Der blinde Fleck

von Sabine Reich

Bochum, 7. September 2015. In den letzten Jahren war ich damit beschäftigt, den Opelanern in Bochum zu erklären, dass ihre Fabrik schließen wird, sie alle ihre Arbeit verlieren, wir aber uns mit offenen Augen den Prozessen der post-industriellen Globalisierung stellen müssen. Dass wir für die zukünftige Gesellschaft zwar keine Lösungen haben, aber dennoch die richtigen Fragen stellen werden. Und dass sie uns vertrauen sollen. Alles würde sich ändern, erklärten wir: Wir haben den Arbeitern erklärt, dass sie keine Arbeit haben, den Unternehmern haben wir das Kapital erklärt und den Politikern die Welt. Alles würde sich ändern, nur wir nicht, die Theater.

Das Stadttheater nimmt sich das Recht, die Stadt zu befragen, doch niemals das Theater. Unser kritischer Blick richtete sich nach außen: Geprüft haben wir die Institutionen und Verhältnisse der anderen, nur nicht die eigenen. Und wie in jedem Akt der Aufklärung und in jedem bildungsbürgerlichen Bemühen haben wir alles gesehen, nur uns nicht. Wir sind der blinde Fleck im ewigen Diskurs der Veränderung. Doch dabei machen wir zwei Fehler: Wir folgen einem vergangenen Ideal und beschönigen unsere realen Verhältnisse. Denn wir sind weder das, wofür wir uns halten, noch sollten wir bleiben, was wir waren.

1. Wir sind nicht, was wir glauben zu sein

Momentan feiert sich das Stadttheater als letzte Bastion der Kunst, die frei sei von merkantilen Verwertungs- und Eventkalkülen. Das Ensemble soll ein Garant künstlerischer Qualität und Kontinuität sein, das Regietheater die letzte kritische Instanz, die fähig ist, Texte und Diskurse frei zu legen, und das Stadttheater im Ganzen ein Ort der Bildung und Kritik. So möchten wir gerne sein, doch so sind wir nicht.

Jeder, der an einem Stadttheater gearbeitet hat, weiß, dass diese Ideale mit der Realität nichts zu tun haben. Vermessen ist es zu denken, dass jene Ökonomisierung, die wir scharfsinnig für alle Bereiche des gesellschaftlichen und privaten Lebens konstatieren, vor uns und den Theatern Halt gemacht hätte. Wir gehorchen nicht anders als alle anderen der unsichtbaren Hand des Marketings und folgen allem, was gezählt werden kann: Wir kreisen um Zahlen und Auslastungen, Rankings und Klicks. Unsere Autonomie, die so wichtig ist, damit wir Kunst geschehen lassen können, haben wir schon lange verloren. Das, was uns permanent begleitet, ist die Angst. Die Angst vor sinkenden Budgets und Auslastungszahlen ebenso wie die Angst vor dem plötzlichen Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. Wie ein dunkler Schatten legt sie sich über alle Entscheidungen am Theater, denn sie kontrolliert jede Regie- und jede Spielplanentscheidung.

Und so vergessen wir alles, was wir jemals über die Erstellung eines Spielplans glaubten zu wissen, denn nun gelten andere Regeln. Uraufführungen allzu komplizierter, junger Autoren, die noch nicht durchgesetzt sind, gelten als erhöhtes Risiko, das mit mindestens zwei Komödien neutralisiert werden muss. Der gleiche Risikofaktor gilt für die Experimente junger Regisseure. Und auch wenn wir uns das immer wieder gerne versichern: Das Ensembletheater fördert nicht die Schauspielkunst. Die fest angestellten Schauspieler/innen werden durch den Spielplan gejagt, der in den meisten Fällen viel zu eng gebaut ist. Von einer Premiere stolpern sie in die nächste Probe, kaum Zeit zum Luftholen, Denken und Fragen wird nicht eingeplant. Zu wenig Zeit und zu viele Premieren, diese Gleichung gilt für die Spielpläne wie für die Regisseure: wenn nur das kurze Feuerwerk der Premiere Relevanz und Sichtbarkeit liefert, dann wird stets auf diesen einen Moment hin produziert. Die Regisseure, die gut im Geschäft sind, hetzen von Probebühne zu Probebühne, stehen alle zwei Monate einem neuen Ensemble gegenüber und starten den ersten Probentag oftmals mit minimaler Vorbereitung – wie sollte es auch anders sein, wenn ihre Kalender übervoll sind, weil sie den kurzen Moment des Erfolgs und der finanziellen Sicherheit dringend mitnehmen müssen für die schlechten Zeiten, die ihnen jederzeit drohen.

So ist der Raum für Experimente und Scheitern, für Prozesse und Risiken und damit für die Möglichkeit von Kunst eng geworden, sehr eng. Und wir müssen uns eingestehen, dass wir schon lange das Eventtheater sind, das keiner will. Wir bieten erfolgsorientierte Massenware zum Konsum und wiederholen Traditionen, ohne sie zu befragen.

Detroit1 560 DianaKuester x"This is not Detroit": Das Theater weiß Bescheid. © Diana Küster

Die Gründe für diesen Zustand sind nicht in persönlichen Haltungen oder Entscheidungen der Akteure zu suchen, sondern es geht um ein systemisches Problem, das die Lage an den Stadttheatern für alle Beteiligten alternativlos werden lässt.

Die Lage der Stadttheater ist alternativlos, solange wir um nichts anderes kämpfen als um unseren Status quo und glauben, unsere Probleme wären einzig durch erhöhte Budgets zu lösen. Dabei starren wir auf die unterfinanzierten Kommunen wie das Kaninchen auf die Schlange und haben nicht bemerkt, dass unser Gegner längst nur noch eine traurige Plastikschlange ist, die sich mit letzter Kraft aufrecht hält. Wir wollen nicht sehen, dass auch wir, die Theater, zur Konkursmasse der verschuldeten, schrumpfenden Städte gehören. Denn unsere schrumpfenden Budgets und Haushalte sind Symptom der Shrinking Cities und damit Teil von tief greifenden strukturellen Veränderungen des Öffentlichen und Politischen. Eigentlich wissen wir das, doch unser eigenes Problem sehen wir nicht im Kontext der politischen Prozesse. Wir sind die, die in einem sinkenden Schiff darüber lamentieren, dass sie nass werden. Doch anstelle des Lamentos sollten wir uns an unsere politischen Fähigkeiten erinnern und tun, was wir am besten können, besser als alle anderen: Wir sollten aktiv neue Formen und Räume des Öffentlichen bilden, die der Praxis einer veränderten Gesellschaft entsprechen. Wir können Partner sein der Kommunen, wenn es darum geht, eine neue Kultur in und mit den Städten zu entwickeln. Doch dazu brauchen wir eine neue Verabredung zwischen der Politik und den Theatern: eine, die die Theater aus dem Klammergriff der Zahlen löst, die sie nicht in die verzweifelte Lage des Selbsterhaltes bringt und die die Relevanz von Kunst voraussetzt und diese nicht zum beweisbaren Faktum macht. Wir brauchen ein starkes Theater in den Städten, doch wir brauchen ein anderes Theater.

2. Wir sollten nicht bleiben, was wir waren

Das Stadttheater kann mehr und ist weitaus spannender als das, was wir gerade verzweifelt verteidigen. Doch um seinen eigenen Möglichkeiten zu entsprechen, muss es sich reformieren und sich selber kritisch in den Blick nehmen. Es muss entrümpeln und Ballast abwerfen, alte Glaubenssätze kritisch befragen und sich öffnen. Reformen sind dringend nötig, nicht um effektiver und marktkonformer zu werden, sondern um Autonomie und Freiräume zurück zu erobern.

Doch stellt man in Deutschland das Stadttheater in Frage, erhält man ähnlich nervöse Reaktionen, die man sonst nur kennt, wenn man das Gymnasium und das dreigliedrige Schulsystem abschaffen möchte. Und sie scheint berechtigt, diese Nervosität, denn es ist ein und derselbe Nerv, den wir meinen: Theater ist in Deutschland immer auch ein Akt von Bildung. Bildung und Bühne sind tief verbunden und haben gemeinsam die bürgerliche Erfolgsgeschichte geschrieben. In dieser einzigartigen Verbindung liegt die unverwechselbare Kraft des deutschen Theaters wie auch sein unerträglicher gymnasialer Habitus. Der verbindende Nerv zwischen Bühne und Bildung ist die Sprache. Theater in Deutschland sind mehr als in jeder anderen Kultur gebunden an Texte und ihre Deutung. Ihre Bühnenkunst ist den schreibenden oder regieführenden Autoren verpflichtet, sie bleibt den Hierarchien der Repräsentation verhaftet und folgt der Schrift und den Diskursen, die schreibend, lesend und inszenierend gedeutet werden.

Doch die Kultur, in der wir leben, ist nicht mehr ausschließlich eine der Sprache, schon gar nicht mehr der deutschen Sprache allein. Uns prägen viele verschiedene Sprachen, Kulturen und Formen. Künstlerischer Ausdruck ist immer weniger gebunden an die Narration: Bilder, Körper, Tanz, Sounds und Musik bilden eine neue, vielschichtige Textur des Erzählens, die anderen Rhythmen und Wahrnehmungen als die der linearen, geschriebenen Literatur folgt.

Frontalunterricht 560 MaximilianSchoenherr u"Frontalunterricht mit Augen" © Maximilian Schönherr

Doch was wir inzwischen über die Schule wissen, ignorieren wir für die Theater: dass das dreigliedrige Schulsystem kaum noch in der Lage ist, Chancengleichheit und soziale Mobilität zu ermöglichen. Es steht in seiner Statik für die alte Ordnung der Nationen und Klassen, doch diese Ordnung verliert zunehmend ihre Bedeutung. Für die Schule entwickeln wir bereits neue, freie und kreative Bildungsformen – warum lassen wir neue Formen nicht am Theater zu? Warum verdammen wir die Theater dazu, muffiges Auslaufmodell einer vergangenen Welt zu bleiben? Warum öffnen wir uns nicht den vielen Formen der Kunst, ohne nach ihrem Genre zu fragen? Warum glauben wir, dass die Bühne ohne die Sprache ihre Kraft verliert? Warum öffnen wir uns nicht den vielen Kulturen in unserer Gesellschaft? Warum finden viele keinen Zugang zum Theater? Weil auch für die Theater die alte Weisheit gilt: the medium is the message. Wir erzählen, was wir sind. Solange die Theater die Ordnung der alten Eliten in sich tragen, werden sie von diesen erzählen und nur für diese spielen. Doch diese Eliten werden machtloser und älter. Und wir belehren wie ein einsamer Gymnasiallehrer eine Welt, die uns schon lange vergessen hat.

Denn all die Analysen über den Wandel der Städte und der Arbeit, der Öffentlichkeit und Kultur, auch die des Publikums, die wir in den letzten Jahrzehnten diskutiert haben, sind ja zutreffend: Unsere von bürgerlichen und nationalen Werten geprägte deutsche Kultur verändert sich. Wir verhandeln momentan darüber, wie unsere Städte und Gesellschaft in Zukunft aussehen sollen, wer in ihnen leben darf, wie sie organisiert und finanziert werden, wie Informationen und Wissen distribuiert werden, was Bildung überhaupt ist und in welchen Strukturen wir demokratische Gestaltung ermöglichen können. Die wesentlichen Parameter unserer sozialen Koordinaten müssen neu bestimmt werden, und wir suchen nach dem, was die gemeinsame öffentliche Sache in Zukunft sein kann. Dabei beobachten wir neugierig, welche Formen von Kunst dabei entstehen und welche Kultur die Menschen brauchen.

Diese Veränderungen sollten wir aktiv mitgestalten, denn darin liegt die große Qualität des Theaters. Kein anderes Medium ist so eng mit den Strukturen des Öffentlichen verbunden wie das Theater, denn das Theater erst produziert diese Strukturen und Räume. So wie es einstmals eine bürgerliche Welt erschaffen hat, so kann es heute die Kultur und die Öffentlichkeit der Zukunft formen. Es kann zu neuen Erzählungen und neuen Räumen beitragen. Nicht als gymnasialer Bildungsvorgang von oben, sondern durch beidseitige Resonanz: Nur wenn sich die öffentlichen Strukturen in die Form des Theaters einschreiben, kann das Theater diese gestalten und so seinen eigenen Raum und den der Kunst offen halten. Das ist ein Weg, den Stadt und Theater gemeinsam gehen können.

 

SabineReich 140 DianaKuester uFoto: Diana KüsterSabine Reich (*1966) war fünf Jahre Dramaturgin am Schauspielhaus Bochum, zwei davon als leitende Dramaturgin. Zuvor arbeitete sie fünf Jahre als Dramaturgin am Schauspiel Essen. In dieser Zeit entwickelte sie Stadtprojekte wie die Eichbaumoper (Mülheim an der Ruhr / Essen / Recklinghausen) und das Detroit-Projekt (Bochum).
Sabine Reich studierte in Bochum Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und Philosophie, war Assistentin am Burgtheater Wien und arbeitete für den Ringlokschuppen Mülheim, die Ruhrfestspiele Recklinghausen (2004) und Theater der Welt 2010.

 

Eine Übersicht über alle Texte der Stadttheaterdebatte in unserem Lexikoneintrag – zuletzt machte Esther Boldt sich im Juni Gedanken über Teamleitungen als Chance für reaktionsschnelle und lernfähige Theaterhäuser.

 

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