Oh, schönes Schicksal?

von Dorothea Marcus

Duisburg, 9. September 2015. Rund 23 Jahre lang schrieb Émile Zola an seinem monumentalsten Werk, den 20 Bänden der "Rougon-Maquart – Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich". Jahrzehnte umfasst die verzweigte Saga der Doppel-Dynastie, die sich in verfeinert scheiterndes Bürgertum und alkoholisierte Arbeiterklasse aufteilt. Zum Literaturkanon gehört das aufgrund seiner starken Theorielastigkeit nicht, am bekanntesten sind noch "Germinal", der Einblick in die Bergwerksfron, "Der Totschläger" und "Nana", über das Leben der bestbezahltesten Prostituierten ihrer Zeit.

Die Laster der Vorfahren

In drei Jahren wird Luk Perceval nun die 20 Bände im Rahmen der Ruhrtriennale auf die Bühne bringen, in einer Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg. Dabei geht er das gewaltige Unterfangen nicht chronologisch an: Im ersten Teil von "Liebe. Trilogie meiner Familie" verarbeitet er die Romane "Der Totschläger" und "Dr. Pascal", die an siebter und an letzter Stelle des Zyklus stehen. Der erste Band dagegen, jener, den Zola selbst als "den Ursprung" bezeichnete, ist auf der Bühne eine Leerstelle: Im unbesetzten, rostigen Metall-Rohlstuhl ist die Ur-Ahnin des Unglücks, Adelaide oder auch Tante Dide genannt, unsichtbar: Die genetische Determination, für Zola zentrales Konzept, ist bei Perceval nur ein Phantom. Zolas Werk ist in erster Linie die Geschichte einer "genetischen Defektgemeinschaft", die Illustration seiner heute abstrus wirkenden Vererbungslehre: Dem Schicksal, in das man geworfen wurde, kann man nicht entgehen. Zwanghaft lagern sich die Laster der Vorfahren im eigenen Leben ab.

liebetrilogiemeinerfamilie3 560 Armin Smailovic uAuf der Schicksalswelle – Maja Schöne als Nana © Armin Smailovic

In der zugigen Gießerei-Halle im Landschaftspark Duisburg-Nord – Decken liegen bereit – hat Annette Kurz eine hölzerne Welle gebaut, über der ein Strick baumelt. Den kann man zum Klettern und Rutschen benutzen, zum Schaukeln und Fesseln – nur zum Aufhängen wird er nicht eingesetzt, bei den Rougon-Macquart wird deutlich elender gestorben. Auf der rutschigen Halfpipe, der Schicksalswelle, spielen sich die unentrinnbaren, traurigen Schicksale ab, grundiert von melancholischer Gitarre. Dabei wollen doch alle nur glücklich sein, wie sie zu Beginn durcheinander rufen.

Hier die lebenslustige Wäscherin, dort der intellektuelle Doktor

Es ist sehr geschickt und äußerst liebevoll, wie Luk Perceval nun die Lebensverläufe von zwei unverbundenen Familienteilen aneinanderschneidet und überblendet. Auf der einen Seite steht die hinkende, alleinerziehende und arbeitssame Wäscherin Gervais, von Gabriela Maria Schmeide hinreißend mit proletarischem Fantasie-Platt versehen, treuherzig und lebenslustig. Wie rustikal-kokett sie das Werben ihres künftigen Ehemanns Coupeau abschmettert, um dann juchzend mit ihm die Welle herunterzusegeln, ist schon sehenswert. Auch Coupeau wird von Tilo Werner grundsympathisch angelegt. Zunächst immer einen Scherz auf den Lippen, verwandelt er sich in kürzester Zeit zum cholerischen, abgewrackten Haustyrannen. Zitternd halten sich ihre drei Kinder am Bühnenrand im Arm, bis Tochter Nana (Maja Schöne) sich als Star-Kurtisane zur Flucht vor dem Schicksal aufmacht und mit lasziv flatternden Kleidern und Haaren daraus befreit, in übrigens genau dem blauen Mieder historischer Zola-Illustrationen.

Überhaupt setzt Kostümbildnerin Ilse Vandenbussche mit den anmutig-pastellfarbenen Reifröcken und Unterkleidern der Frauen sowie Baskenmützen und Wollhosen der Männer ungebrochen auf Zeitkolorit. Elfengleich ganz in weiß sieht auch die sehnsüchtige Nichte Clotilde (Marie Jung) in der Parallelgeschichte aus, ganz still dienende Muse, die Dr. Pascals ausufernde Arbeitszeiten stets verständnisheischend dem Publikum erklärt – und sich zur passenden Zeit auch mal strategisch-erotisch von ihm die Bluse zuknöpfen lässt, sonst hätte er ja nie etwas gemerkt. Stephan Bissmeier zeigt Dr. Pascal ganz als zerstreuten, stets aristokratisch distanzierten Intellektuellen. Das Alter Ego Zolas ist letztlich der einzige, der durch seine Bewusstwerdung dem Schicksal entfliehen kann. Als sich als Paar aus Onkel und Nichte endlich gefunden hat und am Strick hoch oben orgiastisch über der Bühne schaukelt, kann man schon verstehen, dass Haushälterin Martine (Oda Thormeyer) griesgrämig guckt.

Prächtig pessimistisch

Nur ganz sachte streifen sich beide Erzählstränge zuweilen – etwa wenn Martine und die von ihrem saufenden Ehemann enttäuschte Gervaise frustriert nebeneinander an der Rampe sitzen, beide Opfer von seltsamen Winkelzügen der Liebe. Es ist eine Freude, den Darstellern zuzusehen, die sich detailreich in ihre traurigen Schicksale verstricken – auch wenn nicht wirklich zu verstehen ist, warum die bodenständige Gervaise sich schließlich als Alkoholikerin und Hure zugrunde richtet. Hier entgeht eben keiner seiner Bestimmung?

Allerdings muten die so liebevoll erzählten privaten Lebensdramen seltsam unpolitisch und aus der Zeit gefallen an. Schade auch, dass die grandiose Gießanlage reine Kulisse bleibt – und man dem Bühnenbild einfach ansieht, dass es für das Thalia Theater in Hamburg geschaffen wurde. Vor allem aber fragt man sich, warum Luk Perceval die fatal deterministische Aussage Zolas auch noch verschärft? Im Roman ist es immerhin so, dass Clotildes Kind, gezeugt mit ihrem Onkel Pascal, zum neuen, vitalen Menschen wird. In Duisburg endet der Abend hingegen mit der kinderlosen Trennung der beiden. Die zentrale Frage, was man am eigenen Leben beeinflussen kann und wie viel der Zufall der eigenen Geburt bedeutet, beantwortet Perceval in aller Pracht, Schönheit und Anmut letztlich pessimistischer als Zola selbst.

 

Liebe. Trilogie meiner Familie 1
von Émile Zola, Bearbeitung: Luk Perceval
Regie: Luk Perceval, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Licht: Mark Van Denesse, Musik: Lothar Müller, Dramaturgie: Susanne Meister, Jeroen Versteele.
Mit: Stephan Bissmeier, Barbara Nüsse, Marie Jung, Oda Thormeyer, Pascal Houdus, Gabriela Maria Schmeide, Sebastian Rudolph, Tilo Werner, Rafael Stachowiak, Valentin Rose, Bela Altendorf, Maja Schöne, Patrick Bartsch, Patrycia Ziolkowska.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
Eine Produktion der Ruhrtriennale und des Thalia Theater Hamburg

www.ruhrtriennale.de

 

Mehr von der Ruhrtriennale: nachtkritik.de besprach die Eröffnungsinszenierung Accattone von Johan Simons, Susanne Kennedys Höllen-Durchwanderungs-Installation Orfeo und die Proust-Auseinandersetzung Die Franzosen von Krzysztof Warlikowski.

 

Kritikenrundschau

Eine Stadttheateraufführung, die sich in einen Hochofen verirre, sei ärgerlich, findet Ulrike Gondorf in der Sendung "Fazit" von Deutschlandradio Kultur (9.9.2015). Ins koproduzierende Hamburger Thalia Theater wird der Abend aus ihrer Sicht jedoch "schmerzlos" passen. Im Stahlwerk von Duisburg-Meiderich enstehe allerdings keine Sekunde lang eine Schwingung zwischen Spielort und Stück . "Und man fragt sich auch vergeblich, welche Fragen, welche drängenden Probleme" Luk Perceval in dieser Geschichte sehe. Alles wirke "wie ein hoffnungsloser Versuch, Emile Zola ausgerechnet da wiederzubeleben, wo er am totesten ist: in seinem Glauben an Theorien, die vor 150 Jahren viele Anhänger hatten, von deren Unsinnigkeit aber heute kein Theaterpublikum der Welt mehr überzeugt werden muss. So breitet sich ein zunehmend lähmendes Vakuum aus im Zentrum des ganzen Unternehmens."

Von einer "phänomenalen Raumwirkung" spricht Karin Fischer in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (10.9.2015). Die überdachte alte Gießhalle im Landschaftspark Duisburg Nord "mit ihren stählernen Rohren, Streben und Balustraden und dem wuchtigen Turm hinten" bilde eine kolossale Arena um das eigentliche Bühnenbild herum. "Jene Maschinen, die in der Epoche von Emile Zola die Arbeiter zu ersetzen drohten", bilden, so Fischer , "hier die passgenaue Kulisse für eine Erzählung, die natürlich auch die Frage nach der Funktion des Menschen als Rädchen im Getriebe stellt. Genauer: Wie ist der Mensch ist durch Biologie, wie durch die Zeitläufe, also Geschichte, wie durch soziale Herkunft definiert?"

Es sei nicht immer nötig, historische Stoffe in die Gegenwart zu übertragen, schreibt Stefan Keim auf welt.de  (10.9.2015) "Es kann ein besonders berührendes Erlebnis sein, wenn man sich einen Theaterabend erarbeiten und eine Distanz überwinden muss. So ist es bei 'Liebe' geschehen, dem ersten Teil von Luk Percevals Zola-Trilogie." Dabei komme im schnellen Wechsel zwischen kurzen Dialogen und Prosatexten zunächst wenig Emotion auf. "Eine perfekte Theatermaschinerie schnurrt ab. Die Zuschauer müssen sich konzentrieren, um die vielen Charaktere und ihre Beziehungen zueinander zu verstehen." Aber dann passiere "es".

"Mag Percevals erster Teil der Familientrilogie auch mit einer dramatischen Wucht enden", so Britta Heidemann auf derwesten.de (10.9.2015), "die für einen (vergleichsweise) schlanken Zwei-Stunden-Abend arg opulent wirkt: Wie er Liebesgeschichten mit Lebensläufen vertäut sowie das persönliche Glück mit der Frage, ob einer Arbeit hat – das zeugt von filigranem Einfühlungsvermögen in höchst heutige Problemlagen."

Das Stück sei straff durcherzählt, die Montage der Szenen nahtlos, schreibt Karsten Mark in den Ruhrnachrichten (10.9.2015). "Und doch gerät der Zuschauer niemals in Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Perceval beweist einen guten Blick fürs Wesentliche; verliert sich nicht in unwichtigen Nebensträngen. Und das Personal bleibt übersichtlich."

"Zola unplugged", schreibt Martin Krumbholz auf sueddeutsche.de (10.9.2015). Elegant habe Luk Perceval zwei Zola-Romane miteinander verschränkt. Ansonsten benötige er "nur noch ein Dutzend exzellenter Schauspieler, um in einer ehemaligen Gießhalle in Duisburg mit ihren toten Maschinen Zolas Welt zum Leben zu erwecken". "Zwei Stunden hohe Schauspielkunst, ohne überflüssiges Beiwerk."

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