche und geistliche Macht."
Ja, also wenn ICH noch nicht mal meinen eigenen Körper kontrollieren kann, dann kann das der Souverän auch nicht mit seinen Gliedern, den Menschen. Und die kultivieren dann eben auch nicht den hochherrschaftlichen Landschaftsgarten bzw. die Wiese davor, sondern sie bauen Maulwurfshügel, weil die die verfassungsmäßige Ordnung erstmal kreativ unterhöhlen, um darauf dann Neues aufzubauen(?). Ich hab da so ein youtube-Video von dieser Aktion gesehen, wo die Masse zunächst wild ist, fast ein wenig erschreckend, und sich dann gegenseitig zähmt. Über eine Blume zum Beispiel. Oder einen händchenhaltenden Kreis, Leere im Zentrum, alles Rand. Sich nackt vertrauen, aber bitte nicht wörtlich nehmen oder höchstens am FKK-OST-Strand, das Ganze, ansonsten ist's für Menschen ohne Herz und mit reiner Konsumentenhaltung, sorry. Kannibalen wär nochmal was anderes, aber das ist ja auch nur ein Mythos.
Ob Ruch sich nun selbst hasst, tut mir auch Leid, diese Unterstellung, keine Ahnung. Kann schonmal vorkommen, wenn ich nicht anerkenne, dass ich/jeder von uns auch unkontrollierbare und verführbare Anteile in sich trägt. Sollte uns DAS demonstriert werden? Und die Polizisten ziehen dazu selbst die schwedischen Gardinen vor?
Hier das Video:
https://www.youtube.com/watch?v=36X9aakSbwQ
http://abendland-film.at/
Es ist weder Kunst noch ist es eine politische Demonstration. Ich finde, dass es eher etwas naiv ist, sowas als Kunst zu planen und dann wie "ungezogene Kinder" auf die "bösen Staatsmachtsvertreter der Polizei" regelrecht zu warten, womit die Aktionen ihre politische Relevanz bekommen sollen. Ist es denn etwas Neues oder Unvorhersehbares, dass an der bulgarischen Grenze der vorherigen Aktion oder auf der Reichstagswiese dieser Aktion die Polizei dem Ganzen ein Ende bereitet oder zumindest so tut als ob (auf der Reichstagswiese sieht es für mich fast wie ein Katz-und-Maus-Spiel aus)? Mir fehlt da auch etwas, jenseits der puren Aufmerksamkeitsgenerierung im Hinblich auf das Thema Asylpolitik.
Wahrscheinlich ist die "Ausladung" mancher Gruppen auch nur (für die Medien) inszeniert? Und am Ende dieses beinahe kindliche "warum wird der verhaftet und ich nicht?" mancher Demonstrantinnen usw., das naive Fragen mancher Menschen der Piratenpartei, warum sie da jetzt festgehalten würden? usw. Hä?! Politischer Kindergarten?! Und dann noch der Ort, wohin sich die Demonstranten am Ende auflösen sollen: Scheidemannstraße. War das nicht der Philipp von der SPD gegen Liebknecht und Luxemburg? Und schon damals scheiterte der Widerstand gegen Hitler an der Lagerbildung. Punkt Punkt Punkt.
https://www.youtube.com/watch?v=VnI6x69PksY
Eine Art Woodstock wäre mir aber noch lieber als sich anschreiende Menschen. Auch fehlen mir hier die, um die es ursprünglich mal gehen sollte: Die Geflüchteten. Das ist ein bisschen das Absurde an der Situation, finde ich. Tahrir-Platz usw. funktionierte anders.
https://de.wikipedia.org/wiki/Carillon_%28Berlin%29
https://www.youtube.com/watch?v=_SXkC8wek1Q
Nun gut, heute kommt mir Heiner Müllers "Hamletmaschine" in den Sinn. Der "Intellektuelle zwischen den Fronten" der Schlacht. Auf der grünen Wiese lief ja auch ein Vereinzelter herum, welcher aus einem Reclamheft zitierte, Text eher unverständlich.
Und dieses Szenario am Ende, war das nicht irgendwie eine Lesart von Jeanne d'Arc? Die Kahlgeschorene, ich kenne ihren Namen, dieses Gesicht voller Trauer? Und Ponader macht dasselbe, nur als Mann? Scherz?
Ich dachte auch, Phil Collins lief da irgendwo rum, aber das war wohl eine Fata Morgana.
Philipp Löhle meine ich, auch gesehen zu haben. War Dirk Laucke auch dabei? Vermeintliche "Namen" unter den "Namenlosen".
Am Tollsten und meinem Gefühl nach am Schönsten war die singende Frau am Boden an der Gitarre nebst Trompeter. UND unbedingt der kleine junge Mann, Entschuldigung, welcher wie ein friedliebender "Dummer" (liebevoll-ironisch gemeint) einfach nur da saß, sich "taubstumm" stellte(?) und dann einfach den Platz verließ, nachdem er kurz angeschubst wurde.
Gab es da nicht auch einen Poliisten, welcher Angst hatte? Der kleine Dickbäuchige, zum Beispiel? Deeskalation ist sicher auch nicht einfach. Dass man sich nicht anstecken lässt, auf beiden Seiten der Fronten, zwischen den Fronten, darüber.
Auch frage ich mich plötzlich, was das friedliebende Heben der Hände mit militantem Geschrei zu tun hat? Warum dieser Slogan "Blut an euren Händen"? Göttliche Gewalt nach Walter Benjamin?
Und diese eingezäunte Wiese? Hat es da nicht Mitte Juni ein Fest, das Umweltfestival der Grünen, gegeben, welches wegen unzureichender Sicherheitsvorkehrungen abgesagt werden sollte? Wirkte zumindest ähnlich.
Man kann in Aktionen ja vieles reinlesen, aber was war jetzt wirklich wahr? Alles oder nichts.