Wider die Vertreibung des Menschen aus der Kunst

von Thomas Rothschild

5. August 2015. Es gibt bestallte Theater- und Literaturwissenschaftler, die so gut wie nie ins Theater, geschweige denn in Konzerte oder Ausstellungen gehen. Wozu auch? Für die Beschreibung einer antiken Arena oder die Auflistung von Premieren an der Comédie-Française, ja sogar für ein Exzerpt von Erika Fischer-Lichtes "Semiotik des Theaters" bedarf es keiner sinnlichen Erfahrung. Man muss dies einmal in aller Deutlichkeit aussprechen, um die tatsächlich intelligenten, pflichtbewussten, fleißigen Professoren zu würdigen, die es auch gibt und die man nur insofern für die schwarzen Schafe zur Rechenschaft ziehen kann, als sie sie aus einem falsch verstandenem Korpsgeist decken.

Fiebach WeltTheaterGeschichte 280Summarische Zusammenschau

Der emeritierte, mittlerweile 81jährige Berliner Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach gehört nicht zu den Hochstaplern. Mit seinem nun vorliegenden opus magnum beweist er seine universale Bildung und seine Fähigkeit, sie didaktisch aufzubereiten. Die 541 Seiten des großformatigen Wälzers zeugen von langer und intensiver Beschäftigung mit dem Gegenstand. Die unorthodoxe Schreibweise des Titels "Welt Theater Geschichte“ ist mehr als ein Kalauer. Denn es handelt sich in der Tat sowohl um eine Geschichte des Welttheaters wie um eine mehr als nur summarische Zusammenschau von Welt, Theater und Geschichte.

Der Überblick setzt ein mit einem weit gefassten Verständnis des Theatralen, das, wie die Vorbemerkung bekennt, Ausgangspunkt des ursprünglichen, zusammen mit Rudolf Münz entworfenen Plans war und im Untertitel noch sein Recht behauptet, geht dann aber sehr schnell zu einem engeren Theaterbegriff über. Dabei wird exemplarisch auf einzelne Dramen rekurriert, die verdeutlichen, was für eine bestimmte Form des Theaters in einer bestimmten Epoche kennzeichnend ist. Zu den anregendsten Abschnitten gehören jene, in denen Fiebach einzelne Strukturen und Verfahren – etwa das "Verkehrungsritual“ – kulturenübergreifend nachweist.

Die Eckpfeiler der chronologischen Darstellung sind ebenso wenig anfechtbar wie überraschend: Antike Tragödie, Shakespeare, Commedia dell'Arte, well made play, Music Hall, Wagner, Naturalismus, Stanislawski und so fort. Hinzu kommen, und dies zählt zu den besonderen Verdiensten des Buchs, die, wenn auch meist knappen, Exkurse zum außereuropäischen Theater.

Enger Begriff des Realistischen

Fiebachs Sympathie gehört dem politischen Theater. Die "Vertreibung des Menschen aus der Kunst" beobachtet er mit unverkennbarer Abneigung. Die theaterästhetische DDR-Sozialisation ist nicht zu übersehen. In seinem schönen Buch "Zoo oder Briefe nicht über die Liebe" schrieb Viktor Šklovskij vor fast hundert Jahren: "Das Lebendigste in der zeitgenössischen Kunst sind der Aufsatzband und das Varietétheater, das auf die einzelnen Nummern, nicht auf deren Verbindendes setzt. Etwas Vergleichbares machte sich bereits bei den Einschüben im Vaudeville geltend." Demgegenüber deklariert Fiebach mit Berufung auf José Ortega y Gasset sowie Brygida Ochaim und Claudia Balk: "Das Varieté, das nicht Bedeutungen produziert, das in sich, in seiner spezifischen Darstellungsweise, 'reine Bewegungen', bloße Präsenz der Körper und Geschehnisse, nur die Oberfläche der Dinge bietet, schien diese Abstraktion als 'Vertreibung des Menschen' bereits voll demonstriert zu haben. Seine kurze Nummernfolge ist gleichsam entlastet von der 'Transportierung dramatischer wie anderer intellektueller Inhalte'."

Das erinnert an Alfred Hrdlickas "Roll over Mondrian", an eine bestimmte linke Kunstauffassung, die den Menschen im Mittelpunkt sehen zu wollen vorgibt und letzten Endes einem engen Begriff des Realistischen huldigt. Von hier bis zu Gorkijs zwiespältig-pathetischem "Ein Mensch – wie stolz das klingt!" ist es nur ein Schritt. Es entspricht dieser Haltung, dass das so genannte Theater des Absurden, Beckett und Ionesco nur en passant, als Gegenposition zu Brecht, und Pinter, Arrabal, Mrożek, Havel überhaupt nicht vorkommen. Havel übrigens war es, der in seinem "Gartenfest" die pseudohumanistische Phraseologie verspottet hat.

Gute Lesbarkeit

Freilich weist auch dieses enzyklopädische Werk Spuren früherer Einzeluntersuchungen und ausgewerteter Vorlesungen auf. Anders kann man sich das Ungleichgewicht zwischen ausführlichen Kapiteln auf der einen und der Beschränkung auf wenige Sätze auf der anderen Seite kaum erklären. Niemand wird etwas dagegen einzuwenden haben, dass für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Kapitel Bertolt Brecht und Unterkapitel Jerzy Grotowski, Benno Besson, Heiner Müller, Juri Ljubimow, Peter Brook, dem Living Theatre, dem Bread and Puppet Theater und der San Francisco Mime Troupe, der Schaubühne am Halleschen Ufer, dem Nuevo Teatro Popular von Augusto Boal oder Wole Soyinka gewidmet sind.

Aber es scheint etwas willkürlich, wenn etwa Peter Zadek, Giorgio Strehler, Jan Grossman und dem Theater am Geländer, Otomar Krejča und dem Theater hinter dem Tor, Tadeusz Kantor, Kazimierz Dejmek, Tomaž Pandur, Robert Lepage, La MaMa, dem Teatro Campesino oder La Fura dels Baus nicht der gleiche Status zukommt wie den zuvor Genannten, ja all diese herausragenden Theatermacher, mit Ausnahme von Strehler, nicht einmal erwähnt werden. Gewiss, eine Auswahl muss selbst bei mehr als 500 Seiten getroffen werden, aber sie bedürfte in einem Werk dieses globalen Anspruchs einer Begründung.

Zu den Vorzügen der Arbeit gehört ihre gute Lesbarkeit. Sie ist jedem Theaterinteressierten zu empfehlen. Die Fußnoten im Anhang darf man gerne überblättern, die (leider unvollständigen) Register erleichtern die gezielte Suche.

 

Joachim Fiebach
Welt Theater Geschichte. Eine Kulturgeschichte des Theatralen.
Theater der Zeit, Berlin 2015, 541 Seiten, 40 Euro

 

 

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