Alles nur für mich

von Michael Laages

Edinburgh, 16. August 2015. Ein Neuling schreibt hier. Der Hinweis ist wichtig, und auch gar nicht kokett, weil er ein paar Einschränkungen beinhaltet – was nämlich bewährte und gewiefte Festival-Routiniers im schottischen Edinburgh für selbstverständlich halten und nicht (mehr) der Rede wert, das ist für den Anfänger auch bei der Festival-Ausgabe Nummer 69 ziemlich neu und zum Staunen. Vor allem die Intensität macht schwindlig, mit der das Festival sich ausbreitet in der Stadt am Firth of Forth. Knapp 500.000 Einwohner hat Schottlands Hauptstadt, die Altstadt auf dem Hügel unterhalb des Schlosses ist voller schmaler, enger Gassen, die auch dann wie gesperrt wirken, wenn sie nicht tatsächlich geschlossen sind: wie die "Royal Mile", die in Teilen zur theatralisch-musikalischen Fußgängerzone wird und speziell dann überfüllt ist ab nachmittags, wenn wieder mal ein militärisch-blasmusika-lisches "Tattoo" ansteht.

Das lieben nicht nur die Einheimischen über alles, sondern auch die zwei Millionen Zugereiste pro Saison. Noch immer übrigens expandieren Edinburghs Festspiele – die Eröffnung (mit einem Groß-Projekt des Komponisten John Adams) wollte einfach mal doppelt so viel Kundschaft miterleben wie vorgesehen. In der touristischen Menge ersäuft und erstickt die Stadt im August. Und sie lebt von ihr.

450 Venues quer verteilt

Überall, fast überall ist Festival. Neben den repräsentativen Theater- und Musik-Spielstätten weist der Festival-Katalog des parallel zum eigentlich Festival stattfindenen "Fringe"-Marathon auf 450 Seiten 460 "venues" aus, Spielorte vom (ordentlichen) Theater bis zur nudel-brettschmalen Kneipenbühne, oder einfach nur dem Platz vor der Kneipe ... Ein Gang über den (auf der einen Häuser-Seite) extrem historischen Grassmarket genügt, um die Allgegenwart des Festivals zu spüren. Musik, wohin das Ohr hört; mit zwei Jungs in historischer Kluft sowie mit Trommel und Dudelsack am Ostrand des Platzes, einer Mini-Rockband (die gerade Pause macht) vor dem "White Hart", dem "Weißen Hirschen", das ist der mit weit über 600 Jahren älteste Pub der Stadt.

Und hinter den mittelalterlichen Häuserfronten lauern ja noch mindestens vier oder fünf kleinere Bühnen, in denen sich die Kern-Kompetenz des "Fringe"-Festivals erweist – nirgends auf der Welt ist mehr frisch kreierte "Comedy" im überwiegend sehr britischen Stil zu entdecken. Gemeinsam mit den kleineren und größeren Konzerten bestreiten die Spaßmacher der geraderen wie schrägeren Sorte den Löwenanteil auf den engbedruckten Seiten im "Fringe"-Katalog.

Masse, Kasse, Comedy

Das zentrale Problem der Edinburgh-Festspiele ist auch der größte Vorteil – da nämlich niemand auch nur ansatzweise die Chance bekommt, "alles" zu sehen und zu hören, muss ausgesucht werden. Jeder Festival-Plan ist also höchst privat und persönlich. Jeder und jede erfindet das Festival prinzipiell allein und nur für sich selbst: als Unikat. Nur wer sich jenseits vom "Fringe"-Universum auf die Highlights des offiziellen Festivals konzentrieren muss, aus dienstlichen Gründen zum Beispiel, wird sich ein wenig eingeschränkt fühlen. Wie unser Neuling – er kommt ja, um Theater zu sehen; und muss sich darum zunächst mal mit dem vermutlich untheatralischsten aller Spielorte in Edinburgh abfinden: dem Congress-Centrum.

Dessen Säle sind selbst für die Zeremonienmeister der ersten großen Produktionen zu groß. Simon McBurney staunt sogar ein bisschen darüber, dass in der Premiere der neuen Produktion von "La Complicité" derart viele Plätze frei bleiben. Dem Kanadier Robert Lepage geht es kurz darauf mit der neuen "Ex Machina"-Arbeit, ur-aufgeführt in Toronto und nun erstmals in Europa, nicht sehr viel anders. Mit ihnen setzt das offizielle Festival sehr bewusst auf Masse und Kasse; Ivo van Hoves "Antigone" mit Juliette Binoche (zuvor unter anderem in Luxemburg und bei den Ruhrfestspielen zu sehen) hat es dieser Tage besser getroffen, und auch die deutschen Beiträge haben Glück: Martin Schläpfers Düsseldorfer Ballett, "Murmel Murmel" von Herbert Fritsch sowie Barry Koskies "Zauberflöte" aus Berlin spielen auf "richtigen" Theaterbühnen.

Nah am kanadischen Bürgerkrieg

Obwohl McBurney und Lepage als Solisten der eigenen Kreationen antreten, könnten beider Arbeiten kaum unterschiedlicher sein. Der Kanadier spielt in "887" mit der eigenen Biographie und Kanadas politischer Entwicklung im Wechsel. "887" etwa ist die Nummer des Hauses, in dem der Theatermacher aufwuchs, in der Murray Avenue von Quebec. Als bühnenhohe Puppenstube bringt der Regisseur das Haus auf die Bühne, alle Fenster sind erleuchtet, und hinter den Fensterchen bewegen sich in Video-Sequenzen maßstabsgetreu winzige Menschen: Alltag bei Familie Lepage und nebenan.

Papa ist Taxifahrer – und kommt zuweilen mit einem ebenfalls maßstabsgerechten (und natürlich ferngesteuerten) "cab" vorbei gefahren. Und ein Püppchen winkt ihm vom Balkon: Klein Robert. Lepage ist vom Jahrgang 1957 – und als er Kind war, schlingerte Kanada hart am Bürgerkrieg entlang. Unterdrückt fühlten sich die, die französisch sprechen, und als Herrenmenschen die, die staatstragend das Englische bevorzugten. Der Kampf um die Unabhängigkeit hatte begonnen. Charles de Gaulle kam zu Besuch und goss reichlich Öl ins Feuer – noch mehr Entführungen und Bombenanschläge waren die Folge. Wer weiß noch davon?

887 1 560 erick labbe uÜbers Aufwachsen in Quebec, als der Kampf um Unabhängigkeit begann: "887" mit und von
Robert Lepage © Érick Labbé

Lepage (das ist der eigentliche Anlass für "887") soll ein Menschenleben später bei einer Literaten-Feier "Speak white" vortragen, das poetische Unabhängigkeits-Fanal der Schriftstellerin Michéle Lalonde; mit diesem Text beginnt das Erinnerungstheater. So virtuos jedoch die Bühnen- und Bild-Ideen private und politische Geschichte verzahnen, so sehr hinkt die Dramaturgie hinterher. An die wirklich großen Erfolge (zu Durchbruchszeiten vor über zwanzig Jahren) kann Lepage wohl nicht mehr anknüpfen.

Erzählerische Neu-Erfindung im leeren Raum

Simon McBurney geht exakt den anderen Weg – keine Bilder, sagt er, und erzählt in "The Encounter" den halbwegs berühmten "Amazonas"-Roman von Petru Popescu als reines Hör-Theater. Total mikrophoniert und mit allen Tricks des Sponsors Sennheiser ausgestattet, verlegt er die grandiose Urwald-Fabel vom Fotografen, der in der Begegnung mit einem bis dahin unbekannten indigenen Stamm fast selbst zum Indianer wird, nahezu vollständig in unsere Phantasie. Mit Kopfhörern auf den Ohren ist es fast genug, dem "szenischen" Wirbel mit geschlossenen Augen zu folgen. Das ist so brilliant, das der Verzicht auf alles im engeren Sinne "dramatische" Spiel kaum mehr ins Gewicht fällt. McBurney inszeniert im Herbst an der Berliner "Schaubühne" eine Novelle von Stefan Zweig; vielleicht bringt er dann ja das "Encounter"-Solo mit Mikro-Chor mit. Schön wär's.

theencounter 560 robbie jack uSimon McBurney solo in "The Encounter" © Robbie Kack

Die antike "Antigone" markiert in diesem Jahr über das Binoche-Gastspiel hinaus fast einen Schwerpunkt; obwohl es thematisch eigentlich keinen gibt. Gleich drei weitere Fassungen der Geschichte vom Widerstand gegen das Gesetz sind im "Fringe"-Programm versteckt – eine sehr auf Aktualität setzende von amerikanischen Studenten, eine Debatten-Version, in der wie in einem kollektiven Vortrag die zentralen Motive verhandelt werden. Schließlich eine aus Kuwait, die "Antigone" aus "arabische Tragödie" aufzubereiten verspricht. Das gelingt aber nicht wirklich – das Ensemble aus Kuwait stellt die schicke, in fundamentales Schwarz gekleidete Frau einem gewalttätigen Herrscher gegenüber, dessen Profil irgendwo zwischen Saddam Hussein und Muammar al Ghaddafi changiert; das ist eher platt. Derweil wird parallel in Englisch gespielt, und da gibt sich das Ensemble eher mittelalterlich. So aber gelingt kein Brückenschlag.

Kirchenkampf pur

Das "Greenhouse", mit zwei kleinen Kammerspiel-Raumbühnen ausgestattet und offenbar der örtlichen Baptisten-Gemeinde verbunden, spielt jeden Tag je zwei Mal neun Vorstellungen. Kaum eine dauert mehr als eine Stunde; auch diese "arabian tragedy" nicht. So multipliziert sich fast jede der kleinen wie der größeren Spielstätten jeden Tag aufs Neue – das "Traverse Theatre", bekannt für die Pflege zeitgenössischer britischer Dramatik, hält da mühelos mit. Auch hier beginnt der Theater-Tag morgens um 10 Uhr und endet abends um 11 Uhr.

"The Christians" ist ein neues Stück von Lucas Hnath, und es zeigt Kirchenkampf pur. Pastor Paul, hochgeehrt in der Gemeinde, predigt eines Tages (und ausgerechnet zur Eröffnung der neuen, großen, frisch abbezahlten Kirche!), dass Gott im Grunde nie wollte, dass wir an den Teufel und die Hölle glauben. Warum aber dann an ihn, fragen die Alt-gläubigen, Und: Kam dann auch Hitler in den Himmel? Die Frage schlägt alles - dem progressiven Kirchenmann kommen bald alle Schäflein abhanden; und die eigene Frau auch.

Loser and Winner

Der Clou des blanken Thesen-Stücks: ein Kirchenchor spielt mit. Nach der ersten Pause folgt "An Oak Tree", ein Text von Tim Crouch, für den der Autor, Regisseur und Hauptdarsteller jeden Abend eine andere Schauspielerin mit Textbuch und Kopfhörern (um zu tun, was er sagt) auf die Bühne bittet. Die Story ist trotz allem Abenteuer im improvisierenden Spiel eher krude – ein Hypnotiseur hat ein Kind überfahren, und in die Hypno-Show verirrt sich nun ausgerechnet der Vater des Mädchens. So entsteht eine schmerzhafte Phantasie über Schuld und Verdrängung; der Vater umarmt inzwischen einen Baum vor der Haustür, eben den "Oak Tree"; ganz so, als wärs die eigene Tochter.

Zweite Pause – dann legen in "Swallow" (dem stärksten Stück im "Traverse") drei junge Frauen aus dem Haus-Ensemble los, um im Wechsel drei Fabeln von Losern zu erzählen, die "winner" werden. Eine hockt einsam unterm Dach und schreddert beharrlich die Wohnung, um aus den Trümmern "Objekte" zu gestalten. Im ersten Stock wohnt die zweite, die immer an die falschen Männer gerät. Die dritte im Bunde ist eine "sie", die sich als "er" fühlt – und diesen Wechsel des Geschlechts erst schmerzhaft, dann offensiv erkämpft. Der Text stammt von "Traverse"-Autor Stef Smith, er ist knapp und grob und sehr poetisch: unbedingt ein Anwärter für die Übersetzung ins Deutsche.

Viel Kontinuität

Mit "Crash" gehen die "Traverse"-Besuche am nächsten Mittag zu Ende – ein mäßig gieriger Banker hat Millionen in den Sand gesetzt, fliegt raus und verliert mit der Zeit allen Boden unter den Füßen. Auch dies ist ein Solo – und der Text von Andy Duffy ist ein wenig zu vorhersehbar. "Armes Theater" ist all das; wenig Aufwand wird mit den Bühnen betrieben, und "The Christians" ist mit vier Stück Ensemble plus Chor geradezu über-opulent besetzt. Die Produktion kommt ja auch aus London.

Fringe1 560 Edinburgh Festival Fringe Society uIn den Straßen von Edinburgh in diesen Tagen
© Edinburgh Festival Fringe Society

Auf dem Heimweg im Bus erzählt eine feine alte Lady von früher... Edinburgh, das Festival und die "Fringe"-Zugabe, müssen irgendwie schon immer so gewesen sein wie jetzt. Gründe zur Veränderung sind nicht in Sicht. Kultur und Tourismus sind hier, im höheren Norden, eine immer noch und immer wieder erstaunliche Verbindung eingegangen. Salzburg ist ein viel zu teurer Witz dagegen.
Am Tag der Abreise regnet es. Die "Royal Mile" ist etwas weniger überfüllt als sonst.


Edinburgh International Festival

887
von und mit: Robert Lepage

The Encounter
nach dem Roman "Amazon Beaming" von Petru Popescu
von und mit: Simon McBurney / La Complicité

Swallow
von Stef Smith
Regie: Orla O’Loughlin


www.eif.co.uk