Auf zum Himmelfahrtskommando!

von Christian Rakow

Berlin, 12. September 2015. Tuschelei im Parkett, Reihe 14: "Ich glaube, ich geh, das ist jetzt über zwei Stunden, ich werd' langsam bekloppt." – "Nach zwei Stunden sollte eigentlich Pause sein." – "Das ist hier Warten auf Godot." Wenn die besten Pointen eines Abends im Zuschauerraum fallen, dann muss oben auf der Bühne etwas gehörig schief laufen. Oben, wo sie gerade eine Hochzeit mit Büchsenbier feiern und Karla Sengteller als Vorstadtgirlie in gedämpfter Feierlaune wie aufs Stichwort sagt: "Man geduldet sich gern, solange es Bier gibt." Kein Satz von Brecht. Schade eigentlich.

Machen wir es kurz, schon weil der Abend nach der dann doch gewährten Pause noch satte zwei Stunden weiterging: Regisseur Leander Haußmann ist zurück am Theater, was eigentlich ein Segen ist. Viele Jahre hatte er die deutsche Kinokomödie erlöst und zuletzt mit dem Trashjuwel Haialarm am Müggelsee den Beweis angetreten, dass auch im knietiefen deutschen Binnensee ein trockener britischer Humor zu fischen ist. Das Berliner Ensemble hat Haußmann in den letzten zwei Spielzeiten mit seinen choreographisch furiosen, spielwitzigen Klassikerdeutungen Hamlet und Woyzeck aus seinem Dornröschenschlaf geküsst.

Ersehnter Befreier

Fehlte nur noch, dass er nun mit "Der gute Mensch von Sezuan" den Hausgeist Bertolt Brecht aus seiner Untotenunruhe befreite, zu der Veteranenabende wie Furcht und Elend des Dritten Reiches (Regie: Manfred Karge) ihn letzthin verdammt hatten. Dass Haußmann dafür allemal das Herz am rechten Regierüpelfleck hat, bezeugte er im Februar, als er im "Baal"-Urheberrechtsstreit wacker Partei für seinen alten Weggefährten Frank Castorf gegen die Werktreue-Ansprüche der Brecht-Erben ergriff: "Warum darf der Autor nicht tot sein, da auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, und warum darf er auf der Bühne nicht leben, indem er sich ständig erneuern und befragen lässt?", schrieb er damals in der Tageszeitung Die Welt. Er schrieb auch, dass Brecht "zu inszenieren einem Himmelfahrtskommando gleichkommt". Oh düstere Vorahnung! Jetzt also Himmelfahrtskommando, Kamikazeflug, nicht in den Theatertod, aber doch zur Bruchlandung.

Sezuan1 560 Lucie Jansch u Matthias Mosbach, Antonia Bill  © Lucie Jansch

Weisheit perdu

Dem Abend fehlt praktisch alles, was Haußmann auszeichnet. Schnoddriger Witz (ausgenommen Norbert Stöß als abgerissener Wasserträger Wang und Traute Hoess als kantige Frau von Nebenan), freie Improvisation, Tempo, tänzerische Leichtigkeit. Stattdessen klappert man die längliche Parabel ab, deren Quintessenz locker in ein paar Faustformeln aufgehen würde: "Gib Leuten den kleinen Finger und sie nehmen die ganze Hand", lernt "die gute" Shen Te, als sie vom Geld der Götter einen Tabakladen erwirbt, der sogleich die Nachbarschaft wie Schmeißfliegen anzieht. "Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht" wäre das Credo, mit dem sich Shen Te bald in der Verkleidung als "böser" Vetter Shui Ta den Armen und Gierigen erwehrt. Dass man sich besser nicht in einen Hallodri verlieben sollte, der als Flieger in den Himmel aufsteigen will, erfährt sie auch noch auf dem Lehrpfad. "Drum prüfe, wer sich ewig bindet...". Wahrlich, es steckt Weisheit in dem Werk.

Es ist die Weisheit einer Zeit, als sittliche und ökonomische Werte irgendwie konträr gesehen wurden. Wenn Vetter Shui Ta eine Fabrik aufmacht, muss er sogleich den herzlosen Ausbeuter geben. Dabei hat, historisch gesehen, die Schaffung von Arbeitsplätzen ethischen Fortschritt nun wirklich ermöglicht. Haußmann interessiert sich für das Unzeitgemäße des Brechtschen Gefüges ebenso wenig wie seine Akteure. Antonia Bill gluckst anfangs noch ironisch das Gutherzige ihrer Shen Te heraus, ehe sie sich bald forsch ins schwarzweiß schematisierte Rollenbild hineinspielt: mit beherztem Griff in den Schritt (vulgo "Sackkraulen") als Vetter Shui Ta, mit weinerlicher Weichheit als verzückte Shen Te. Matthias Mosbach gockelt ihren geliebten Flieger so wacker auf die Bretter, dass man meint, Sezuan müsse für ihn auf Capri liegen. Gern greift er zur Klampfe; mitunter erspart auch chinesische Popmusik das Gesäusel oder den Paul Dessau.

Sezuan3 560 Lucie Jansch u Karla Sengteller, Anke Engelsmann, Antonia Bill, Roman Kaminski, Luca Schaub, Detlef Lutz
© Lucie Jansch

Bankrott ausgeschlossen

Um die Helden herum hat Haußmann eine bunte Vorstadt-Nachbarschaft im Lichtkegel von Grenzlaternen angelegt, wie in seinem Brussig-Film Sonnenallee. Aber anders als der Film hat Brecht leider nicht genug Futter für kauzige Typen. Da wären Fremdtexte oder Probenimprovisationen vonnöten gewesen. Mal zwängen sich die Schmarotzer um die baumlange Anke Engelsmann in einen winzigen Glas-Bungalow, der als Tabakladen fungiert (Bühne von Künstler Via Lewandowski). Dann kugelt sich Michael Kinkel als wonniger Polizist herein. Mehr "Sonnenallee"-Feeling ist nicht.

Ginge es in all dem wie für die Heldin Shen Te wirklich um Mitgefühl und Mitleid, dann müsste die Brecht Erben GmbH (jetzt unter neuer Leitung) erlauben, dass Haußmann wenigstens 90 Minuten aus diesem Abend rauskürzt. Überhaupt gehört dieses Parabelstück für die gymnasiale Oberstufe dringend auf den Prüfstand beziehungsweise in die ungebundene Hand eigenmächtiger Regiekünstler*innen. Begnadete Köpfe wie Friederike Heller vor einigen Jahren an der Schaubühne sind mit "Sezuan" schon mächtig gestrandet. An den Regisseur*innen liegt es am allerwenigsten.

"Wir können es uns leider nicht verhehlen: Wir sind bankrott, wenn Sie uns nicht empfehlen!", heißt es im legendären Epilog ans Publikum. Einzige gute Nachricht aus dem Berliner Ensemble: Der Bankrott dieser Unternehmung ist praktisch ausgeschlossen. Schon der auch heute wie stets am BE vehemente Schlussapplaus lässt erahnen: Ein Brecht am Schiffbauerdamm, das ist wie "Dinner for one" am Neujahrsabend, oder das Vaterunser in der Kirche. Muss einfach.

 

Der gute Mensch von Sezuan
Parabelstück von Bertolt Brecht
Musik: Paul Dessau
Regie: Leander Haußmann, Bühne: Via Lewandowsky, Kostüme: Janina Brinkmann, Musikalische Leitung: Tobias Schwencke, Dramaturgie: Steffen Sünkel, Licht: Ulrich Eh.
Mit: Antonia Bill, Norbert Stöß, Traute Hoess, Swetlana Schönfeld, Ursula Höpfner-Tabori, Matthias Mosbach, Anke Engelsmann, Detlef Lutz, Luca Schaub, Marko Schmidt, Karla Sengteller, Roman Kaminski, Peter Luppa, Felix Tittel, Michael Kinkel, Axel Werner, Claudia Burckhardt, Boris Jacoby, Gerd Kunath, Marvin Schulze und Oliver Gabbert, Marcus Hahn, Raik Hampel, Franz Jarkowski.
Dauer: 3 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

Ein schwer enttäuschter Bernhard Doppler schreibt auf der Website von Deutschlandradio Kultur (12.9.2015), zwar gelinge es Haußmann, "viel Spiellust bei seinen Schauspielern herauszulocken", doch "das Stück" ziehe sich "fast schon qualvoll". Haußmann lasse Brechts Werk "ungeschoren", mache aber eine "rührselig-sentimentale Berlin-Operette" daraus. Die sehr theaterwirksame Titelrolle meistere Antonia Bill "bewunderswert", am "berührendsten" wenn sie singe. Doch würden "Kalauer und Pointen" bis zum Überdruss wiederholt, die saloppe Wendungen ermüdeten. Trotz der eindrucksvollen Bühnenbildinstallation von Via Lewandowsky stellten sich "poetische naive Momente" nur selten ein.

Es werde viel Bier getrunken, geraucht, gestolpert, gesungen, "es ist, als wäre die Welt nichts als eine Farce, als gäbe es nichts zu entscheiden, nichts zu lernen, nichts zu tun", so Dirk Pilz in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau (14.9.2015). Herausgekommen sei eine Inszenierung ohne jeden politischen Biss. Dialektik lebe hier nicht hoch, "sie ist abgeschafft". Haußmanns "Sezuan" wirke, als wolle er den Spaßerfolg von "Sonnenallee" wiederholen. "Es ist ein einziger Krampf. Zäh, langweilig."

In dem Ausmaß hätte man nicht damit gerechnet, dass Haußmann zum "Guten Menschen" einfach gar nichts einfalle, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (14.9.2015). "In überraschender Biederkeit zieht sich die bühnenbildlich vom Künstler Via Lewandowsky illustrierte Story über knappe vier Stunden dahin." Und weiter kritisch: "Dass sich der Regisseur nicht entscheiden kann, ob er den Plot karikieren oder auf ein rührseliges Girl-meets-Boy- und-wird-verarscht- Melodram herunterbrechen soll, ist da im Grunde auch egal: So oder so entstammen die Inszenierungsmittel dem tiefen Griff in die Mottenkiste."

"Der Aufwand einer sich mühsam über vier Stunden ziehenden Inszenierung wäre nicht unbedingt nötig gewesen", findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (14.9.2015). Biedere Witze wollen den Abend so fürchterlich bemüht wie vergeblich auflockern und so erst recht seine schwerfällige Kitsch-Seligkeit vorführen. "Ehrlicherweise baut Haußmann irgendwann nur noch Operetten-Tableaus mit einem vor buntem Himmel schwebendem Flieger, einem possierlich choreografierten Chor der Armen und Entrechteten, tanzenden Straßenlaternen und einer überdimensionalen, stoisch ins Publikum winkenden, goldenen chinesischen Glückskatze wie aus dem China-Restaurant."

 

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