Ein Schnitter namens Bürokrat

von Jürgen Reuß

Konstanz, 14. März 2008. Es geht familiär zu im Theater Konstanz. Lockere Sprüche zur spärlichen Beleuchtung im Klo, dass man den Strahl ja ertasten könne. Anschließend Händeschütteln. Man weiß, dass die beiden Plätze in der Vorderreihe leer bleiben, weil diese Abonnenten eh nie kämen. Selbst der Fremde erkennt gleich den Besucher wieder, der zuvor der einzige andere Gast im empfehlenswerten kleinen Restaurant mit Münsterblick gewesen ist. Später kam noch diese Familie mit dem seltsamen Zwölfjährigen dazu, der über seinen Parisaufenthalt dozierte wie ein Diplomatenkader von seiner fünfzehnten Auslandsstation

Das einem nach der Vorstellung solche Szenen wieder einfallen, hat etwas mit dem Stück zu tun, das am Theater Konstanz seine deutsche Erstaufführung erlebte: Mark Ravenhills "Der Schnitt". Rück- und Seitenwände ein Stadtplan, davor ein Podest, darunter, halb sichtbar, eine neonbeleuchtete Mischung aus Büro- und Operationsraum (Bühne: Toto). Auf dem Podest stehen zwei Stühle. Auf dem einen sitzt bereits das Urbild bürokratischer Staatsgewalt: Paul (Heimo Scheurer), grauer Anzug, graue Weste, rote Krawatte, schwarze Lackschuhe, tadellos. Er isst ein Pausenbrot. Aha, der Bürokrator und sein menschliches Antlitz.

Grausames Unterwerfungsritual 

Dann iPod-Gedröhn. Aus dem Zuschauerraum hastet ein Kapuzenjüngling, John (Johannes Merz), Eminem-inspiriert zum zweiten Stuhl. Es handelt sich offenbar um einen Behördengang. John hat sich entschlossen, den Schnitt machen zu lassen. Paul soll ihn genehmigen und durchführen. Was dieser Schnitt sein soll, wird nicht genau definiert. Nur dass er sehr schmerzhaft sein und den Betreffenden von seinen Gefühlen, seiner Geschichte, seinem Körper befreien wird. Ein finales, seit Generationen exekutiertes, grausames Unterwerfungsritual. Eingerichtet von einer "alten Garde" mit "laxer" Haltung zu Gewalt.

Operateur Paul vertritt die neue Garde, die Gewalt nicht mehr so offen praktizieren möchte. Er will John zu Alternativen überreden – Uni oder Gefängnis. Aber John ist fest entschlossen. Mag sein Gegenüber auch menscheln, ihm Privates vorwinseln, John bleibt unerbittlich: Wer Schnitter ist, muss den Schnitt auch setzen. Martialisches Getöse. Die Stadtplanwände werden transparent, verschwinden.

Der Bürokrat privat

Dahinter ein weiterer Raum mit den gleichen Stadtplanwänden. Ein Wohnzimmer, links der Esstisch, rechts die Sesselecke. Paul privat. Aus dem ersten Akt weiß man, dass er gern mal wieder mit seiner Frau schlafen würde, es aber nicht mehr kann, seit auf ihn geschossen wurde und er die Augen nicht mehr schließen kann. Man hat Mitleid mit ihm. Aber nicht lange. Die Frau, Susan (Olga Strub), verweist ständig auf seine "Tobsuchtsanfälle", seine Unbeherrschtheit. Er gibt ihr indirekt Recht, wenn er jeden Augenblick möglicher Annäherung mit panischen Wutausbrüchen zunichte macht. Die Frau nimmt es, tablettengestützt, routiniert gelassen. Sie haben ja einen Sohn auf der Uni, der wird Veränderungen bringen.

Letzter Akt. Bühne wie im ersten Akt, nur dass der zuvor halb sichtbare Raum hochgefahren wurde. Er bildet eine Art Zelle, in der Paul sitzt. Offenbar waren Sohn Stephen und eine "neue Garde" erfolgreich. Paul erwartet die Sanktionen, Stephen (Georg Melich) besucht ihn, will etwas für ihn tun. Aber Paul verhält sich spiegelbildlich zu seinem Schnitt-Kunden John. Er will die Strafmaßnahmen der neuen Kader notfalls erzwingen: "Der Vorrat an Scheiße ist begrenzt (…) man dümpelt lange genug drin herum, bis derselbe Haufen wieder an einem vorbeischwimmt."

Totalitarismus als Laborversuch

Mark Ravenhills Stück ist eine Art Laborversuch, die Essenz eines totalitären Staatsgefüges zu bilden. Eine Abstraktion aus Eichmannscher Banalität des Bösen, allgegenwärtiger Verwaltungsherrschaft, beziehungsunfähiger Familienstrukturen, als Revolution kostümiertem Personalwechsel im immer Gleichen. Regisseurin Leyla Rabih hat sich dieser Konstruktion ganz anvertraut und mit einem überzeugenden Ensemble umgesetzt. Es ist ein kaltes Stück über Totalitarismen, in denen alles zu Erstarrung tendiert und in die nur durch die seltsame Form des passiven Widerstands im stolzen Einfordern der Opferrolle Bewegung hinein gebracht werden kann, die aber letztlich nur zu personellen Wechselns führt, nie zum Wechsel des Systems.

Das ist in sich stimmig, dramaturgisch geschickt aufgebaut, aber letztlich hohl, irgendwie altmodisch, wie ein 60er-Jahre-Stück von hinter dem eisernen Vorhang. Es mag einen gewissen Charme haben, uns mal durch Ravenhills Totalitarismusbrille zu betrachten und z.B. den Geiz-ist-geil-Konsum als täglich neu angesetzten Schnitt durchs Hirn aufzufassen. Aber Labor bleibt Labor. Eines erzeugt so ein konstruiertes Stück immerhin – die Lust aufs Reale. Dann wird das Publikum plötzlich interessanter als die Bühne. Womit wir wieder am Anfang wären.



Der Schnitt
von Mark Ravenhill
Übersetzung: Nils Tabert
Deutschsprachige Erstaufführung
Inszenierung: Leyla-Claire Rabih, Bühne: Toto.
Mit Heimo Schreurer, Johannes Merz, Georg Melich, Olga Strub

www.theaterkonstanz.de

 

Kritikenrundschau 

"Wo sind wir?", fragt Siegmund Kopitzki im Südkurier (17.3.2008) mit Blick auf das verrätselte erste Bild von "Der Schnitt", Mark Ravenhills nun in Konstanz zur deutschen Erstaufführung gebrachten neuem Stück. "Irgendwo in einem peniblen Folterstaat." Aber: "Es ist schwer auszumachen, in welcher Region wir uns befinden, in welcher Zeit." Das gefalle Ravenhill, "dass sich die Zuschauer seiner Stücke ständig Fragen stellen, die sie nicht beantworten können. Das hat schon Samuel Beckett perfekt hingekriegt." Man sehe bei Ravenhill auch Szenen einer Ehe, "wie sie sich Harold Pinter nicht besser ausgedacht haben könnte." Und in Leyla Rabihs Inszenierung, "die das streng durchkomponierte Stück entsprechend hochkonzentriert und zielorientiert führt" sehe man auch "ein wunderbares Schauspielerpaar: Olga Strub ist Susan, ist souverän; ihre Wortkaskaden ... versprüht sie in einem ... fast schon bernhardesken Tonfall. Heimo Scheurer ist Paul, ist larmoyanter Täter, hoffnungsloser Ehemann und ernüchtertes Opfer". 

 

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