Irgendwo hinterm Regenbogen

von Shirin Sojitrawalla

Wiesbaden, 24. September 2015. Aus zwei kurzen Geschichten von Alice Munro, die ebenso nüchtern wie spannend vom Fortgehen erzählen, generiert dieser Abend ein Untergangsszenario, das keinen Stein auf dem anderen lässt. Während sich bei Munro das Unheil oft in Nebensätzen versteckt, wie die Literaturkritikerin Verena Auffermann einmal treffend schrieb, stürzen die Figuren auf der Bühne in ihr Unglück wie in eine Naturkatastrophe. Drastisch, düster und beinahe unausweichlich entgleisen hier die Leben der beiden Mütter. In ihrer Kurzgeschichte "Die Kinder bleiben hier" erzählt Munro von einer Frau, die ihren Mann und ihre zwei Töchter verlässt, um an der Seite eines Regisseurs ein neues Leben anzufangen, ohne zu ahnen, dass das Leben nie wieder neu anfängt. In "Dimensionen" indes verabschiedet sich eine Mutter erst gar nicht von ihren drei Kindern, weil sie nur eine Nacht wegbleibt. Doch als sie wieder nach Hause kommt, sind die Kinder schon nicht mehr am Leben.

Wenn eine Welt zusammenbricht

Beide Mütter begleiten wir über viele Jahre, und es gehört zu der Könnerschaft von Alice Munro, wie sie die Zeit versetzt und zusammenschnurren lässt. Johanna Wehner dehnt sie eher, lässt schon mal anhalten und in Zeitlupe spielen. Aus den beiden Geschichten macht sie einen Abend über die Sehnsucht und über den Schmerz, der nicht vergeht. Dazu nimmt sie die Autorin zwar beim Wort, dichtet wenig hinzu und lässt nicht viel aus, aber ihre Inszenierung begegnet der Munroschen Lapidarheit mit antik tragischer Wucht, wobei alles aufgesetzt humorvoll beginnt.

DieKinderbleiben1 560 BettinaMueller uApokalyptische Familienkonstellation: "Die Kinder bleiben" © Bettina Müller

Eine Familie entert ein Ferienhaus an einer Küste, an der sie traditionell den Sommerurlaub verbringt. Brian und seine Frau Pauline sowie seine Eltern und die zwei Töchter. Brian selbst ist Lehrer und ein komischer Vogel, während seine Frau Pauline mit vor Sehnsucht silbrigen Augen an der Rampe steht. Jeffrey (Stefan Graf), für den sie ihre Familie verlassen wird, kommt ihr wie gerufen, immer mal wieder schiebt er sich auf die Bühne und macht überdeutlich, dass er nicht dazu gehört. Als Pauline ihre Entscheidung gefällt hat, bricht die ganze Welt zusammen. Es kracht und lärmt. Nach der Pause zeigt sich das Ausmaß der Zerstörung: die Bühne ein Trümmerfeld.

Menschen? Erdmännchen? Gespenster?

Drastischere Bilder für den Zusammenbruch einer Familie lassen sich kaum denken, und doch bleibt der Schmerz, den das illustrieren könnte, an diesem Abend merkwürdig abstrakt. Währenddessen scheint die Inszenierung immerzu "Ich habe ein Geheimnis" zu rufen, ohne Anstalten zu machen, das Geheimnis zu lüften. In der ersten Stunde versucht man noch, dahinter zu kommen, was es mit alldem auf sich haben könnte, in der zweiten Stunde ist es einem schon egal. Nach der Pause hat dann die Kurzgeschichte "Dimensionen" das Sagen auf der Bühne, wobei sich beide Geschichten überlappen, Figuren changieren, Textpassagen neu aufgeteilt und wiederholt werden. Janning Kahnert spielt in beiden Fällen den Ehemann, der seine Macht über die Kinder ausspielt. Kruna Savić und Judith Bohle verkörpern Pauline und Doree wie unheimliche Schwestern. In ähnlichen Kleidchen und Schuhen und Ähnlichkeiten in der Physiognomie wirken sie wie unromantische Wiedergängerinnen von Dorothy aus dem "Zauberer von Oz". Irgendwo hinterm Regenbogen vermuten auch sie ein Leben in einer anderen Dimension. "Ganz anders" lautet das Zauberwort für Pauline, während Doree ihren Schmerz in der Vergebung lindert.

Die beiden Geschichten zusammen zu denken und zu spielen, ergibt durchaus Sinn, auch wenn wir aus dem Abend nicht richtig schlau geworden sind. Sehr verrätselt geht alles seinen Gang, mit viel zu vielen Pausen und Passagen, in denen man nur das Sirren der Scheinwerfer hört. Von der knappen Beiläufigkeit der beiden Kurzgeschichten bei Alice Munro bleibt auf der Bühne nicht viel übrig. Die Schauspieler sind fast alle immer zugegen und formieren sich wie Erdmännchen stets neu, wobei der Abend nicht erklärt, zumindest uns nicht, warum sie das tun. Sollen das überhaupt Menschen sein? Oder doch eher Gespenster? Mal neigen sie auf Kommando alle den Kopf nach links, dann stellen sie sich hintereinander in einer Reihe auf, dann wieder suchen sie Zuflucht auf der Arbeitsplatte der Küchenzeile. Dabei muss man im Theater ja gar nicht immer alles verstehen. Doch der Zugewinn beim bloßen Schauen hält sich an diesem Abend in Grenzen; da können die aufgetürmten Trümmerberge noch so hübsch viel Staub aufwirbeln.

 

Die Kinder bleiben (UA)
nach Alice Munro
Theaterfassung: Johanna Wehner & Anna-Sophia Güther
Regie: Johanna Wehner, Bühne: Elisabeth Vogetseder, Kostüme: Laura Krack, Musik: Felix Johannes Lange, Dramaturgie: Anna-Sophia Güther.
Mit: Judith Bohle, Evelyn M. Faber, Stefan Graf, Janning Kahnert, Uwe Kraus, Kruna Savić.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-wiesbaden.de

 

Kritikenrundschau

Spektakulär das schräg gestellte, spiegelnde Bühnenbild; exakt durchchoreografiert der Text; spielsicher das sechsköpfige Ensemble, schreibt Viola Bolduan im Wiesbadener Kurier (26.9.2015). "Zäh andererseits wirken in Länge gezogene Szenen und kurios die so beliebte stehende Position auf der schwarzen Küchenzeile." Klug verzahne Johanna Wehner beide Stücke ineinander und nutze die verblüffende Ähnlichkeit ihrer beiden Hauptdarstellerinnen für intelligentes Spiegelbild-Spiel, "ebenbürtig sind beide in ihrer jeweils starken Präsenz". Fazit: "Alice Munro ist starker Tobak, das Drama aus ihrem Stoff ein sperriges Stück, das Spielkürzungen vertrüge, schließlich aber doch gefangen nimmt. Beklemmend mitten im Makkaronischachtel-Berg. Anerkennender Applaus."

Johanna Wehner und Anna-Sophia Güther haben die zwei Short Stories unter dem Titel "Die Kinder bleiben" zu einem zweieinhalbstündigen Theaterabend zusammengespannt, der einleuchte, so Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (26.9.2015). "Ein Abend, der einerseits entschlossen durchgeformt, stilisiert wirkt, andererseits der schwebenden Atmosphäre Munroscher Geschichten weitgehend treu bleibt."

 

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