Kommt mit!

von Wolfgang Behrens

Berlin, 24. Juni 2015. Vielleicht wird man dereinst einmal sagen, Fabian Hinrichs sei derjenige gewesen, der die großen Umschwünge im Werk René Polleschs getriggert habe. Vor fünf Jahren etwa kam dieser Hinrichs und lehrte Pollesch die Langsamkeit. Alles, was die Pollesch-Darsteller bis dahin im Speed-Modus aus sich heraus fetzten, kam in der Solo-Performance Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang plötzlich geradezu bedachtsam daher, aus Überdruck wurde sanfter Nachdruck. Das Glimmern der Diskurs-Discokugel Pollesch, die ihr Kapitalismusschulungs-Licht tausendfältig gebrochen durch den Raum sendete, verwandelte sich unter Hinrichs' Einwirkung in ein stetiges Glühen.

Und nun kommt dieser Hinrichs wieder daher, und erneut macht sich ein unverbrüchliches Pollesch-Markenzeichen einfach auf und davon: der in Fetzen gehauene Diskurs. Nein, es gibt diesmal keine Theoriesplitter, keine geschredderte Lehrstunde in Post-Poststrukturalismus oder in der Marktwirtschaft des alltäglichen Zusammenlebens. Was uns Pollesch/Hinrichs in "Keiner findet sich schön" an der Volksbühne stattdessen präsentieren, ist das Banalste von der Welt: einen großen Liebeskummer-Monolog. Und mit ihm kommen Sätze, wie sie sentimentaler in keinem Tagebuch eines Pubertierenden oder eines Midlifecrisis-Gebeutelten stehen könnten: "Ich halte das Leben nicht mehr aus. Ich will in etwas aufwachen, in dem ich weiterträumen will." Oder: "Es ist so schrecklich, dass ich nicht liebe, dass ich's kaum sagen kann. Ich hab nicht genug Liebe."

Iggy Pop oder Robocop?

Der Grundgedanke in "Keiner findet sich schön" ist überaus simpel. Da ist jemand – ein echter Ich-Sager, wie er bei Pollesch auch nicht immer vorkommt –, der eine Fülle kleinster Entscheidungen treffen muss ("Kackentscheidungen"), die vielleicht große Folgen haben, und dabei will dieser Jemand doch eigentlich nur die eine große Entscheidung treffen: für einen anderen Menschen. Wo nur Zufälle sind, klagt hier einer ein Schicksal ein. Das Leben fächere sich auf, so heißt es einmal, "in zwei bis hin zu 120.000 Stränge, mit insgesamt 80.000 (unterschiedlichen) Enden." Und später, kurz vor Schluss, erfolgt die Antwort auf diese Zumutung: "Weißt Du, ich brauche diese ganzen Stränge nicht. Ich brauche eigentlich nur einen Strang! Ich will Dich! Ich will nicht meinen Weg, ich will auch nicht unseren Weg, ich will Deinen Weg."

keinerfindetsich2 560 LenoreBlievernicht hHave no fear, Fabian is here! © Lenore Blievernicht

O je, was für ein Kitsch! Aber ganz so schlimm ist es dann doch nicht. Eigentlich ist es überhaupt nicht schlimm. Es ist sogar – um gleich noch einmal "Keiner findet sich schön" zu zitieren – "nicht ein bisschen toll, sondern toll!" Denn glücklicherweise sind Pollesch nicht auch noch sein Ohr für den sprachlich sich fortzeugenden Witz und sein Sinn für wunderliche Brüche flöten gegangen. Und im Konkreten werden die zu fällenden "Kackentscheidungen" vor allem eines: sehr lustig. Soll ich nun zum Iggy-Pop-Konzert gehen oder mich lieber auf Tinder verabreden oder doch einfach nur "Robocop" anschauen? Jede Alternative zieht eine wahre Flut neuer Alternativen nach sich, eine absurder als die andere: Wird etwa Iggy Pop beim Stagediving vom Publikum aufgefangen werden, oder eher nicht, weil alle Iggy Pop beim Sprung mit ihren Smartphones filmen und also die Hände nicht frei haben? Und was folgt daraus für die mögliche Begegnung mit der Liebe meines Lebens?

Appellatives Sprechen und amerikanischer Optimismus

Nicht ein bisschen toll, nicht toll, sondern toll-toll ist schließlich Fabian Hinrichs selbst. Während er ruhelos über die Bühne tigert, folgt sein Sprechen einer Art Grundmuster: Mit weicher Stimme, nah am Falsett, steuert er einen Hochton an, hält ihn, um bei den Interpunktionen ungefähr eine Terz in der Tonhöhe zu fallen – herauskommt ein nahezu sakral anmutender Singsang, eine lange Litanei. Was einschläfernd sein könnte, wirkt bei Hinrichs aber unendlich einnehmend, weil er dieses Grundmuster in ständiger Bewegung hält und unablässig variiert. Mal lässt er die Stimme auf dem Hochton überschnappen, mal gibt er mehr Bruststimme hinzu, mal bricht er mit kleinen Ausrastern ganz aus dem Modell aus. Immer aber wohnt diesem Sprechen etwas eigenartig Appellatives inne, das die Zuschauer sofort umhüllt und mitnimmt – besonders deutlich ist das in den Momenten, in denen Hinrichs mit ausgebreiteten Armen aufs Publikum zugeht, als wolle er sagen: Kommt mit! Vertraut euch meiner Litanei an, es wird euer Schaden nicht sein!

Was gibt's noch zu berichten? Ach ja, Bert Neumanns Bühne ist mal wieder von Lamettavorhängen umsäumt, der Boden ist rot-weiß gestreift, und mit fünf intermittierenden Tänzern in blau-weißen Sternkostümen ergänzt sich dieses Arrangement zur Amerika-Flagge. Dann wird noch ein gigantischer weißer Gummi-Teddybär mit "No fear"-Aufschrift aufgeblasen, den Hinrichs unter Aufbietung all seiner Kräfte aus der horizontalen in die aufrechte Position bringt ("Das war sehr anstrengend!"). Aber das sind alles Stränge, die man nicht unbedingt braucht, selbst wenn sie irgendwie schön sind. Den Strang Pollesch/Hinrichs aber, diesen so ganz eigenen Zusammenklang, den braucht man schon. Und das Volksbühnen-Publikum applaudiert hingerissen.

Keiner findet sich schön
von René Pollesch
Uraufführung
Regie: René Pollesch, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Tabea Braun, Licht: Frank Novak, Ton: Tobias Gringel, William Minke, Soufflage: Katharina Popov, Dramaturgie: Anna Heesen.
Mit: Fabian Hinrichs; Tanz: Nina Baukus, Rebekka Esther Böhme, Uri Burger, Jessica Kammerer, Tobias Roloff.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Fabian Hinrichs pumpe den "überaus entscheidungsschwachen Mann von etwa vierzig Jahren", den er spiele, "mit gehöriger Energie und lausbübischem Schmäh" zu einem typischen Stadtneurotiker auf, "der alles zu verstehen glaubt und nichts in die Tat umzusetzen vermag", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.6.2015). Ein Faust werde aus diesem nervösen Dampfplauderer trotzdem nicht, "weil er sich nur für sich selbst interessiert, und auch das nicht sonderlich inspiriert", so Bazinger: "René Polleschs belangloser Entweder-oder-Abend redet dem Publikum gezielt nach dem Zeitgeist-Maul."

"René Pollesch hat unser Innenleben transkribiert", schreibt eine begeisterte Hannah Lühmann in der Welt (26.6.2015). "Keiner findet sich schön" sei "umwerfend komisch", "zutiefst romantisch" "und so wahr", so Lühmann: Man denke sich bei jedem Satz nur: "Ja. Ja. Ja, verdammt, genauso ist es. So ist mein Leben. (…) Wer Probleme hat, für die Cafés reichen, der hat keine. Wir werden geboren in Erwartung der Welt, und sie kommt einfach nicht."

"Ein Diskurs-Pollesch ganz ohne Diskurs" sei bisher absolut undenkbar gewesen, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (26.6.2015). Insofern dürfe "Keiner findet sich schön" als "absolute Sensationsnovelle" gelten. "Keine Donna Haraway, kein Jean-Luc Nancy, kein Slavoj Žižek nirgends; jedenfalls nicht an der Textoberfläche", so Wahl. "Stattdessen: Weltschmerz. Liebeskummer. Bekennende Tagebuchtraurigkeit. So unbemäntelt, unakademisch und mit jenem erhabenen Mangel an Diskursfitness geschlagen, wie sich dieser Zustand eben gemeinhin so geriert." So ganz sei die Ironie Pollesch aber "zum Glück" doch nicht abhandengekommen, wenn für einen kurzen Moment die US-Flagge getanzt werde und damit "der (US-)Traum vom Happy End in allen Lebenslagen" als "Kitschsehnsuchtsfolie des Abends" gezeigt werde.

"Nun ist René Pollesch endlich der Romantiker geworden, den wir schon immer in ihm vermutet haben", so Esther Slevogt in der taz (26.6.2015). "Wenn er in seinen Stücken auf den vom Kapitalismus zugerichteten Benutzeroberflächen ehemaliger Individuen herum kratzte, um noch Restmenschen darunter zu finden." Der Mensch ist im vorliegenden Fall Fabian Hinrichs, "Hinrichs, dessen gewitzte wie linkische Poesie schon frühere Pollesch-Abende (...) mit einem unvergleichlichem Schmelz überzog." Die ganzen Optionen, die die Freiheit bietet, will er auch gar nicht, "sondern nur dich!". Dem "Du" rufe der einsame Jäger des verlorenen Kalauers Hinrichs gegen Ende sehr verzweifelt und schielt kokett ins Publikum. "Dort aber hat er das erhoffte 'Du' längst gefunden. Ein begeistertes sogar."

Mit Fabian Hinrichs als "Conferencier von Polleschs Gedanken (…) und Charmebolzen einer Beziehungskomödie (…) zwischen grübelndem Subjekt und dem Rest der Welt" bekomme Polleschs "hochtourig laufender Assoziations-Pop" einen "ziemlich unwiderstehlichen Unschuldsappeal, der natürlich alles andere als naiv ist", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (9.7.2015). Wie er das findet, verrät er nicht so direkt, aber der Abend beschere die Erkenntnis: "Berlin muss die Schweinfurt-Ausgabe von New York sein."

 

Kommentare  
Keiner findet sich schön, Berlin: langweilig
Leider leider habe ich einen sehr belanglosen und sogar langweiligen Abend erlebt. Liebeskummer, ja. Ich hätte den guten Hinrichs gerne in den Arm genommen und gesagt, dass das schon wieder wird. Und dann immer wieder Bezugnahme auf Online-Dating, Tinder und wie das alles heißt, und der Saal erkennt sich und klatscht sich auf die Schenkel. Und auf der Stufe bleibt es stehen. Schade. Die ersten 10 Minuten waren vielversprechend.
Keiner findet sich schön, Berlin: mit Menschlichkeit angefüllt
Ja, diesmal hat sich das "Versprechen" Pollesch nicht auf die gewohnte Weise eingelöst (was aber auch thematisiert wurde) und ja - es war eine Revue, also intellektuell und dialektisch vielleicht belanglos, dafür aber sentimental und ehrlich. Dennoch, Hinrichs füllt das alles mit einer Menschlichkeit an, von der mann/frau gerne hingerissen wird. Ich fands auch "toll"! Offensichtlich reicht es ab einem bestimmten Alter nicht mehr, sich hinter einer Diskurs-Discokugel zu verstecken. Hinrichs feiert (s)eine Lächerlichkeit - einer muss es machen - und ich wollte beim Thema Liebe gar nicht anfangen zu kotzen. Zitat das ungefähr hängenblieb: "Du bist immer so abwesend." - "Ja, aber bitte mit Eis!"
Keiner findet sich schön, Berlin: schöner Traum
war dort,war schön,hat mich eingefangen und mitgenommen bis ins bett.
am nächsten morgen hatte ich zwar nur noch einen traum gehabt,
aber lieber den als einen kater.
Keiner findet sich schön, Berlin: widersprüchlich wie das Liebesleben
Man kann René Pollesch vorwerfen, dass Keiner findet sich schön die übliche diskursive Weite und Tiefe fehlen, dass der Rahmen dessen, was hier verhandelt wird, eher eng gefasst ist, man kann den Assoziationsreichtum vermissen, die Theorie- und Metallebenen. Stattdessen ist Keiner findet sich schön ungewöhnlich direkt, emotional dicht und verdammt ehrlich. natürlich begeistert der Abend auch, weil er mehr als einmal ein zustimmendes Kopfnicken im Zuschauer hervorruft. Eine Schwäche ist das nicht, denn in seiner kreisförmigen Struktur, die zugleich immer weitere Fäden spinnt, ist eben auch dieser Abend ein echter Pollesch: komplex, doppelbödig, ironisch, intelligent. Selbstverständlich ist die Schlussfolgerung (“I did it your way”) eher simpler Natur. Aber auch das tendiert das Leben ja zuweilen zu sein. Keiner findet sich schön ist so widersprüchlich und paradox wie das, was er beschreibt. Und Fabian Hinrichs würde man wohl auch gern zusehen, wenn er das Dortmunder Telefonbuch vorläse.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/07/04/iggy-pop-in-schweinfurt/
Keiner findet sich schön, Berlin: stringent auf das Leben
Alle wollen ein Versprechen sein, aber beim Blick in den Spiegel merkt fast jeder: Man ist ja selbst keins. Verabredet man sich dann doch, geht man sich nur auf die Nerven. Wenn man es bleiben lässt, weiß man wenigstens, dass man nichts verpasst, räsoniert Fabian Hinrichs. Aber irgendwann ist man dann wirklich kein Versprechen mehr, sondern die Zeit ließ die Schönheit verwelken.

Dieser Pollesch-Abend könnte leicht in kitschiger Tagebuch-Selbstbespiegelung versacken. Dass dies zum Glück nicht passiert, hat mehrere Gründe: Die vielen kleinen Beobachtungen am Wegesrand lösen beim Publikum oft genug ein Kopfnicken aus. Anders als frühere Pollesch-Abende, die sich an der Selbstreferentialität ihrer Diskursschnipsel-Gewitter berauschten und oft damit nervten, sich noch auf einer weiteren Metaebene zu verzetteln, blickt "Keiner findet sich schön" erstaunlich stringent auf das Leben. Vor allem liegt das aber an dem herausragenden Hauptdarsteller Fabian Hinrichs, der uns auf dieser Reise durch das Gehirn eines Großstadtbewohners so authentisch begleitet.

Warum geht alles sooooo schnell?? Warum kommen wir nicht zusammen?? Ich brauche jemanden! Ich brauche etwas Schönes!, ruft Hinrichs und bekommt im letzten Drittel Verstärkung von fünf Tänzerinnen und Tänzern. Im Walzer-Takt umkreisen sie gemeinsam den aufblasbaren Riesen-Teddy mit der Aufschrift “No fear”, tanzen zu den berühmtesten Klängen aus der West Side Story und singen im Sinatra-Stil eine Ode auf Schweinfurt als Alternative zur Großstadt, wo man an jeder Ecke doch wieder auf die bekannten Gesichter trifft.

Aber Pollesch und Hinrichs haben es schon vorweggenommen: Das bringt alles nichts. Denn spätestens wenn man mit 60 Jahren die High Heels in die Ecke stellt und Bilanz zieht, erkennt man: Zwischen diesen ganzen “Kackentscheidungen” findet gar kein Leben mehr statt. In wechselnden Konstellationen drehen wir uns im Kreis und haben die richtige Abzweigung verpasst.

Diese starke Dosis Weltschmerz aus dem Hause Pollesch/Hinrichs versinkt nicht in Melancholie, sondern ist mit vielen Pointen und treffenden Beobachtungen so gut abgeschmeckt, dass sich das Publikum im ausverkauften Haus amüsiert und am Ende begeistert applaudiert.

Wenn Fabian Hinrichs und René Pollesch zum Ende der Ära Castorf die High Heels an den Nagel und tatsächlich nach Schweinfurt abwandern sollten, würden sie große Fußspuren hinterlassen. Ein solches Event wie dieses Duo muss man erst mal auf die ganz in “Stars and Stripes”-gehüllten Bretter der Volksbühne zaubern.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25479-keiner-findet-sich-schoen-was-bleibt-wenn-fabian-hinrichs-und-rene-pollesch-mit-60-die-high-heels-ausziehen.html
Keiner findet sich schön, Berlin: lahm, selbstzufrieden, spießig
Wenn die stripes auf den Boden gemalt sind und die stars in Form von abgeschrabbten Tänzern, die alles andere als amerikanische Perfektion verkörpern, sich schwerfällig zu Leonard Bernsteins Musik bewegen, dann muss man leider auch sagen, dass der Abend wie eine lahme, selbstzufriedene und deutsch-spießige Variante eines drittklassigen Stand-Up Programms wirkt. Nur würde kein anderes Publikum sich dieses pointen- und spannungsarme Beziehungsgefasel länger als 10 Minuten anhören, das vollständig darauf baut, dass die Leute sowieso dasitzen und sitzenbleiben und wiederkommen - denn man ist ja in der Volksbühne, wo das Publikum schon vor Beginn so aufgeputscht ist, dass es sich selbst in dieser theatralischen Ödnis wunderbar selbst feiern lässt.
Keiner findet sich schön, Berlin: andersherum voreingenommen
da setzt sich einer in die volksbühne und sagt sich:
hier, wo das Publikum schon vor Beginn so aufgeputscht ist, dass es sich in dieser theatralischen Ödnis wunderbar selbst feiern lässt, werde ich ganz unkorrumpierbar auf diesen quatsch blicken.
und dann ist er darauf so konzentriert, dass ihm die ganzen Pointen entgehen...
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