Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war - Wolfgang Behrens über die Aussagekraft von Klarnamen
Ein – – – was???
von Wolfgang Behrens
1. September 2015. Immer mal wieder kocht es hoch. Immer mal wieder erregt sich jemand darüber, dass es auf nachtkritik.de Kommentare von Menschen zu lesen gibt, die anonym bleiben. Für manche ist die Anonymität sogar der Wesenskern von nachtkritik.de – erst in der letzten Woche etwa konnte man in einem Berliner Stadtmagazin nachlesen, nachtkritik.de sei ein "Portal, auf dem anonyme Schreiber gerne alles Mögliche und Unmögliche mutmaßen."
Der Minetti-Test
Ich frage mich oft, was eigentlich gewonnen wäre, wenn ein Kommentar z.B. nicht mit "Elsas Tante", sondern mit dem (wie auch immer verbürgten) Klarnamen Sabina Flücki gezeichnet wäre. Wüsste man dann Bescheid?
Als ich noch ein Zuschauer war, habe ich einmal, was Klarnamen betrifft, eine eindrückliche Lektion erhalten. Der große Bernhard Minetti lebte damals noch, und sogar das Berliner Schiller Theater war noch ein Theater und kein Opernasyl. Der Dramatiker Peter Turrini hatte sich dort eines Vormittags zu einem Foyergespräch eingefunden, eine Kommilitonin und ich saßen unter den Zuhörer*innen, der etwa 85-jährige Bernhard Minetti ebenfalls. Meine Kommilitonin, die auch ab und an beim Abenddienst des Theaters aushalf, stellte im Verlauf der Veranstaltung aus dem Publikum heraus eine Frage. Turrini stand Antwort, und kurze Zeit später war das Gespräch auch schon zu Ende.
Plötzlich aber bewegte sich der greise Minetti zielstrebig auf uns zu – helle Aufregung bei uns! – und richtete das Wort an meine Kommilitonin. Mit seiner unverwechselbaren Diktion, die irgendwo ganz tief aus dem Rachen geisterhaft mümmelnde Laute hervorholte, während es in seinem Gesicht fortwährend mahlend arbeitete (wer's nie gehört hat, der bitte Ulrich Matthes um eine Kostprobe – er hat einmal den zweiten Preis in einem Bernhard-Minetti-Imitationswettbewerb gewonnen), sagte er: "Ihre Frage hat mir sehr gefallen. Sie hat den Kern berührt." Oder so etwas Ähnliches. Und setzte schließlich hinzu: "Mit wem habe ich das Vergnügen?"
Was die nachtkritik.de-Kommentator*innen umtreibt
"Sabina Flücki" (Name vom Kolumnisten geändert), antwortete meine Kommilitonin bescheiden. Minettis Reaktion war verblüffend. Seine Augen verengten sich kurz, dann riss er sie weit auf. Sein ganzes Mienenspiel drückte Unverständnis aus, er überlegte offenbar, was er da gerade gehört hatte. Nach ein paar Schrecksekunden entrangen sich seiner Grabeskehle zwei entsetzte Worte: "Ein – – – was???"
Was hätte meine arme Kommilitonin sagen sollen? Sie war halt nur eine Sabina Flücki. Keine Dramaturgin, keine Autorin, keine Regisseurin, nicht einmal eine Hospitantin. Sollte sie zugeben, dass sie manchmal an der Garderobe arbeitete? Sabinas Name jedenfalls war dem guten Minetti völlig schnurz. Nicht mit wem er das Vergnügen hatte, wollte er wissen, sondern mit was! Sage mir Deine Funktion, und ich sage Dir, ob ich weiter mit Dir rede.
"Ein – – – was???" Es ist, so glaube ich, fast immer diese Frage, die diejenigen umtreibt, die die nachtkritik.de-Kommentator*innen aus der Anonymität reißen wollen. Auch ihnen ist Sabina Flücki komplett egal, wie es ihnen auch nicht helfen würde, wenn sie wüssten, wie z.B. "Inga" wirklich heißt (ich weiß es übrigens, und es bringt mir nichts). Sie wollen vielmehr wissen, ob es sich lohnt, die Argumente in den Kommentaren zur Kenntnis zu nehmen. Sollten die Argumente aber von einer "namenlosen" Zuschauerin oder einem Hospitanten stammen, dann kann man sie getrost vergessen. Denn in erster Linie geht es natürlich nicht um die Sache, sondern darum, unter seinesgleichen zu bleiben. Und dabei kann ein anonymes Forum schon mal massiv stören.
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 80er und 90er.
Alle nachtkritik-Kolumnen hier. Zuletzt schrieb Wolfgang Behrens dort über die Fallen des Sommertheaters und den grenzenlosen Masochismus des Publikums.
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In der Tat gibt es die Gefahr der Mutmaßung in Debatten. Aber das ist in personalisierten/physischen Debatten nicht anders. Es ist dann an dem beteiligten Publikum daran, dem ggf. entgegenzutreten. (Genau das ist hier zu beobachten.) Dass hier ein - unter den Diskutanten- hierarchiefreier Diskurs möglich ist, ist formidabel.
Dass hinter manchem Alias der eine oder andere Theatermitarbeiter (jedweder Hierarchieebene) oder Kritiker oder Angehöriger oder Geldgeber steckt, ist weder überraschend, noch Geheimnis, noch ein Problem. Ihre Argumente zählen genauso wie die der "Außenstehenden" (wenn man diese Unterscheidung aufmachen möchte).
Es ist generisch bei digitalen Plattformen nicht zu verhindern, dass anonym gepostet wird. Das ist kein Spezifikum von nachtkritik, sondern internettypisch. (Es sei denn, nk führt Personalausweiskontrollen ein.) Und wer garantiert, dass es nicht noch einen Heiner Müller irgendwo lebend gibt? Das führt uns also alles nicht weiter.
Nebenargument: Die Kunstnamen, die manche hier finden (ich denke an, zum Beispiel: Moby Tüller, Parzivals Schwester, usw.) sind oft genug aufschlussreich, anregend und/oder unterhaltsam.
(Liebe/r Stritter, zu Ihrer Information: Bei bekannten Klarnamen bitten wir die entsprechenden Personen schon seit längerem darum, uns zu bestätigen, dass sie es waren – um Klarnamen-Missbrauch zu verhindern. Mit freundlichem Gruß, die Redaktion)
(Liebe/r Stritter, zugegeben, die Praxis der Klarnamen-Rückfrage ist lückenhaft. Es ist schlicht so, dass wir, wenn wir die Namen selbst nicht kennen, auch nicht zurückfragen können. Die Praxis selbst geht oft über uns bekannte Email-Adressen oder die Pressestellen der Theater. Mit freundlichem Gruß, die Red.)
(Anm. der Redaktion: Die Klarnamen-Rückfrage ergab, dass es sich bei diesem "Wolfgang Behrens" nicht um unseren Redakteur und Kolumnisten handelt.)
Grüsse
Thorsten Weckherlin
Und auch zu # 4 lässt sich also sagen: Was gibt Ihnen konkret die Sicherheit, dass Sie sich vor einem Spiegel befinden, wenn Sie sich vor einem Spiegel meinen zu befinden?? Was genau - und ich weiß schon in Kenntnis von umgangsverabredeter sprachlicher Bedeutung, was Sie meinen! - wenn Sie den Begriff auf seinen Wahrheitsgehalt befragen, ist "Augenhöhe" in kommunikativen Zusammenhängen?
Und nicht zuletzt #1:
Ja, das finde ich auch, das ist oft unterhaltsam und ein ungeheuer phantasieanregendes Element, diese Kommentatorennamen als Erfindungen! Und das weiter Schöne: sie sind es mit den dazugehörenden Kommentaren UND zusätzlich unabhängig von ihnen! Sie sind auf diese Weise ein eigenständiger, verdichteter Zeit-Kommentar! Das trifft auch auf alle anderen Kommentar-Listen in Foren und Online-Medien und auch auf den Gebrauch der Sozialen Netzwerke in der Digitalen Telefonie zu. Ich spüre allerdings einen zunehmend verzweifelten Humor, einen anstrengend nominativ festgehaltenen, hier wie in anderen Kommentar-Sammlungen...
Ich denke da ganz anders. Wer nicht ganz wild auf Anerkennung ist, wer sich nicht wichtig machen will, wen es nicht drängt, dass etwas gilt, was er oder sie hier schreibt, dessen Meinung interessiert mich nicht. Weiß der Kuckuck, was den geritten hat, hier überhaupt seinen Senf dazuzugeben. Ich bin da ganz bei Minetti, (herrlich wie vital der da noch gewesen sein muss! Brecht hätte das gefallen!)- ich möchte nicht zu Leuten reden, die NUR(!) Flückis sind (gegen "Flücki" ist ja nichts zu sagen, das "nur" ist das Problem. Was hätte sie sagen sollen? fragen Sie, Herr Behrens. Aber das wissen Sie doch, als Mann, der sich auskennt, auch wenn Sie sich hier über diese Regeln lustig machen: Sie hätte mit ihrer Ambition antworten sollen: "Ich plane das Theater wie es heute ist, zu revolutionieren! Schön dass Ihnen gefallen hat, was ich gesagt habe! Mein Name ist Flücki und Sie werden noch viel von mir hören." So oder so ähnlich. Und dann hätte Minetti vielleicht gesagt "Kommen Sie doch morgen in meine Garderobe und zeigen Sie mir, was sie geschrieben haben"- so odersoähnlich. Auf einen meiner Kommentare hat einmal einer geantwortet, das sei kompletter Schwachsinn, und außerdem „gretelwalfisch“, wer sei das überhaupt, wer stecke da dahinter? Da war ich gleich sehr zufrieden, dachte mir: ich habe offenbar gut gebrüllt, der Mann hält mich für einen Löwen. Die Anonymität schätze ich, nicht weil jeder gleich viel gilt, auch wenn er nur ein Flücki ist, sondern im Gegnteil weil ich hinter jedem Pseudonym einen Minetti vermuten kann. Weil alle sehr viel wichtiger sein könnten, als sie es vielleicht im realen Leben sind- und dadurch, und beglaubigt durch die Kritiker, die über jeder Diskussion mit ihrem Klarnamentext und Foto prangen, hat NT tatsächlich einen enormen Einfluss in der Theaterwelt.
Menschen sind Schimpansen. Sie rotten sich zu Gruppen zusammen, in denen sie in jedem Moment um Anerkennung kämpfen, ums Dazugehören, und um ihren Status in der Gruppe. Was diese bestimmte Gruppe macht, ihr Projekt, seis Kunst, seis Fußball, seis eine Schirmfabrik- kann viele Gründe haben, sich auf verschiedenste Art als "Sinn" darstellen, aber der Antrieb der Einzelnen, die Kraft, kommt aus der Gier nach Anerkennung und dem Wunsch nach Status. "Reine Kunst" - ohne Wunsch nach ERfolg, nach Sieg über die Konkurrenz, nach Lob von "wichtigen Leuten"? Das ist so wie zu sagen: "Reine Liebe hat mit Sex nichts zu tun". Liebe wird aus Sex wie Brot aus Mehl. Tolles Theater kommt aus der Gier zu gefallen, besser zu sein als die Konkurrenz, bewundert und geliebt zu werden- und während man darum kämpft, in der Gunst der gerade herrschenden Götter aufzusteigen, wird immer mitverhandelt was die Kriterien sind, nach denen man bewertet wird, was "the state of the art" ist, der sich in diesem ständigen Konkurrenzkampf ständig wandelt. Das ist nicht rein- und seit ich nicht mehr so jung bin wie das Flück, finde ich- das ist auch gut so.
Hinter jedem Pseudonym könnte ein Minetti stecken! Das ist eines der interessantesten Argumente für Anonymität, die ich bisher gehört habe. Und sogar eines, das ich zum ersten Mal höre. Danke dafür!
ps Ich wüsste nur zu gerne, wer sich hinter gretelwalfisch verbirgt … Marianne Hoppe?
Ich finde es auch gut, dass es keine + / - Funktionen mehr gibt. Das mildert die Arena-Athmosphäre.
Eine kleine Beschwerde: das mit Inga hätte ich lieber nicht gewusst. Zumindest hätten Sie eine Spoilerwarnung davor setzen können. Ich habe lange vermutet, dass Inga eine Kunstfigur sei, entweder von einem Mann geschaffen, oder von einer Autorin oder einem Autor, der oder die das Forum als Sparringpartner für seine Figur nutzen wollte, um sie so weiterzuentwickeln. (Allerdings kam es mir schon ganz schön lang vor, ich dachte es müsse doch bald einmal ein "coming out" der Figur Inga in einem Stück oder einem Roman geben).Weil Ihnen die Frage mit der Kunstfigur sicher auch durch den Kopf gegangen ist, es Ihnen aber nichts bringt, Ingas echten Namen zu kennen, kann es weder ein Männername noch ein Autorenname sein- denn dann wäre die Frage ja beantwortet. Inga ist also "einfach ein Mensch"? Parbleu! das hätte ich lieber nicht gewusst.
Und ich habe eben NICHT gesagt, dass ich prinzipiell gegen die Anonymität hier bin, sondern gegen die Art wie sie bisher immer verteidigt und begründet wurde! Immerhin gerät in dieser Sache ja gerade Leben in die Bude!! Sie schreiben sehr schön und gelassen über die eitlen Anteile unserer Antriebe. Und doch differenzieren die sich unterschiedlich bei verschiedenen Menschen durch deren Prägungen: Ein Minetti, und selbstverständlich war das unglaublich vital von ihm !, der mich, also mein Flück-Ich, in seine Garderobe einlädt, weil ich ihm sage, dass ich - ab Montag früh - das Theater revolutionieren will und im übrigen Ernie heiße, hätte mein Interesse, mit ihm über meine Pläne zu reden im Moment von 100 auf Null gefahren! Das hat ja mit Reinheit oder Unreinheit nichts zu tun! Vielleicht hätte er mich ja sogar gelobt usw., alles, was man ja so gerne eben auch möchte - aber die Revolution wäre dann vorerst verschoben worden, nicht wahr. Da muss man sich ganz schnell entscheiden: Lob oder dekonstruktivistische Niederlage. Wenn man von allen Schauspielern Minetti am meisten verehrt, entscheidet man sich für das Lob. Und wenn man Schauspieler, die das Zeug zu einem Minetti in sich tragen, überhaupt verehrt, entscheidet man sich für die Niederlage. Der Egoismus besteht dann darin, dass man ganz bei sich bleibt. Ob das "rein" ist, weiß ich nicht. Und es interessiert mich auch nicht.
Es ist gerade der Blick des "Außenseiters", der das Betrachtete, viel klarer sieht. So wie bei einem Gemälde, bei dem man aus einer gewissen Distanz, seine ganze Schönheit, erst erfassen kann.
Übrigens, von so nem alten Minetti gelobt zu werden, was bringt mir das? Der ist doch auch nur ein Mensch. (...)