Micky Mouse tanzt auf der Metaebene

von Matthias Schmidt

Dresden, 19. September 2015. Es ist einfach schön, wenn die Hütte voll ist. Wenn die Zuschauer kommen, was sie in Dresden in rekordverdächtiger Anzahl tun. Im Staatsschauspiel und auch bei Dynamo, dem früheren Spitzenfußball-Verein, der im Gegensatz zum Staatsschauspiel nur noch drittklassig ist, trotz hoher städtischer Subventionen.

Einer der Gründe für den Erfolg des Dresdener Theaters dürfte sein, dass es sich von Anfang an für seine Zuschauer interessiert hat. Theater für eine Stadt zu machen – Intendant Wilfried Schulz kann es wie nur wenige es können. Sich an Themen abzuarbeiten, die Stadt und Zuschauer zu bewegen und zu berühren und eben nicht nur mit der Floskel "die Leute da abholen, wo sie sind“ zu blenden, das haben Schulz und sein Team in den letzten Jahren vorbildhaft geschafft.

In Bestbesetzung

In ihrer letzten Spielzeit haben sie sich nun vorgenommen, den Zuschauer auch mal direkt abzubilden. Vor ein paar Tagen erst mit dem Fußball-Fan-Stück "Dynaaamo", was nicht uninteressant ist, weil man an Dynamo Dresden sehr schön sehen kann, dass bereits die Hoffnung darauf, in die 2. Liga aufzusteigen, zu einem höherem Selbstwertgefühl führen kann. Die Hütte ist voll, selbst in der 3. Liga.

Nach den Fußballfans kommen nun die Theaterzuschauer auf die Bühne. Um sie einen Blick auf sich selbst werfen zu lassen, läuft das Staatsschauspiel in Bestbesetzung auf: mit Regisseur Roger Vontobel und Schauspieler Christian Friedel, die gemeinsam einen Don Carlos zum Theatertreffen brachten und deren Hamlet-Show mit Friedels Band "Woods of Birnam" (rekrutiert aus Musikern von Polarkreis 18) zwar von den Juroren sträflich übersehen, in Dresden aber zu einem der Hits im Spielplan wurde. Dazu kommt der Autor (und Dresdener Ex-Dramaturg) Martin Heckmanns, der eigens einen Text zum Thema geschrieben hat: "Die Zuschauer".

Krampfhafter Wille zum Tiefgang

Jeder von ihnen ist auf seine Art daran beteiligt, dass das Dresdener Staatsschauspiel seit Jahren in der ersten Liga des deutschen Theaters spielt, und zusammen müssten sie so stark sein, dass der Sportreporter sagen würde, die können sich nur selbst besiegen. Mit der Inszenierung "Die Zuschauer" wollten sie noch einmal zeigen, warum das so ist.

Herausgekommen ist ein letztlich unentschieden wirkendes Medley aus Musik und Schauspiel, aus kluger, heiterer Zuschauer-Beobachtung und einem streckenweise doch ziemlich verkrampft wirkenden Willen zu Tiefgang mit Sendungsbewusstsein. Eine theatrale Estrade mit an den Haaren herbeigezogener Stringenz. Regelrecht spürbar ist die Angst vor Oberflächlichkeiten, davor, nur mit einfachen Lachern über hustende und raschelnde und eingeschlafene und tratschende und buhende und jubelnde Zuschauer zu unterhalten.

Die Zuschauer2 280 David Baltzer uChristian Friedel rockt sich die Seele aus dem Leib. Vorn: Ben Daniel Jöhnk © David BaltzerBefreiend komische und emotionale, traurige Momente, Klatsch und Tratsch, Einsamkeit, Unverständnis, Begeisterung – das und mehr bot sich an. Aber ein heiterer, womöglich gar komödienartiger Handlungsbogen, den Text und Stoff durchaus hergegeben hätten, war Vontobel wohl zu profan. Er setzt stattdessen auf ein Alles-muss-rein-Potpourri. Angestrengt belehrende wirkende Szenen, eine Art Metaebene aus anderen Inszenierungen (per Kostüm u.a. ein Engel, ein Eisbär, eine Micky-Maus und ein Cheerleader) und nicht zuletzt das über den Abend verteilte – fantastische – Konzert der "Woods of Birnam“.

Auch das Haus fährt alles auf, was es hat: Es strahlt der Sternenhimmel auf der Hinterbühne, die alte Windmaschine stürmt, Nebel wabert, der Kronleuchter wird – ohne erkennbare Motivation – vor den Augen der auf der Bühne sitzenden und ins Parkett schauenden Zuschauer herabgelassen. Goldglitter schneit herab. Zeitraffer-Videos zeigen die Schauspieler an verschiedenen Spots in der schönen Stadt Dresden. Schön, das mal beziehungsweise wiedermal gesehen zu haben, aber es hängt doch nur recht lose zusammen. Es ist keineswegs langweilig und bleibt dennoch disparat und unbefriedigend. Weil, und das macht es schon ein bisschen ärgerlich, man ja weiß, wie dieses Team Zuschauer verzaubern kann. Der "Hamlet" zum Beispiel ist ja noch im Repertoire.

Das Publikum wird unterschätzt

In den "Zuschauern" aber machen sie es sich selbst zu schwer. Sie verlassen sich nicht auf Martin Heckmanns raffiniert gebaute Collage und damit letztlich auf die Zuschauer selbst. Auf urkomische und vor Selbstironie strotzende Szenen wie die wohl schönste des Abends, in der Anna-Katharina Muck den Willen der Theatermacher, das Publikum zu verstören, furios aufs Korn nimmt. Stattdessen verkomplizieren sie den ohnehin ohne geschlossene Handlung auskommenden Text mit schwer nachvollziehbaren Perspektiv- und Rollenwechseln. Ben Daniel Jöhnks mit Theaterblut und Teer und Federn gespielte Katharsis mag ganz putzig sein, ist aber, weil sie selbst verstört, kontraproduktiv zu Mucks "Beschwerde" kurz zuvor.

Wer dialektisch denkt, könnte meinen, dass der Zuschauer hier eben gerade nicht ernst genommen, sondern als zu konservativ verlacht wird. Eine kleine Arroganz, sei's drum. Wenn aber die Schauspieler (als Zuschauer) in einer Art Rahmenhandlung mit Taschenlampen durch den Saal geistern, wirkt das gelegentlich so unbeholfen, dass man den Eindruck hat, sie tun das nur, um die Zeit bis zum nächsten Song der Band zu füllen. Der ist dann wieder so wunderbar ("Under the Greenwood Tree" zum Beispiel ist nichts anderes als ein Hit!), dass er auch ganz ohne die Inszenierung ein Theater füllen würde. Der Sportreporter würde sagen, die sind so stark, die ...

 

Die Zuschauer
von Martin Heckmanns
mit Musik von Christian Friedel und Woods of Birnam
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner, Kostüm: Ellen Hofmann, Video: Clemens Walter, Musik: Christian Friedel und Woods of Birnam, Dramaturgie: Martin Heckmanns, Robert Koall.
Mit: Christian Friedel, Albrecht Goette, Ben Daniel Jöhnk, Hannelore Koch, Kilian Land, Anna-Katharina Muck, Ines Marie Westernströer und den Musikern: Ludwig Bauer, Christian Grochau, Philipp Makolies, Uwe Pasora, sowie: Alexander Pensel, Bettina Schneider, Alexander Gamnitzer, Sonja Isemer.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

"Eine Art Weihnachtsmärchen für Erwachsene, intellektuell aufgepeppt als Theaterstück über das Theater" nennt Stefan Petraschewsky auf MDR Figaro (21.9.2015) den Abend. Das sei zwar alles "unterhaltsam, nett anzusehen und auch kurzweilig". Aber "was hätte das Thema hergegeben, wenn sich hier ein Autor an konkrete Beobachtungen der Zuschauer herangewagt hätte"!

"Ein Puzzle, dessen Teile sich oft nicht fügen wollen" hat Torsten Klaus erlebt, wie er in den Dresdner Neuesten Nachrichten (21.9.2015) schreibt. Die Musik sei lediglich begleitender Soundtrack. "Die Zuschauer" blieben fremd. "Kaum eine Beziehung wollte sich herstellen, zumindest bei mir."

Der Regie gelinge eine anregende Hommage an den Zuschauer, findet hingegen Sebastian Thiele in der Sächsischen Zeitung (21.9.2015): "Ja, man möchte weiter an die Theaterkunst und die Macht der Fikton glauben!" Nicht alle Zuschauer-Skizzen überzeugten. "Doch durch die Episodenwechsel, das 'Woods-of-Birnham'-Konzert und einige surreal wirkende Auftritte von Zottelwesen, Eisbären oder Engeln aus anderen Inszenierungen werden die Sinne angenehm massiert."

Die Lied-Interpretationen zu Shakespeare-Texten durch die Band Woods of Birnam seien "bezaubernd, aber Schauspiel und Musik unterbrechen sich gegenseitig, statt sich zu unterstützen und zu ergänzen", schreibt Marcella Melien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online 23.9.2015). Vontobels Inszenierung "bemüht sich nach Kräften zu zeigen, dass das Theater sich selbst nicht allzu ernst nimmt." Das sei "zu wenig, um die Fragen, die Martin Heckmanns stellt, zu beantworten oder das Publikum überhaupt erst zum Nachdenken darüber zu bringen." Fragen etwa, ob uns ein Theaterabend verändern könne. "In Dresden wird das Theater allenfalls als eine Wundertüte dargestellt, die überraschen und emotional berühren kann. Das ist unterhaltsam, mehr aber auch nicht."

Vontobel serviere gleichzeitig ein Konzert und eine Theateraufführung, "ohne dass beides immer sinnstiftend miteinander verbunden ist", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2015). Eine Sache aber gelinge Vontobel fabelhaft gut, "er könnte sich auf Heckmanns’ Humor verlassen und einfach eine Art Kunstkabarett in hohem Ton inszenieren. Ihn interessiert jedoch, was wirklich im Zuschauer passiert." Die Verwirrung, die sein Abend auslöse, kenne man selbst von Theaterbesuchen. "Dazu zaubert Vontobel Poetisches, wandeln Engel vorüber, die den Verlauf anhalten und sich zwar am Rande des Kitsches bewegen, mit Verzückung aber davon künden, wie schön Theater sein kann."

 

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