Wo Leut' und Lieder leise flehen

von Dieter Stoll

Nürnberg, 24. September 2015. Auf dem großen Sandplatz mit Wassertonne und Kinderschaukel, der die ganze Breite der Nürnberger Tafelhalle einnimmt, laufen sich die Schauspieler warm. Wenn das Publikum mit dreifachem Hörnerklang geradezu altbayreuthisch zur Vorstellung gerufen ist, erscheinen auf drei riesigen Videowänden über der Bühne alsbald Bilder von Hochhäusern und Baukränen. Erraten, es geht hier um Jagdszenen, nicht um Niederbayern.

 Als Martin Sperr 1965 dieses schockierende "kritische Volksstück" um gnadenlose Ausgrenzung im freistaatstragenden Mechanismus der Bigotterie schrieb, versetzte er die Handlung zwar in die Nachkriegsjahre, aber niemand zweifelte damals zwischen Bremen (Uraufführung) und München (Skandal) daran, die Gegenwart zu sehen – und sei es die von weit draußen am Lande.

Wechselschritt von Schleef zu Wittenbrink

Als Martin Kusej 2015 an den Münchner Kammerspielen daraus mit offenkundiger Comeback-Ambition für den fast schon vergessenen Autor eine vom dicken Ende her erzählte extrafinstere Ballade im Kopfstand daraus machte, war das ein Schraubgriff fürs Zeitlose. Kann sein, dass Regisseur Barish Karademir bei der Vorbereitung seiner groß angelegten Nürnberger Produktion von den zwiespältigen Erkenntnissen des Star-Kollegen irritiert wurde. Jedenfalls ließ er den Plan einer Umsetzung mit Schauspielern und Tänzern fallen (ein schwüler Abstecher in die Schwulen-Disco ist davon noch geblieben), positionierte den Willen zur Kunst-Stilisierung im Widerstand gegen trampelnden Kino-Realismus und ziseliertem Psycho-Thriller nochmal ganz neu.

Er spendierte den bodenständigen, hier auf der Bühnenbild-Sandbasis von Gunnar Tippmann und Miho Kasama gar buchstäblich erdverbunden kriechenden Akteuren zur Aufhübschung der latenten Depression ein leibhaftiges Cello-Trio als salbende Live-Begleitung. Später kommt ein Kinderchor dazu, wo die Kleinen im Scheinwerfer-Spot verfremdet zu den Playback-Stimmen ihrer Eltern schwadronieren.

 Jagdszenen 560 Lang Ralf u"Jagdszenen" im zeitlosen, aber dekorativen Dreck © Lang Ralf

Die heimliche Hommage an die bei Fleisser und Fassbinder mit solchen Mitteln erfolgreiche Susanne Kennedy gibt dem depressiven Finale seinen Komik-Kick. Gut zwei Stunden vorher, wo laut Originaltext der Duft von Schweinsbraten die Sehnsuchtslage beherrscht, tritt das ganze Ensemble im Chor-Spalier zur Gebets-Attacke an. "Gegrüßet seist du Maria" als rhythmisch zerhackte Endlosschleife in stampfenden Aggressionssteigerungen – mit sanftem Übergang zu "Kein schöner Land in dieser Zeit". Da hat der inspirationsoffene Regisseur innerhalb weniger Minuten den Wechselschritt von Schleef zu Wittenbrink geschafft. "Leise flehen meine Lieder", das integrierte Schubert-Ständchen, muss da noch etwas warten auf den Erst-Einsatz als Dorf-Psychogramm.

Hingefetzte Flüchtlings-Klage

Barish Karademir will und kann natürlich mehr, es spricht für ihn, was er Martin Sperrs plakativem Drama über alle Provokations-Ermüdungen hinweg an Poesie zutraut. So zeigt er also die Dorfgemeinde mit ihren Blitzableiter-Prototypen (der Depp, die Hure, der Schwule) in fließendem Wechsel zwischen realer und traumatischer Wahrnehmung. Im Detail wird das Elend der verrottenden Gefühle mit Cello-Wattierung in attraktiven Bildern fein ausgelotet.

Wenn es kollektiv um "die Leut" geht, ziehen sich alle wie Bankräuber die Nylon-Strumpfmaske über den Kopf, verlieren das Gesicht im Schwarm, knurren wie eine Hundemeute. Ein Wasserschlauch liegt für Regenschauer bereit, die Projektionswände führen uns durch ein reiches Illustrations-Sortiment bis in wimmelnde Ameisenhaufen, der Pfarrer räkelt sein Gebein in Pontifikal-Leggins. Es ist von allem immer etwas zu viel da.

Die Sprache gibt sich dabei als Sammelbecken, die Schauspieler (Lukas Kientzler als verstörter Dorf-Schwuler Abram und Doris Buchrucker in der Rolle seiner orientierungslosen Mutter an der Spitze des sehr engagiert einsteigenden Groß-Ensembles) mischen leicht stilisiertes Bühnen-Deutsch mit gelegentlichen Dialekt-Querschlägern und hingefetzter Flüchtlings-Klage, ohne dass man genau wüsste, warum das grade so stattfindet. Der gesellschaftliche Umgang mit Homosexuellen, schon von Sperr nur als besonders prägnantes Außenseiter-Beispiel gewählt, ist in Karademirs Inszenierung nicht wirklich ins Jetzt transferiert. Wo der Anpassungsdruck der Gegenwart im Spiel neu aufgewirbelt werden müsste, nimmt die Regie eine Auszeit.

Hoffnungslos, aber schön anzuschauen

Da schickt der Komödiant Helwig Arenz als abgeordneter Volksempfinder das restliche Kunst-Personal in die Zigarettenpause und spielt bei offener Saalbeleuchtung öffentliche Meinung im Pendelschlag zwischen Putins Homophobie und ganz unter uns kursierenden Vorbehalten verflucht ähnlicher Denkart. Immerhin ein bis zwei Personen verließen da den Saal. Sie erlebten die halbherzige Rückkehr zum Theater mit den schnappenden Playback-Kindern nicht mehr, auch nicht die von idyllischen Wiesenbildern und moosigem Streicherklang ins melancholische Nirwana geleitete finale Verdunkelung. Hoffnungslos, aber schön anzuschauen. Es gab langen Beifall für diese mächtige Kunst-Anstrengung und nebenbei die dann doch irgendwie tröstliche Vermutung, dass Martin Sperr, hätte er es erlebt, wohl nicht drängen würde, was weitere Comeback-Versuche betrifft.

 

Jagdszenen aus Niederbayern
von Martin Sperr
Regie: Barish Karademir, Bühne: Gunnar Tippmann, Miho Kasama, Kostüme: André Schreiber.
Mit: Helwig Arenz, Doris Buchrucker, Ulrike Fischer, Jürgen Heimüller, Johannes Hoffmann, Karin Yoko Jochum, Lukas Kientzler, Josef Mohamed, Shaun Canty, dazu sechs Kinder. Cello: Johannes Bühler, Clarissa Lang, Mirjam Schmitt.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.kunstkulturquartier.de/tafelhalle

 

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