Im Kloster der unbarmherzigen Brüder

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 11. Juli 2015. Es riecht nach Moder. Die dunklen Mauern, die matt glänzen wie Schiefertafeln, umschließen nicht nur die Bühne, sondern auch die Zuschauerreihen. Die fünf Schauspieler waten, stehen, liegen, springen, tollen in knöchelhohem Wasser. Sie schlucken es und spucken es wieder aus, prügeln sich darin, vollführen exaltierte Tänze und Huckepack-Spiele, hüpfen kopfüber hinein, um einige Meter auf dem Bauch zu schliddern, oder bleiben plötzlich wie Tote drin liegen. Nur wenn sie am Rand, auf dem kleinen Mauervorsprung, balancieren, stehen sie im Trockenen.

Das schwäbische Leistungsdruck-Internat

Der feuchte hermetische Raum in der Außenspielstätte Nord des Stuttgarter Staatstheaters, wo jetzt Hermann Hesses schulkritischer Roman "Unterm Rad" für die Bühne bearbeitet wurde, steht für den geistig engen Käfig der bildungselitären Klosterschule im schwäbischen Maulbronn, wohin es den ehrgeizigen Primus Hans Giebenrath nach bestandener Aufnahmeprüfung verschlagen hat und wo Landesbeamte und Pastoren ausgebildet werden: Giebenrath, der vom Leistungsdruck, der ihm von außen aufgedrängt wird und unter den er sich selbst setzt, langsam verformt und dann zerstört wird. An den Anforderungen, an der Konkurrenz, am Einzelkämpfertum gehen viele zugrunde in Maulbronn, funktionieren nicht mehr, können dem hohen Erwartungsdruck durch Eltern, Lehrer und Gesellschaft nicht mehr genügen, kommen "unters Rad".

Unterm Rad2 560 Julian Marbach uSpritzige Performance in der Drill-Zone: Christian Czeremnych, Florian Rummel, Andreas Leupold, Matti Krause © Julian Marbach

Michael Köpkes Bühnenbild ist ein Geniestreich. Motive und Handlungselemente der Vorlage werden darin zu einem einzigen Bild verschmolzen. Der fensterlose Raum, aus dem es nur über ein dickes Seil und akrobatische Fähigkeiten ein Entrinnen gibt, ist Schulanstalt und Karzer, in dem Giebenraths rebellischer Freund Hermann Heilner, eine Künstlerseele, landet. Die Schiefer-Wände dienen als Schultafeln, auf denen mit Kreide Formeln, Sternenbilder und alberne Zeichnungen gemalt werden. Und das Element Wasser ist ohnehin das Hauptmotiv des Romans. Es steht für die Naturliebe des einsamen Knaben Hans, der in seinem Heimatstädtchen leidenschaftlich gerne zum Angeln und Baden ging – was mehr und mehr dem Lernstress zum Opfer fiel. Wasser steht aber auch für die tödlichen Seiten im Roman: Ein Mitschüler bricht im Winter im zugefrorenen See ein und ertrinkt, und Hans beendet im Fluss seiner Heimatstadt sein Leben. Und zweimal fließen Tränen, die nicht fließen dürfen, die als Schande gelten wie das schulische Versagen. "Fallen ist keine Schande, aber das Liegenbleiben", sagt der Vater mehrmals zu Hans.

Wir sind alle Giebenrath

Der Prosatext von Hesse wird rezitiert, mal aufgeteilt, mal im Chor gesprochen, Dialoge werden gespielt und weiter improvisiert – wenn etwa Matti Krause als Lehrer eine Rede über Moral und Anstand hält und die Zuschauer gleich miterzieht. Am Beginn vollführen die fünf Männer in Harlekin-Kostümen alberne Kunststückchen. Wer in Maulbronn erfolgreich sein will, muss sich verstellen. Die clowneske Verkleidung nimmt Schaden im Laufe des Abends wie die Schminke in den Gesichtern. Alle spielen alle, wechseln ständig die Rollen – oft auch choreographisch arrangiert – als Kollektiv contra Individuum oder als Menschenknäuel angstvoll in eine Ecke gedrückt. Wer gerade Hans Giebenrath, den Lehrer oder Hermann Heilner spielt, ist egal. Wir sind alle Giebenrath. Freiheit gibt's nur auf der Mauer, wenn Hans dem Hermann übers Seil in die luftige Höhe folgt, wo der ihm einen Zungenkuss verpasst.

Keine Frage: Die Thematik des Romans von 1906 ist brandaktuell in unserer Burnout-Gesellschaft, in Zeiten, da schon Sechsjährige über prallvolle Terminkalender klagen, da Turbo-Abi und befristete Arbeitsverträge völlig sinnlos Druck und Stress verursachen.

Phänomenale Wandlungen

Und klug erkannte Regisseur Frank Abt in Hesses autobiographischem Roman nicht nur ein Teenagerdrama. "Unterm Rad" beschreibe "den Initiationsmoment für lebenslanges Leiden in unserer Gesellschaft", so Abt. Das Absolute von sich zu fordern, habe sich heute noch verstärkt, weil es sich auch ins Private hineinverlagert habe. Alles müsse heute perfekt sein. Und das höre in keiner Altersstufe jemals auf. Ergo besetzte Abt das fünfköpfige Ensemble, egal ob gerade ein Lehrer oder ein Schüler gespielt werden soll, mit unterschiedlichen Generationen – vom Jungschauspieler Christian Czeremnych (*1990) bis zum reifen Andreas Leupold (*1959).

So wie auch das Buch in einem Zug weggeatmet werden kann, so leicht und fließend ist Abts Inszenierung gelungen. Das Kollektiv funktioniert perfekt, wirft sich rasant die Bälle zu, spricht rhythmisch genau getaktet im Chor, klettert akrobatisch die Wände hoch, switcht von einer Rolle in die andere, in rasend schnellem Tempo. Phänomenal etwa wie Matti Krause von einer in die andere Sekunde vom donnerwortigen, großspurigen Lehrer Ephorus zum angstbeladenen, geduckten Hans mutiert. Großartig!

 

Unterm Rad
nach dem Roman von Hermann Hesse
Regie: Frank Abt, Bühne: Michael Köpke, Kostüme: Annelies Vanlaere, Dramaturgie: Anna Haas, Musik: Torsten Kindermann.
Mit: Christian Czeremnych, Matti Krause, Andreas Leupold, Sebastian Röhrle, Florian Rummel.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de



Mehr Hermann Hesse auf der Bühne: In Karlsruhe wurde 2014 Hesses Opus Magnum Das Glasperlenspiel adaptiert, in Zürich (Regie Bastian Kraft) und in Plauen (Regie Marie Bues) lief sein Bestseller "Der Steppenwolf".

 

Kritikenrundschau

Die "Clownskostüme" der Darsteller "mindern den Ernst des Themas, geht es doch um Überforderung durch die Gesellschaft, um Burn-Out selbst schon bei Schülern", kritisiert Rainer Zerbst in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (11.7.2015). Regisseur Frank Abt "gelingen eindringliche Szenen von poetischer Kraft". Es sei "zudem ein Abend grandioser komödiantischer Ausdruckskraft aller Schauspieler, doch das eigentliche Thema bleibt auf der Strecke."

Frank Abt habe für "Unterm Rad" eine Spielanordnung "gesucht und gefunden", schreibt Stephan Reuter auf Spiegel online (Zurgriff 13.7.2015). Er lasse es "gar nicht erst auf ein Pennälerdrama ankommen. Leistungsdruck, das ist für ihn Leidensdruck, von der Kita bis zur Rente." Folgerichtig habe "Abt sein Ensemble quer durch die Altersstufen besetzt". Die "Zustände an der Klosterschule Maulbronn" kreuze "die Regie entschlossen mit der Gegenwart, in der Überzeugung, dass die Überspanntheiten in der Bildungsmühle zu allen Zeiten ähnlich sind."

Frank Abt interessiere sich "nicht allzu sehr für die Seelenlage seines Helden Hans", meint Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung (13.7.2015). Durch das Rollensplitting gebe es keinen Hans, "mit dem man sich identifizieren könnte, stattdessen reihen sich die abgehakten (!), oft aus dem Zusammenhang gerissenen Sätze aneinander und werden mit allerhand Theaterspiel illustriert". So werde "immer wieder Distanz zu den Figuren geschaffen, als wolle man jedes Gefühl, auch Mitgefühl verhindern". Und weil die Darsteller "nicht in Rollen schlüpfen dürfen, weil nicht Schicksale in einer Gesellschaft verhandelt werden sollen, haben sie wenig Möglichkeiten, ihr Können zu entfalten." In der Süddeutschen Zeitung (14.7.2015) veröffentlicht Adrienne Braun eine weitere Kritik mit gleicher Stoßrichtung: Dadurch, dass sich seine Akteure den Text untereinander aufteilen und herumreichen, würden die Sätze sentenziös, bekämen "die Figuren kein Gesicht". Die Akteure, kostümiert als "fünf Clowns" bzw. "fünf dumme Augusts", würden bei Abt "zu seelenlosen Sprechern degradiert".

Abt wähle "die Box als Bühnenbild, da er wenig Interesse daran" habe, "den Text genau zu analysieren, sich auf eine psychologische Suche nach Gründen für das Scheitern zu begeben oder sich mit den Mechanismen einer nur auf Leistung setzenden Gesellschaft zu befassen", meint Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (13.7.2015). "Der Angst vor Larmoyanz und Pathos" begegne die Regie "mit Leichtigkeit und Improvisationslust", man setze so "der Heraushebung des Einzelnen die Spielfreude der Gemeinschaft entgegen." Das Ganze setze sich "zu einemfantasievollen, und doch nur freundlich naiven Abend" zusammen: "Die Regie drückt sich davor, den Figuren, auch ihrer Hybris, ihrer Schuld, nahe zu rücken und begnügt sich mit Improvisationen für Schauspieler".

 

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