Eines langen Tages Reise in die Nacht - Christof Nel zeigt Eugene O'Neill
Familienaufstellung im Tierversuch
von Shirin Sojitrawalla
Frankfurt, 14. März 2008. Die Wahrheit ist in der Familie Tyrone kein gern gesehener Gast. Wer es wagt, sie auszusprechen, wird augenblicklich abgestraft. Immer wieder verbieten sich Eltern und Kinder gegenseitig den Mund, fordern sich auf, endlich still zu sein. Besonders Mutter Mary ist darauf bedacht, Lügen und Geheimnisse zu einer halbwegs tadellosen Fassade aufzuschichten. Einem kleinen Kind gleich, meint sie, wenn sie nur fest die Augen schließt, könne ihr und ihren Liebsten nichts geschehen.
Früher war sie einmal glücklich. Ihr Brautkleid, das in Seidenpapier gewickelt in einer Truhe ruht, erinnert sie daran. Heute ist sie Morphinistin und ihr Mann dem Alkohol verfallen wie die beiden Söhne auch. Alle Tryones halten die Realität nur im Rausch aus beziehungsweise sich von Leib und Seele. Drogen sind ihre willigen Fluchthelfer aus dem Elend des eigenen Lebens. Dabei bringt "Eines langen Tages Reise in die Nacht" den Horror Familie wahrhaftig auf den Punkt. Eugene O'Neill verarbeitete darin eigene Erfahrungen zu einer immer aktuellen Familienschlacht.
Schieflage als Programm
In Frankfurt sitzen die Zuschauer an drei Seiten aufgereiht um eine quadratische Spielfläche direkt auf der Bühne des Großen Hauses. Zwischen den einzelnen Akten hebt und senkt sich der Boden unter den Füßen der Schauspieler, als atme oder stöhne er. Alles gerät auf diese Weise ins Kippen, die Schieflage ist Teil des Programms. Auf niveaweißem Grund steht wie zufällig arrangiertes Mobiliar: Stühle, Tische, Lampen und ein bisschen Hausrat drumherum. Die vier Tyrones bewegen sich, als träten sie zur Familienaufstellung an.
Immer wieder verändern sie ihre Positionen, gehen aufeinander zu oder voneinander weg, durchschreiten das Viereck, tragen Stühle und Tische von hier nach dort und spazieren auch schon mal außen herum. Die Zuschauer sitzen ganz nah am Geschehen und kommen sich dabei vor, als pressten sie ihre Nasen an fremder Leute Wohnzimmerfenster. Dort sehen sie Vater Tyrone, einen polternden Geizhals. Joachim Nimtz spielt ihn als bulliges Kind, das böse donnert und dann auch wieder erbärmlich kleinlaut ächzt. Verena Buss spielt seine Ehefrau Mary als hypernervöse, zunehmend hysterischer agierende große Kranke, die des Nachts auf der Suche nach der goldenen Vergangenheit durchs Haus geistert. Edmund (Bert Tischendorf), der Jüngste schlägt nach seiner Mutter.
Bandoneospieler im Familiengefängnis
Ein schwächliches Kind, jetzt, als junger Mann an Schwindsucht erkrankt; er schreibt Gedichte, zitiert Baudelaire und träumt von der Freiheit, die immer anderswo scheint. Sein großer Bruder Jamie (Christian Kuchenbuch) indes ist ein Draufgänger und Weiberheld, der den Suff als billigste Notlösung sieht. Sie alle ergeben sich demütig ihrer Sucht und bemitleiden mit Hingabe nur sich selbst. Vier Egozentriker, eingesperrt in das Gefängnis Familie. Mit Vorliebe reden sie aneinander vorbei, stoßen Beleidigungen aus wie Gebete und verachten sich mit grenzenloser Leidenschaft.
Vier Akte lang bejammern sie das eigene Dasein und wehren sich gegen ihre Zwangsgemeinschaft wie gegen einen Infekt. Dabei versuchen sie in immer neuen Zweikämpfen, das ungeheure Ausmaß ihres Schmerzes auszuloten. Begleitet werden sie von einem Bandoneonspieler (Rainer Süßmilch), der am Rand des Spielfelds hockt. Sein Instrument knarzt, röchelt, stöhnt, seufzt, und er spielt Melodien, die mal elegische, mal beschwingte Atmosphären stiften.
Der Regisseur Christof Nel führt das wunderbar sonderbare Quartett in aller Ruhe - zweieinhalb Stunden lang - vor, indem er nur dem Text gehorcht. Der wurde zwar zusammengestrichen, aber kein Schnickschnack lenkt von ihm und der Intensität der Tyronschen Befindlichkeitstörungen ab. Einmal kommt eine Motorsäge zum Einsatz, danach noch ein Toaster, das war's. Ungeschminkt und unfrisiert präsentiert Nel vier Menschen als seien es Mäuse im Tierversuch und schaut ihnen dabei zu, wie sie sich das letzte bisschen Fleisch vom Körper nagen.
Eines langen Tages Reise in die Nacht
von Eugene O'Neill
Deutsch von Michael Walter.
Regie: Christof Nel, Künstlerische Mitarbeit: Martina Jochem, Bühne: Thomas Goerge, Kostüme: Barbara Aigner, Musik: Rainer Süßmilch.
Mit Verena Buss, Christian Kuchenbuch, Joachim Nimtz, Bert Tischendorf
www.schauspiel-frankfurt.de
Kritikenrundschau
Zwar sei es Eugene O'Neill in seinem Stück um eine Eskalation zu tun, schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (17.3.2008); doch in der Frankfurter Inszenierung Christof Nels falle es schwer "sich vorzustellen, dass die Tyrones dieses 'Langen Tages Reise in die Nacht' nicht schon häufiger mitgemacht haben sollten." "Die quälende Ödnis über dem Sommerhaus der Tyrones" sei "so beträchtlich, dass sie sich auch über den Theaterabend legt. Das ist konsequent, also auch konsequent quälend öde. Selbst das Schwanken des Bodens wird hingenommen, als sei es schon immer so gewesen." Die Schauspieler bewegten sich "wie in der alptraumhaften Parodie eines Konversationsstückes, setzen sich hierhin, springen auf, setzen sich dorthin, und nicht selten sieht man sie nur von hinten, was auch akustisch rücksichtslos ist. Ihren Text sprechen sie meistenteils wie auswendig gelernt." Das Resultat: "lange und etwas spannungslose drei Stunden. Christof Nel hat es aber offenbar so gewollt und so durchgezogen."
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