Die Parallelweltenmischmaschine

von Jürgen Reuß

Freiburg/Buggingen, 7. März 2008. Eine normale Premiere ist das Ereignis "Berge versetzen", das am Samstag erstmals vom Theater Freiburg in Gang gesetzt wurde, nicht. Eher der Beleg, dass Untertitel bisweilen ernst zu nehmen sind. Der verspricht eine "Theatrale Expedition für Sinnsucher". Warum also wundern, dass man plötzlich in einem Reisebus sitzt?

Ziel der Fahrt ist Buggingen. Warum Buggingen, ein 3800-Einwohner-Ort ungefähr auf halber Strecke zwischen Freiburg und Basel? Weil Buggingen einen Berg hat, etwas, das Sinnstifter wie Mohammed oder Zarathustra gern besteigen und religiöse Menschen gern einmal mit ihrem Glauben versetzen würden.

Pilgerreise zur Abraumhalde

Der Berg bei Buggingen, so klärt die Reiseleiterin (Elisabeth Hoppe) während der Fahrt im ödesten Reiseleiterisch auf, ist für die Bewohner ein Dreck, aber für den, der sehen kann, ein heiliger Berg. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Der Berg ist die Abraumhalde eines Kalibergwerks, das 1973 geschlossen wurde. Die Bugginger nennen ihn liebevoll Monte Kalino, nach einer Pizzeria in der ehemaligen Werkskantine, die es aber auch nicht mehr gibt.

Am Fuß des Monte Kalino hat das Freiburger Theater den "Orbit" aufgestellt, eine fahrbare Kommunikationszentrale, die regelmäßig an theaterfernen Orten aufgestellt wird und die für ihre Aktionen schon in der vergangenen Spielzeit viel Anerkennung gefunden hat. Konzipiert wurde dieser Theatersatellit vom Berliner Raumlabor. Für Buggingen hat das Theater das Berliner Designerkollektiv anschlaege.de beauftragt. Das hat sich in Buggingen gründlich umgesehen und eine Mischung aus Pilgerfahrt und Stationendrama konzipiert.

Der Kali-Katholizismus

Im Bus wird man mit Sinnsucherschlagern à la "Öffne mir die Augen, ich möchte so gerne an dich glauben", Geschichten über den magischen Restsalzschimmer des Monte Kalino und 25-köpfige Heuschreckenkolonien eingestimmt. Erste Station ist dann der Ortsteil Betberg, auf dem, nomen est omen, eine evangelische Kirche prangt. Und schon ist man mitten drin in dieser Mischung aus inszenierter und zufälliger Begegnung. Draußen schmücken Konfirmanden die Kirchtür für ihren Initiationsritus (zufällig), drinnen orgelt einer eine Taizé-Endlosschleife (inszeniert), bis aus der ironischen Distanz des Zuschauers eine echte meditative Stimmung entsteht und er darüber die Zeit vergisst (ungeplant).

Nächste Station ist die für so einen kleinen Ort erstaunlich überdimensionierte katholische Kirche. Hier wird zum ersten Mal deutlich, dass der Monte Kalino tatsächlich sinnstiftend war. Ohne Kalibergwerk keine katholische Kirche. Denn eigentlich war Buggingen evangelisch, bis der neue Arbeitgeber den Ort mit katholischen Bergarbeitern vor allem aus Schlesien überschwemmte. In den 50ern wurde dann den Zuzüglern der kalte, mit Bergarbeitermotiven geschmückte Betonklotz zu Anbetungszwecken errichtet. Im Vorraum verköstigt ein heimischer Winzer seine Weine. Der ist zwar kein traditioneller Sinnstifter, aber der Glaube geht ja bekanntlich auch durch den Magen.

Weißt du, was du isst?

Die dritte Station ist das Rathaus. Dort wird die Pilgergruppe von einer Eingeborenen samt Kindern und Ziegen in Empfang genommen. Die Ziegen sind in gewisser Weise das Symbol des Glaubens dieser guten Frau. Denn nur wer sein Essen selbst züchtet, weiß was auf den Tisch kommt. Natürlich würde sie nie etwas so Ketzerisches wie "Dies ist mein Fleisch" sagen, aber diese Mischung aus konservativem Bewahren und Kampf gegen Genfood, der Buggingen sogar mal in die überregionale Presse brachte, ist schon eine weit verbreitete Privatreligion im Markgräfler Land.

Von Seifenkisten umschwirrt (die Bugginger haben den größten Seifenkistenverein Deutschlands und machen sogar bei Europameisterschaften mit), geht’s ins frisch eingerichtete Bergwerkmuseum. Kaliveteranen in vollem Wichs erläutern stolz ihr Handwerk, singen das Steigerlied und teilen Doppelkorn für alle aus. Ungefähr eine Generation lang war das Kaliwerk alles für Buggingen. Dann machte es dicht und überließ die Sinnstiftung anderen. Dem Imam zum Beispiel, dessen Moschee auf dem ehemaligen Werksgelände steht. Eine der größten der Region. Das Freitagsgebet ist die vorletzte Station der Expedition. Langsam macht sich Erstaunen breit, wie viele Parallelwelten selbst in so einem kleinen Ort wie Buggingen koexistieren.

Clerical Slam mit professionellen Deformationen

Nächster Stop ist der Orbit. Dort sollten ursprünglich Priester, Pastor, Imam und Agnostiker eine Art Clerical Slam zu Publikumsfragen veranstalten. Priester und Agnostiker fielen aus, dafür sprang ein Musterjugendlicher ein. Eine ermüdende Veranstaltung, obwohl die jeweiligen professionellen Deformationen schön zu Tage traten: die strenge Schriftgläubigkeit des Islam, der protestantische Subjektivismus und die wahre jugendliche Leidenschaft für den Fußball. Zum Schluss durften alle noch mit Bergführer den schlammigen Gipfel des Monte Kalino besteigen, dessen Illuminierung der Bürgermeister Tage zuvor persönlich feierlich eingestöpselt hatte.

War das Theater? So wie es in Freiburg verstanden wird schon. Hier soll nicht nur das Umland ins Theater kommen und schauen, was passiert, sondern auch umgekehrt. Das Theater will seinen Satelliten irgendwo ins Umland setzen und so lange da lassen, bis was passiert. Warum nicht die moralische Anstalt mal als professionell unterstützte Parallelweltenmischmaschine interpretieren?


Berge versetzen
Ein Projekt von anschlaege.de und Theater Freiburg
Künstlerische Leitung: Steffen Schuhmann, Sarah Wolf, Dramaturgie: Wolfgang Klüppel, Tagebuch: Ernst Hesse, Technik: Marc Doradzillo, Bergführer: Gerd Trefzer, Schauspielerin: Elisabeth Hopp.

www.theater.freiburg.de
www.anschlaege.de

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