Heldin ohne Wenn und Aber 

von Ralph Gambihler

Magdeburg, 15. März 2008. Am besten verstehen sie sich ohne Worte. Da können sie richtig lieb miteinander werden. Der Königsvertraute Arkas, der in Magdeburg von einer Frau gespielt wird, macht gleich am Anfang auf Schmusekätzchen. Mit dem König schwingt Iphigenie ein paar Szenen weiter das Tanzbein. Das sind Momente, in denen das Glück erstrahlt wie der Tag, über dem der Himmel plötzlich aufreißt.

Aber so schnell, wie alles gleißt und strahlt, trübt es sich auch wieder ein. Der Fluch der Blutschuld liegt über dem Geschlecht der Atriden. Das löst sich nicht einfach in Wohlgefallen auf. Das lässt sich nicht wegschmusen. Um so mehr wird geredet, gerungen und beschworen, oft vorne an der Rampe stehend, die Gesichter weiß und bang, die Blicke in imaginäre Weiten geheftet.

Mit anderen Worten: Wo der Autor sein Stück "ganz verteufelt human" fand und sich wahrscheinlich selbst darüber wunderte, wie weit er mit ihm in die Idealwelten des Kollegen Schiller vorgedrungen ist, verzichtet Anette Pullen (Regie) auf die Hintertürchen und doppelten Böden einer abgeklärten Deutung. Wir sehen: die Goethe'sche Ikone der reinen Menschlichkeit. Wir sehen außerdem: Deklamationstheater der alten Schule. Die Überraschung dabei ist, dass das Drama unter den Händen einer solchen Regie nicht erstarrt.

Wie Iphigenie Macht gewinnt über die Mächte, die sie fesseln
Die Magdeburger "Iphigenie" kommt einem streckenweise zwar vor, als zeige der Lehrer den Schülern noch immer die aufgespießten Versinsekten, die bereits von den Eltern und Großeltern angestaunt wurden. Aber das Ensemble geht dabei so streng und konzentriert ans Werk, dass man schon aus Respekt vor dem Kunstwillen ein aufmerksamer Zuhörer wird. Leute, die es gewohnt sind, sich 25 Stunden am Tag von medialen Reizwellen umspülen zu lassen, werden aber kaum glücklich werden. Der Kunstanstrengung fehlt die gefällige Oberfläche. Das Museum der gebügelten Klassiker sieht anders aus. Schon eher hinterlässt die formstrenge Inszenierung einen Eindruck von Kargheit und schroffer Beschränkung in den Mitteln.

Die Bühne (Iris Kraft) zeigt eine düstere, hoch aufragende Hafenmole von der Wasserseite. Meist ist es Iphigenie, die unten im ausgetrockneten Hafenbecken steht und zu den anderen hinauf schauen muss. Sie, die Griechin in der Fremde, die Priesterin aus Not, ist eine privilegierte Gefangene, in Sicherheit, aber fremdbestimmt, sagt die Kulisse mit plakativer Geste. Zu erleben ist in den anderthalb Stunden, wie Iphigenie Macht gewinnt über die Mächte, die sie fesseln.

Der Akzent liegt auf dem Seelendrama
Mit Goethes politischer Utopie einer Gesellschaft, in der die Herrschenden auf einem nichtreligiösen, bürgerlich-moralischen Fundament stehen, hat Annette Pullen eher wenig im Sinn. Dafür akzentuiert sie das Seelendrama. Die Frau, die alle Welt mit ihrer unerhörten Wahrheitsliebe überwältigt, läutert und so die Logik von Zorn und Rache überwindet, ist in Pullens psychologischer Lesart eine Heldin ohne Wenn und Aber. Das mag man naiv und sentimentalisch finden. Dass sich das Stück in diesem Punkt aber gegen rabiate Eingriffe wehrt, hat sich auf der Bühne schon manchmal bewahrheitet.

Psychologische Nachlässigkeiten verträgt ein Psychodram allerdings schlecht. Wenn etwa der zumeist gefasst wirkende Turnschuh-Orest von Florian Schmidtke in der Szene, in der sich die Geschwister zu erkennen geben, zuerst ein Bündel wilder Abweisung und Angst ist, um dann unvermittelt in helle Freude auszubrechen, stellt sich die Frage nach dem Warum. Die weiß gestiefelte Iphigenie der Melanie Straub ist daneben ein Beispiel genauer Figurenzeichnung. Wie ihr hinter der Hoffnung die Bangigkeit ins Gesicht steigt, die Unterlippe verpresst, ein kurzes Beben auf dem Kinn, dann das Feuchtwerden der Augen, und wie sie dann diesen Gesichtsausdruck wieder mit Hoffnung flutet, ist Schauspiel von hoher Güte.

Opernhaftes Finale mit wenig humaner Läuterung
Auch Wolfgang Vogler, der seinen König Thoas zwischen Sanftmut und Zorn anlegt, macht in jeder Situation eine gute Figur. Als in der letzten Szene der Fluch gebrochen wird und Thoas nach durchstandener Selbstüberwindung die drei Griechen ziehen lässt, ergießt sich ein opernhaftes Finale über die Zuschauer. Die Hafenmole geht gravitätisch langsam auf wie ein riesiges Betontor, während aus dem Off heftige Klänge steigen und die Protagonisten in grelles Gegenlicht laufen. Iphigenie, vom Bruder geschultert, bettelt noch um das berühmte "Leb wohl!" aus Thoas Mund. Sie bettelt sehr. Der aber schweigt eisern. So viel humane Läuterung wie im Original durfte es dann doch nicht sein.

 

Iphigenie auf Tauris
Johann Wolfgang Goethe       
Regie: Annette Pullen, Ausstattung: Iris Kraft.
Mit: Melanie Straub, Wolfgang Vogler, Florian Schmidtke, Camill Jammal, Iris Albrecht.

www.theater-magdeburg.de

 

Weitere Inszenierungen von "Iphigenie auf Tauris": Nicolas Stemann am Thalia Theater Hamburg, Wanda Golonka am Schauspiel Frankfurt.

 

Kritikenrundschau

In der Magdeburger Volksstimme (17.3.2008) schreibt Frank Memmler, dass Regisseurin Anette Pullen am Schauspiel Magdeburg aus Goethes "Iphigenie auf Tauris" "ein Kammerspiel über die Grundlagen menschlicher Beziehungen" gemacht habe. Melanie Straub gelinge es, "die innere Zerissenheit Iphigenies, ihre Qualen und ihr Ringen um unbedingte Aufrichtigkeit mit großer sinnlicher Ausstrahlung vom Bühnenrand ins Publikum zu spielen." Doch auch "die respektablen Leistungen der anderen Darsteller" verdienten "ein großes Lob, wie auch die auf die Figuren und die wunderbare Sprache Goethes konzentrierte Inszenierung".

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